Es ist kühl geworden zwischen Berlin und Warschau. Kein gutes Klima für das zart gewachsene deutsch-polnische Verhältnis. Vor allem seit Polen wieder von Kriegsreparationen spricht.
„Sie zerstören alles! Auch das, was ich jeden Tag mühselig mit meiner Arbeit erreiche“, sagt Monika Kruczek. In ihrer Stimme schwingt Verbitterung mit. Mit „sie“ meint die 44-Jährige die Regierung in Polen, mit „alles zerstören“ die irreparablen Schäden für die deutsch-polnischen Beziehungen nach dem Aufflammen der Diskussion um die deutschen Kriegsreparationen. Seit gut 17 Jahren unterrichtet die Polin Deutsch in Dąbrowa Górnicza. Ihre Schüler sind Teenager zwischen 11 und 15 Jahren und haben anfangs oft ein schablonenhaftes Bild von ihrem Nachbarland. „Im Deutschunterricht kommt sofort Hitler zur Sprache“, erzählt Kruczek, die auch in Tübingen studiert hat. Sie versucht mit einer Art „positiver Propaganda“ dem entgegen zu wirken, indem sie Deutschland in all seiner Vielfalt zeigt. Einfach sei es nicht, aber es funktioniere. Immer wieder erklärt sie, dass das heutige Deutschland ein anderes als das Deutschland der Jahre 1933-45 ist. „Deswegen finde ich die Debatte um Entschädigungen so fehl am Platz“, sagt sie. Polen würde sich mit seinen Forderungen diskreditieren und von einem Partner auf Augenhöhe wieder einen Rückwärtssalto einlegen – Richtung Opfermythos.
Seit der Vorsitzende der regierenden PiS-Partei Jarosław Kaczyński das Thema der Reparationszahlungen im Juli auf dem Parteitag erneut ins Gespräch brachte, kocht die Seele des Volkes auf beiden Seiten der Oder. Bezahlen für den Krieg: Das lässt an Milliarden denken. Von einer Billion Dollar ist gar die Rede. Manch einer rechnet schon aus, was das pro Kopf in Polen ausmachen würde. Die Titelseiten der Medien in beiden Ländern übertrumpfen sich mit Schlagzeilen. Für den jungen Berliner Journalisten Thomas Block ist das nachvollziehbar. „Ein Aufregerthema“, sagt er. „Und wichtig.“ Er findet es nämlich gut, dass 72 Jahre nach Kriegsende über die Wiedergutmachung gesprochen wird. Weniger juristisch, sondern vielmehr politisch-moralisch. „Das sollte man immer und immer wieder tun. Deutschland hat sich schuldig gemacht. Und die Schuld endet nicht, wenn man nur genug Zeit verstreichen lässt.“ Lediglich die Art, wie die Thematik aufkam, gefalle ihm nicht. Jarosław Kaczyński nutze den historischen Schmerz seiner Nation für die Festigung seiner politischen Macht aus. Das wiederum sei moralisch und ethisch verwerflich, meint Block.
Die Debatte ist bisher eine theoretische. Denn eine offizielle Anfrage der polnischen an die deutsche Regierung gibt es nicht. Wissenschaftliche Dienste beider Parlamente haben die Sachlage untersucht und sind zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Während es aus Berlin heißt, der Anspruch auf Reparationen sei erloschen und es gäbe keine Grundlage sie zu einzufordern, kommt der wissenschaftliche Dienst des Sejms in seinem ein Gutachten des zu einem anderen Schluss. Dort heißt es, dass Polens Verzicht auf Reparationen im Jahr 1953 unwirksam gewesen sei, weil das Land damals unter der Kuratel der Sowjetunion gestanden habe. Folgt man dieser Logik, müsste man allerdings alle Verträge der früheren Warschauer-Pakt-Staaten für nichtig erklären, was völkerrechtlich nicht möglich ist.
„Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, sagt wiederum Dominika, eine junge Polin, die in Berlin lebt. Ihren vollen Namen möchte sie nicht preisgeben. Sie meint, Deutschland stehle sich aus der Verantwortung, leugne seine Schuld, als ob es den Krieg nie gegeben hätte. „Das Geld oder eine andere Form von Entschädigung steht uns zu. Recht hat die Regierung in Warschau. Deutschland hat nach dem Krieg den Marschall-Plan bekommen, konnte zu einer Wirtschaftsmacht werden. Wir werden von der Geschichte immer verraten. Von Hitler, von Stalin, von der EU. Wir müssen endlich anfangen, uns zu wehren“, sagt die junge Frau sichtlich aufgewühlt.
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Laut Umfragen spricht sich die Mehrheit der Polen dafür aus, „Kriegsgeld“ von Deutschland zu fordern. Gleichzeitig zeigen aber andere Studien, dass vielen Polen an der deutsch-polnischen Freundschaft in einem starken Europa gelegen ist. Für Dr. Agnieszka Łada ist diese Spannung ihr täglich Brot. Sie untersucht im Institut für Öffentliche Angelegenheiten in Warschau seit Jahren die deutsch-polnischen Beziehungen. Mit Sorge blickt sie nun auf die aktuelle Entwicklung. Negativ über Deutschland und die deutsche Politik äußerten sich zwar nur zwischen 17 und 22 Prozent der Polen – also eine Minderheit. Doch das Spielen mit antideutschen Ressentiments kann irgendwann auf fruchtbaren Boden fallen. „Man braucht immer ein Feindbild, und Deutschland ist nun mal historisch bedingt ein guter Feind“, sagte die Expertin neulich in einem Zeitungsinterview. Den Kitt der Versöhnung zwischen Deutschen und Polen hält sie langfristig gesehen für brüchig. „Die Jüngeren sind mitunter für kleinere negative Beispiele empfänglicher als für positive Fakten. Das wird dann von nationalistischen Kreisen ausgenutzt. Das haben unsere Wahrnehmungsstudien gezeigt. Geschichte darf man nie abhaken. Sie wirkt immer nach.“
Von daher fordert der Historiker Professor Stephan Lehnstaedt vom Touro College in Berlin mehr geschichtliche Sensibilität. Diese fehle in der Diskussion, stellt er fest. Wer ein historisches, moralisches, ethisches oder persönliches Problem einfach nur auf die juristisch-finanzielle Ebene schieben möchte, liege falsch. „Hier wäre viel wichtiger, dass die Deutschen eine gewisse Sensibilität entwickeln und sich auch zur historischen Verantwortung bekennen. Wenn sie das im größeren Masse täten, dann würden solche Forderungen nicht funktionieren“, sagt der Wissenschaftler.
Die historische Sensibilität fehle aber auch auf der Seite der polnischen Regierung, wenn solche Forderungen mit der Holzhammer-Methode gestellt werden, so Lehnstaedt. Der Hinweis auf geleistete Zahlungen, der aus Deutschland kommt, sei sicher nicht die richtige Reaktion darauf. Es wäre besser zu sagen, wir wollen darüber reden, wir wollen über den Krieg reden, uns ist bewusst, dass es lange her ist, aber dass es durchaus ein Thema ist. Der 37-Jährige rät: „Anzuerkennen. Demut zeigen. Verständnis zeigen. Damit es klar ist, wir rechnen hier nicht etwas auf. Der Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg kann nämlich nicht die Aufrechnung sein. Nach dem Motto: Ihr habt die deutschen Ostgebiete und damit ist es gut.“
Er plädiert für einen grundsätzlichen Kulturwandel in der Geschichtspolitik. „Ich denke, dass die Deutschen sehr zufrieden sind mit dem, wie die Vergangenheitsbewältigung gelaufen ist. Das ist etwas, was zum neuen deutschen Nationalstolz gehört, dass man sagt: Ja, wir sind die, die sich der Vergangenheit gestellt haben. Gern erklärt man das dann auch anderen Ländern, zum Beispiel Polen. Die sollen sich doch mal ein Vorbild nehmen an den Deutschen. Und wenn man dann genauer hinsieht, dann muss man feststellen, dass hier vieles Fassade ist.“
Statt allerdings bei der Gelegenheit in völkerrechtlich-juristische Dispute zu verfallen, sollte es um symbolische Wiedergutmachung gehen, so Lehnstaedt, als Verantwortung für die Geschichte. Diese könnte sich in steter Förderung der Versöhnungs- und Begegnungsprojekte in angemessener Höhe zeigen. Dazu sollte auch gehören, dass Deutschland sämtliche KZ-Gedenkstätten in Polen dauerhaft finanziell unterstützt. Das passiert bis jetzt nur im Falle des ehemaligen KZ-Auschwitz. Das Argument der deutschen Seite, es seien ja so viele, lasse der Historiker nicht gelten: „Es sind so viele, weil die Deutschen dort so viele Lager gebaut haben. Es sind nun mal deutsche Vernichtungs- und Konzentrationslager und keine polnischen KZ.“
Durchaus kritisch sieht der Forscher die bisherige Geschichtspolitik in Deutschland: „Ich glaube, dass die ganze deutsche Wiedergutmachung sowieso etwas ist, was nur auf Druck funktioniert. Die Politik tut von sich aus wenig, weil Politiker sich hierbei natürlich keine Lorbeeren verdienen können. Wenn ein Politiker kommt und sagt, ich habe jetzt für ein Mahnmal gesorgt, am besten noch eine Gedenkstätte in Polen finanziert… Da kriegt er ja in Deutschland auch keine Stimme mehr.“
Das Problem sei, meint der Warschauer Politologe Michał Sutowski, dass die polnische Regierung genau das ausnutze, indem sie gezielt moralischen Druck ausübe. Kontraproduktiv sei es – für beide Seiten. „Wir werden keinen Cent sehen, was die Reparationen betrifft. Aber wir gehen moralisch überlegen aus der Bataille hervor. Dann heißt es: Die Deutschen machen zwar bessere Autos und trennen den Müll, es sind aber Nachfahren der Mörder. Und wir sind alle Nachfahren der Guten, derjenigen, die gegen die Bösen für die Freiheit gekämpft haben, bis zum letzten Bluttropfen.“ Martin Lebrenz kann bei dieser Interpretation nur den Kopf schütteln. Der Polenkenner aus Frankfurt (Oder) sieht in den Forderungen nur „den verzweifelten Versuch der Regierung, von der eigenen Ideenlosigkeit in der Innen- und Europapolitik abzulenken. Nicht mehr und nicht weniger.
Die Debatte nutzt der Regierung innenpolitisch, gar keine Frage, bei der eigenen Wählerschaft kommt solche Rhetorik gut an. Die Reparationsforderungen dienen aber auch der außenpolitischen Positionierung Polens. Nach dem Motto: Greift Warschau verbal Berlin an, meint es Brüssel. „Die EU ist gleich Merkel, und Merkel ist gleich die EU“, lautet die Grundüberzeugung aus den Parteireihen. Und da ein heftiger Streit oft positive Auswirkungen hat, könnte Polen sogar davon profitieren. Die historische Karte wird auch dann gespielt, wenn es um den Entzug von EU-Mitteln geht, wie etwa bei der Frage nach Flüchtlingsumverteilung. Das polnische Magazin „Wprost“ geht da weiter und schrieb vor einigen Wochen: „Viele Beispiele zeigen: Auch 70 Jahre nach dem Krieg kann man von Berlin viel gewinnen“. Zwar seien etwa Griechenlands Entschädigungsforderungen abgewiesen worden, doch es gäbe einen Zusammenhang zur EU-Politik gegenüber Athen in den vergangenen Jahren, zu den milliardenschweren Hilfspaketen und zur großzügigen Umstrukturierung der griechischen Schulden, so das Blatt.
Lehnstaedt, der auch einige Jahre am Deutschen Historischen Institut in Warschau forschte, spricht gar von einer polnischen Vorbereitung auf den Brexit. Durch den Auszug der Briten aus der EU werde es auf absehbare Zeit in Europa nicht mehr so viel Geld zu verteilen geben, was Polen, das Land, das von den Infrastrukturfonds am meisten profitiert, treffen wird. Die Debatte um Reparationen werde argumentativ gebraucht, um zu zeigen, „wir Polen brauchen aufgrund der Kriegsgeschichte Sonderkonditionen.“
Mit einer neuen Perspektive auf die Sachlage wartet das Instytut Zachodni aus Posen auf. Die dortige Direktorin, Justyna Schulz, meinte in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Debatte um die Reparationen sei notwendig, um einiges klar zu stellen. Etwa, dass „die Versöhnung zwischen Deutschland und Polen nicht auf deutscher Scheckdiplomatie beruhte, sondern, dass die Grundlage dafür ein enormer materieller Verzicht seitens des polnischen Staates“ war. Es wäre wünschenswert, meint Schulz, dass die Bundesrepublik der damaligen polnischen Regierung unter Tadeusz Mazowiecki Anerkennung dafür zolle, im Jahr 1990 keine Reparationsansprüche erhoben zu haben. Es zeige, dass Polen trotz enormer Verluste und Leid auf Geld verzichtete, um ein gemeinsames Europa mit Deutschland aufzubauen. „Wie viel schöner wäre es, die positive Botschaft an die junge deutsche Generation heranzutragen, dass ihrem polnischen Nachbarn der Frieden und die Freundschaft mit Deutschland so viel wert waren“, schreibt Justyna Schulz.
Das setzt allerdings die Bereitschaft voraus, dass Warschau und Berlin wieder in einen ernsthaft gemeinten Dialog treten und offen, konstruktiv über die Vergangenheit und die Befindlichkeiten miteinander reden. Auch wenn das Klima mittlerweile rauer geworden ist.