Herr Sturm, Sie inszenieren seit über 20 Jahren Opern. Wie kamen Sie zur Oper? Oder kam die Oper zu Ihnen?
Ich kam zu ihr, indem ich in Jugendjahren ganz einfach in die Hamburgische Staatsoper ging und das Glück hatte, Abende zu erleben, die sich mir ins Gedächtnis einprägten. Mit Wagners Lohengrin begann es, wenn auch nur in zwei Akten, denn die Bühnenmaschinerie brach zusammen und „Treulich geführt ziehet dahin“ (erster Gesang des 3. Aktes, Anm. der Redaktion) wurde erst Jahre danach nachgeholt. Und dann war da Harry Kupfers Inszenierung von Händels Oratorium „Belsazar“, was mich zu Tränen rührte und an dem Abend zum Dauerzustand wurde. Danach folgte an selbiger Stelle Zemlinskys „Geburtstag der Infantin“ – oh, wie litt ich mit dem armen Zwerg. Danach gab es kein Entkommen mehr für mich, ich war gefesselt und wollte selber ran.
Die Musik spielte jedoch schon vorher die bedeutendste Rolle in meinem Leben: Bachs Passionen und Kantaten im Kirchenchor zu singen, Geigen und Klavier zu lernen. Bach war mein Gott, ebenso wie Beethoven und Wagner, der schließlich meine Pubertätsdroge wurde. Tristan rauf und runter, den Ring mit all seinen Helden und Motiven und Parsifal mit seinem Erlösungswunder – ich ließ mich berauschen und stellte keine Fragen. Die kamen jedoch später. Mit Musik verbinde ich Lebensmomente, Erinnerungsmotive langer Reisen durch die reale und imaginäre Welt. Und je älter ich werde, umso mehr fasziniert mich das Unerklärliche, das Metaphysische, ja, Gott im Ausdruck der Kunst und seiner Musik.
Welche war bislang Ihre schwierigste Oper?
Schwierig ist eigentlich keine, wenn man gut vorbereitet ist und weiß, was man sagen will. Reizvoll sind Werke, die vielschichtig sind. Reizvoll ist es, Opern an Orten auf die Beine zu stellen, die man nicht zwangsläufig mit Musik und Oper in Verbindung setzt. Dazu zählen für mich die großen Herausforderungen wie „Fidelio“ in Albanien und Smetanas „Verkaufte Braut“ im ehemaligen Konzentrationslager Theresienstadt. Es waren für mich sehr tiefgehende und wichtige Erfahrungen, die meinen Blick für die eigentliche Aufgabe des Regisseurs schärften, wie ich sie interpretiere.
Derzeit arbeiten Sie an einem neuen Projekt: Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“. Die Premiere ist für den März 2018 vorgesehen, und zwar im Teatr Wielki in Posen. Weshalb entschieden Sie sich für die „Meistersinger“, weshalb für eine Aufführung in Posen?
Die Meistersinger von Nürnberg sind das einzige Werk Wagners, das in Polen seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gespielt wurde. Zweifellos gibt es dafür stichhaltige Gründe: Zum einen ist ein enormer Aufwand an Sängern für zum Teil schwierige und lange Fachpartien nötig, auch geht es nicht ohne einen großen Chor, hinzu kommt die gewaltige Ausstattung. Und dann das schwer zu lernende „Wagnerdeutsch“. Es gibt aber vermutlich einen weiteren Grund, der nachvollziehbar ist, denn er liegt im Werk selbst begründet. Die Festwiese zum Ende des 3. Aufzuges ist ein „deutschtümelndes“ Finale, das es auf den ersten Blick in sich hat. Lauern dort doch Texte wie „ehrt Eure deutschen Meister, dann bannt ihr gute Geister“. Im zeithistorischen polnisch-deutschen Kontext kann das leicht ungute Assoziationen auslösen und ich verstehe das. Geht es mir doch ähnlich, wenn auch aus anderer Perspektive.
Doch dahinter steckt kein deutscher Chauvinismus, sondern ein Appell Wagners an ein in Kleinstaaterei zersplittertes Volk, das durch die Kunst seine Identität zu suchen bereit sein soll. Die Kunst steht im Mittelpunkt und der Mensch als Künstler, der der Politik durch seine künstlerischen Mittel Fragen und Aufgaben stellt. Die Kunst kennt keine nationalen Grenzen, sie baut Mauern ab und schafft Brücken – und darin sehen wir bei diesem polnisch-deutschen Projekt auch unsere Aufgabe. Wagner war übrigens ein großer Anhänger des polnischen Freiheitskampfes, so komponierte er eine „Polonia-Ouvertüre“.
Der Missbrauch bzw. die Vereinnahmung Wagners durch den Nationalsozialismus kam sicherlich nicht von ungefähr, Wagners Opern und seine Schriften bieten bis heute genügend Bauanleitungen für spezielle Sichtweisen und Interpretationen. Und auch ich bin gedanklich beim strahlenden C-Dur der Ouvertüre in einer assoziierten Welt der Bismarckschen Germanisierungspolitik und ganz nah am Posener Kaiserschloss. In meiner eigenen Identität lässt sich diese zwiespältige Geschichte niemals ausklammern. Wahrscheinlich hat mich auch deshalb Kupfers „Belsazar“ zu Beginn meines künstlerischen Weges so zum Weinen gebracht, verlegte er doch den Spielort in ein Ghetto während des Zweiten Weltkrieges. Schuld, Trauer und die Hoffnung auf Vergebung mit dem Vorsatz, die Welt durch Kunst zu verbessern, spielen unbewusst bei mir ganz sicher eine Rolle. Mir ist klar, was ich wo als Künstler tue und welche Verantwortung ich dafür trage. Eine mich beflügelnde Herausforderung.
Es ist nicht das erste Mal, dass Sie Wagner inszenieren. Was ist die besondere Herausforderung bei der Inszenierung seiner Werke? Gibt es ein allen seinen Musikdramen zugrundeliegendes Element, das Sie als Regisseur besonders beachten?
Wagner ist immer auf der Suche nach Erlösung – alle seine Figuren, wie auch er selbst ist davon getrieben, die Erlösung in der Liebe zu finden, mal verkleidet in fernen Mythen, mal ganz individuell wie bei den Meistersingern, wo kein Gott mit sich hadert, sondern ein junger Mensch einfach die Liebe seines Lebens erringen möchte, dafür aber eine Prüfung bestehen muss, die er zunächst leider vergeigt. Wäre nicht ein guter Lehrer als Mentor und das geniale Talent des jungen Mannes, würde die Oper frühzeitig enden und man könnte nach neunzig Minuten nach Hause gehen. Die Kunst und ihre Rolle in der Gesellschaft werden bei den Meistersingern immer mehr zum Thema. Politik und Nationalismen sind keine Erlösungspillen, denn allein die Kunst ist es, die Wagner beschwört und zu seiner Utopie macht. Darüber lässt sich gut und gedeihlich nachdenken – und streiten.
Richard Wagner sorgte zeitlebens für Kontroversen – sowohl im Hinblick auf sein Werk, als auch Lebensstil – und löst bei vielen auch heute noch gemischte Gefühle aus. War es schwer, sowohl auf polnischer wie auch auf deutscher Seite Zuspruch für Ihre Idee zu finden?
In meiner Jugend war Wagner eine Droge, um der Wirklichkeit zu entfliehen. Später kamen mir die Inhalte in den Sinn und das Nachdenken begann in eine tiefgehende Auseinandersetzung mit diesem Ausnahmekomponisten zu münden. Was kann man schon sagen, wenn beispielsweise die Ideologie Lohengrins darin besteht, dass das Wohl der Masse über das des Einzelnen steht, wenn eine Gesellschaft damit einverstanden ist, dass Fragen zur Herkunft des neuen Staatsführers von Brabant verboten sind, allein um im Krieg erfolgreich zu siegen? Welcher Mythos soll da wohl entstehen und vor allem: Was lässt sich da noch alles herausfiltern?
Wagners Werk besitzt die Macht, Menschen zu lenken, sie zu führen und er wusste um diese Mittel zur Manipulation. Er lässt einen Menschen nicht Mensch sein, sondern er fordert ihn insbesondere emotional zur Stellungnahme auf. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass er geliebt und gleichermaßen gehasst wird. Ich habe mir immerhin eine gesunde Distanz angewöhnt.
Das „Faszinosum Wagner“ findet Anhänger und Unterstützer, „Die Meistersinger von Poznań“ eine immer größer werdende Anhängerschaft. Wir wollen Brücken des Verstehens bauen, Menschen zueinander bringen, Diskussionen an einem Ort der Kunst ermöglichen, an dem es nicht um Nationalismen geht, sondern um den Menschen und seine Identität. Und Wagners Meistersinger sind ein ideales Werk dafür. Es ist eine Freude zu sehen, wie die „Gemeinde“ der Freunde und Förderer dieses Projektes immer größer wird, auch in der Politik bzw. in den Parlamenten Warschaus und Berlins.
Worauf werden Sie Ihren Fokus bei den „Meistersingern“ legen? Wird Posen oder Polen dabei eine Rolle spielen?
Der Ort und seine Geschichte spielen eine wichtige Rolle. Polen als Staat existierte nicht als Wagner seine Meistersinger schrieb. Und da, wo heute Adam Mickiewicz auf dem Sockel nahe der Universität thront, stand einst die Figur von Otto Fürst von Bismarck. Welch schöne Fügung, dass ein Dichter den Politiker verdrängte. Wagner würde ganz sicher applaudieren – ich tue es ebenfalls und verneige mich vor dem Schöpfer des Pan Tadeusz, der für mich ein wunderbarer Schlüssel des Verstehens Polens ist. Und ich denke an die Geburtsstunde der deutschen Demokratie beim Hambacher Fest, die es ohne den polnischen Adler mit seiner weiß-roten Flagge so vermutlich nicht gegeben hätte. Polen war Vorbild – und Wagner hielt Weiß-Rot in der Hand. Auch daran denken wir im Jubiläumsjahr 2018 als vor 100 Jahren die alte Ordnung unterging, die Republik Polen entstand, ebenso wie die Weimarer Republik. Alles ist sehr eng miteinander verknüpft und das ist die spannende Herausforderung für die Zukunft.
Herr Sturm, wir danken Ihnen für das Gespräch.