Zur heutigen Entwicklung der Beziehungen zwischen Frankreich und Polen
Vor rund sechzig Jahren veranschaulichte der französische Historiker Fernand Braudel in der Zeitschrift ‚Annales‘ das Verhältnis zwischen Langzeit- bzw. Sozialgeschichte einerseits und Ereignisgeschichte andererseits anhand einer seitdem berühmt gebliebenen, maritimen Metapher. Während Ereignisse die Wogen an der Oberfläche des Meeres darstellten, stünden die tieferen Strömungen für die historischen Langzeitstrukturen. Erstere seien dabei nur „kurze, rasche und nervöse Schwankungen“, die „alle Messinstrumente in Alarm“ versetzen.
In der Tat könnte die Betrachtung der jüngsten Entwicklung in den polnisch-französischen zwischenstaatlichen Beziehungen durchaus den Blick für dauerhaftere Tendenzen trüben. Seit dem Wahlsieg der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) schlagen die neue Regierung und die PiS-nahen Medien ideologisch motivierte und weitgehend auf innenpolitische Zwecke gemünzte kritische Töne gegen westeuropäische Gesellschaftsmodelle, die mit Verallgemeinerungen wie „Multikulti“, „politische Korrektheit“, „Unsicherheit“, „Identitätsverlust“ gebrandmarkt werden. Als einer der Hauptakteure dieses „sich selbstaufgebenden Westeuropas“ kam auch Frankreich ins Kreuzfeuer der polnischen National-Konservativen.
Unerwarteter Auslöser dieser wohl seit dem Anfang des Kalten Kriegs in den späten vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr dagewesenen Spannungen zwischen Paris und Warschau war Anfang Oktober 2016 zunächst der Unmut Frankreichs aufgrund der abrupt von Polen unterbrochenen Verhandlungen zum Abschluss des geplanten Kaufs von fünfzig Caracal-Mehrzweckhubschraubern (Airbus). Die polnischen Reaktionen auf die verständliche französische Unzufriedenheit eskalierten auch auf offizieller Ebene erstaunlich schnell ins Irrationale bis hin zur befremdlichen Äußerung des Staatssekretärs im polnischen Verteidigungsministerium, Bartosz Kownacki, man solle sich nicht beeindrucken lassen, schließlich hätten die Franzosen vor Jahrhunderten von den Polen gelernt, mit einer Gabel zu essen. Dieser erste peinliche Fauxpas (seit Jacques Chirac im Februar 2003 behauptet hatte, die EU-Beitrittskandidaten, darunter Polen, hätten in der Irakkrise eine Gelegenheit verpasst, zu schweigen…) löste zwar keine „Forkgate“-Affäre aus, die emotionale Labilität in den französisch-polnischen Beziehungen wurde aber zum neuen Trend, der sich nach der Wahl Emmanuel Macrons zum französischen Staatspräsidenten fortsetzte.
Vom polnischen Einwand gegen die beschlossene Umverteilung der Flüchtlinge zwischen den EU-Staaten über die französische Kritik an der als rechtsstaatswidrig betrachteten Justizreform der PiS bis hin zum nicht abgeschlossenen Streit um die EU-Entsenderichtlinie mangelte es zwischen beiden Regierungen nicht an sauren Zankäpfeln. Der Kulminationspunkt wurde bis auf weiteres mit den harten Worten Macrons gegen die PiS-Regierung und dem Ad-Hominem-Angriff der polnischen Ministerpräsidentin Beata Szydło gegen den französischen Präsidenten erreicht. Worüber soll noch gesprochen werden? Gibt es weiterhin gemeinsame Interessen? Die kurze Antwort lautet: Ja. Nähere Details dazu liefert wiederum die Betrachtung der jeweiligen Interessen, insbesondere in den Bereichen Energie und Verteidigung.
Der Abschluss einer „strategischen Partnerschaft“ im Oktober 2008, die im November 2013 verlängert wurde, kam nicht von ungefähr. Während Polen weiterhin auf Steinkohle setzt und diesen nicht mehr konkurrenzfähigen Sektor massiv mit Geldern aus dem Staatshaushalt unterstützt, wird in Warschau gleichzeitig nach Alternativen gesucht. Frankreich stellt diesbezüglich mit seinem technologischen Knowhow im Bereich der Atomenergie einen interessanten – und interessierten – Partner dar, auch wenn die bisherigen französischen Versuche, eine engere Kooperation zu bewirken und den Bau von Atomkraftwerken in Polen zu erreichen, nicht den von Paris erhofften Erfolg brachten. Andererseits bestehen auch im Sektor der Sonnenenergie durchaus Konvergenzen zwischen den beiden Märkten; diesmal kommt die Nachfrage aus Frankreich, und zwar nach Solarzellenpanels polnischer Produktion. Allgemein zeichnet sich auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien ein wachsendes Zusammenarbeitspotenzial zwischen beiden Ländern ab, wobei französische Partner immer öfter in Konkurrenz mit deutschen Firmen stehen (werden).
Noch aufschlussreicher in Hinblick auf die Kontinuitäten polnisch-französischer Interessen, selbst in Zeiten emotionaler PR-Kommunikation, sind die in den Medien kaum beachteten und spärlich kommentierten Diskussionen zwischen dem polnischen Verteidigungsminister Antoni Macierewicz und seiner französischen Amtskollegin Florence Parly am 13. September 2017 in Paris. Erst drei Wochen, nachdem Macron auf seiner Ostmitteleuropatour mit Absicht Warschau (und Budapest) gemieden hatte, ging es darum, die bilateralen Kontakte wieder etwas aufzuwärmen: Macierewiczs Hauptanliegen betraf den Kauf von U-Booten für die polnischen Streitkräfte. Obwohl neben Frankreich auch Schweden und Deutschland der polnischen Regierung entsprechende Angebote unterbreitet hatten und zur Zeit die deutschen U-Boote von Thyssen Krupp Marine Systems (TKMS) die besten Chancen haben, auf Polens Interesse zu stoßen, trumpft der französische Konzern Naval Group mit dem zusätzlichen Angebot, die U-Boote im Rahmen der strategischen Partnerschaft mit Scalp-Marschflugkörpern auszurüsten, und geht dadurch weit auf die polnischen Erwartungen ein – auch in Hinblick auf die Befürchtungen, die die russische Außenpolitik in Polen schürt.
Ob sich Polen – möglicherweise bis Ende 2017 – für französische U-Boote entscheidet oder nicht, die gegenseitigen wirtschaftlichen Interessen bleiben weitgehend erhalten: Obwohl stets weit hinter Deutschland, so platzierte sich Frankreich im ersten Halbjahr 2017 für Polens Export an dritter, für den polnischen Import immerhin an fünfter Stelle. Nichtsdestoweniger wird der europäische Integrationsschub, den Macron – allerdings weitere scharfe Töne gegen die PiS-Regierung vermeidend – gleich nach den deutschen Bundestagswahlen für die Euro-Zone herbeigewünscht hat, sowohl die französisch-polnischen als auch die deutsch-französischen Beziehungen auf die Probe stellen. In einer Jamaika-Koalitionsregierung, könnte die FDP die Ausdauer des Tandems Merkel-Macron durchaus strapazieren.
Welche Rolle in dem Zusammenhang eine Reaktivierung des Weimarer Dreiecks spielen würde, bleibt ungewiss, zumal sich Polen zuletzt nicht sonderlich für dieses Diskussionsformat zu interessieren schien und die jüngste Reparationspolemik kalten Wind zwischen Warschau und Berlin wehen lässt. Und dennoch erscheint diese trilaterale Diskussionsplattform angesichts ihres Potenzials, im Vorfeld der sich anbahnenden Umstrukturierung der EU Missverständnisse und Verlustängste aus dem Weg zu räumen und gegenseitiges Vertrauen zu stärken, gefragter denn je. Der französischen Ministerin für europäische Angelegenheiten, Nathalie Loiseau, wird man aber – jenseits jeglicher diplomatischer Floskeln – wohl zustimmen müssen, wenn sie nach ihrem Besuch in Warschau am 4. Oktober 2017, betont, zwischen beiden Ländern bestehe „kein Konflikt“.