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“Die europäischen Nationen verbindet mehr, als sie trennt” – Interview mit Heinrich August Winkler

Heinrich August Winkler war seit 1991 bis zu seiner Emeritierung Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2014 erhielt er den Europapreis für politische Kultur der Hans Ringier Stiftung und 2016 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Zuletzt erschien von ihm: „Zerbricht der Westen? Über die gegenwärtige Krise in Europa und Amerika“ (München 2017).

 

Herr Prof. Winkler, Sie fragen in Ihrem neuesten Buch, ob der Westen zerbricht. Was verstehen Sie genau unter dem Begriff Westen und was ist mit dem normativen Projekt des Westens gemeint?

 

Der Westen: das ist, historisch gesehen, zunächst einmal das Europa der Westkirche, das lateinische Europa, der Okzident. Es ist der Teil Europas, der geprägt ist durch die mittelalterlichen Gewaltenteilungen: erst die ansatzweise Trennung von gesetzlicher und weltlicher Gewalt im Investiturstreit, dann die Trennung von fürstlicher und ständischer Gewalt, wie sie beispielsweise die englische Magna Charta von 1215 brachte. Aus diesem Dualismus entwickelten sich Freiheitstraditionen, die sich im orthodoxen Europa nicht entfalten konnten – unter anderem deswegen nicht, weil die geistliche Gewalt dort der weltlichen unterordnet blieb.

 

Europa geht, wie der Wiener Historiker Gerald Stourzh bemerkt hat, über den Westen

Heinrich August Winkler © Heike Zappe (Humboldt Universität)
Prof. Dr. Heinrich August Winkler © Heike Zappe (Humboldt Universität)

hinaus, aber der Westen geht auch über Europa hinaus. Der moderne Westen ist ein Produkt transatlantischer Kooperation. Er ist geprägt durch die Ideen der beiden atlantischen Revolutionen, der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789: die unveräußerlichen Menschenrechte, die Gewaltenteilung, die Herrschaft des Rechts, die Volkssouveränität und die repräsentative Demokratie, also die politischen Konsequenzen der Aufklärung. Die Geschichte des Westens ist seit Ende des 18. Jahrhunderts auf weiten Strecken eine Geschichte von Kämpfen um die Aneignung oder Verwerfung dieser Werte, des normativen Projekts des Westens, aber auch eine Geschichte von immer neuen Verstößen gegen diese Werte sowie von Lernprozessen, also Selbstkritik und Selbstkorrektur.

 

Die friedlichen Revolutionen von 1989 in Ostmitteleuropa, deren Vorgeschichte im Sommer 1980 mit der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność in Polen begann, verschaffte endlich auch dem Teil des alten Okzidents, der 1945 durch die Beschlüsse von Jalta vom übrigen Westen abgetrennt worden war, die Möglichkeit, sich voll und ganz der politischen Kultur des Westens zu öffnen.

 

Im Angesicht der Krisen in Europa und der erschwerten transatlantischen Beziehungen stellt sich die Frage: Wer ist heute eigentlich Hüter über die viel beschworenen westlichen Werte?

 

Wenn Europäer und Amerikaner sich über grundsätzliche Fragen stritten, waren das bisher meist Kontroversen über die unterschiedliche Auslegung gemeinsamer Werte. Ich denke hier an die Debatten über die Todesstrafe, das staatliche Gewaltenmonopol, das Verhältnis von Religion und Politik, den Sozialstaat, die Verantwortung für die Umwelt. Ob das immer noch gilt, seit an der Spitze der USA ein Vertreter der Parole „America first“ steht, ist fraglich. Doch Trump ist nicht Amerika. Es gibt das andere Amerika: die liberalen Kräfte in Zivilgesellschaft und Politik, die unabhängige Justiz, die Verfassungspatrioten beider Parteien im Kongress und selbst in der Administration des Donald Trump. Amerika abzuschreiben wäre von Grund auf verkehrt.

 

Die Europäische Union könnte ein Gegengewicht zu Trump und den Trumpisten bilden, wenn sie denn mit einer Stimme sprechen würde. Das tut sie leider aber nur selten. Sie nimmt es, wenn auch unter Protest, hin, dass einzelne Mitgliedstaaten Gründungswerte des Staatenverbundes wie den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz und damit den Anspruch der EU in Frage stellen, eine Wertegemeinschaft zu sein. Ich denke da an Ungarn unter Viktor Orbáns Fidesz und Polen unter Jarosław Kaczyńskis PiS.

 

Umso mehr kommt es jetzt darauf an, dass die im weitesten Sinn liberalen Demokratien enger zusammenarbeiten – innerhalb der EU, aber auch mit europäischen Staaten, die nicht der EU angehören wie Norwegen und die Schweiz und künftig auch Großbritannien, sowie auf globaler Ebene mit angelsächsisch geprägten Ländern wie Kanada, Australien und Neuseeland. Und ich setze darauf, dass auch die Vereinigten Staaten bald wieder zu den liberalen Demokratien des Westens zu rechnen sein werden. Diese Demokratien und alle, die sich den Ideen von 1776 und 1789 verbunden fühlen, sind die Hüter der westlichen Werte.

 

Das normative Projekt des Westens geht über die geographische Kategorie weit hinaus. Konnte der Westen als Konglomerat von Wertvorstellungen in die Länder Mittel- und Osteuropas übertragen werden?

© Zygmunt Januszewski

Die ostmitteleuropäischen beziehungsweise nordeuropäischen Mitgliedstaaten, die

2004 der EU beigetreten sind – die drei baltischen Republiken, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Slowenien –, sind allesamt Teile des alten Westens. In manchen dieser Länder macht sich freilich seit einiger Zeit die fehlende oder allzu kurze Erfahrung mit der parlamentarischen Demokratie in der Zwischenkriegszeit bemerkbar. Darin liegt eine große Herausforderung der oppositionellen Kräfte, die sich zu den Ideen des Westens bekennen. Von ihrer Einigkeit und Entschlossenheit hängt es ab, ob sie den Sieg über die Politik der autoritären Nostalgie davontragen werden.

 

Vor einer ähnlichen, vielleicht noch größeren Herausforderung stehen die zum orthodoxen Kulturkreis gehörenden Staaten, die der EU 2007 beigetreten sind: Bulgarien und Rumänien. Ihre Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens verlangt zusätzliche Anstrengungen im Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen – ein Krebsübel vieler, auch „alter“ Mitgliedstaaten der Gemeinschaft.

 

Wir verdanken Polen in der jüngeren europäischen Geschichte viele Freiheitsimpulse. Haben wir die polnische Gesellschaft zu selektiv wahrgenommen? Oder wie erklären Sie sich die aktuellen Entwicklungen in Polen?

 

Ohne die Selbstbefreiung der Polen in den achtziger Jahren hätte es keine Wiedervereinigung Deutschlands gegeben. Die Deutschen haben also Anlass zu großer Dankbarkeit gegenüber Polen. Die Abwendung der PiS von den Kopenhagener Beitrittskriterien von 1993 und den Normen des Lissabon-Vertrages von 2009 ist eine historische Tragödie. Den Nationalpopulisten fehlt es an einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit den obrigkeitsstaatlichen Traditionen des eigenen Landes und an der für den Westen grundlegenden Erkenntnis, dass Demokratie mehr ist als Mehrheitswille, nämlich konsequente Gewaltenteilung im Sinn der angelsächsischen „ckecks and balances“ und Respekt vor der Opposition. Diese Lektion zu lernen, hatten aber auch die Deutschen große Mühe.

 

Hatten und haben Polen und die anderen neuen EU-Mitgliedsländer die Möglichkeit gehabt, ihre Wertvorstellungen mit in die EU hineinzutragen oder sind diese mit dem Beitritt 2004 verpufft? Gab es ausreichend Debatten über die historischen Spezifika der ehemalig sowjetisch kontrollierten Staaten im mittelosteuropäischen Raum?

 

Den friedlichen Revolutionen von 1989 ging es vor allem um eines: darum, die Werte des Westens, wie sie im Zuge der atlantischen Revolutionen von 1776 und 1789 in klassischer Weise formuliert worden waren, endlich auch in ihren Ländern zur Geltung zu bringen. Ich sage das auch in dankbarer Erinnerung an die vielen Gespräche, die ich zwischen 1979 und 1989 in Polen führen konnte. Darunter waren namentlich die mit meinen Freunden Bronisław Geremek, den sein Biograph Reinhold Vetter mit Recht den „Strategen der polnischen Revolution“ genannt hat, und mit dem Historiker Jerzy Holzer, einem der großen Brückenschläger zwischen Polen und Deutschland. Die Werte, für die sie kämpften, sind die, um die es heute in ganz Europa und im ganzen Westen geht.

 

Die „Altmitglieder“ der EU müssen lernen, die besonderen Probleme der „neuen“ Mitgliedstaaten in Ostmittel- und Südosteuropa zu verstehen und ernst zu nehmen. Das gilt auch für die kontroverse und bisher unglücklich verlaufene Migrationsdebatte, und es gilt ganz besonders für die deutschen Politiker und Intellektuellen, die ihr Land 2015/16 als „moralische Großmacht“ oder als moralische Leitnation Europas präsentierten und faktisch den Anspruch auf ein deutsches Moralmonopol erhoben haben. Mehr Selbstkritik deutscherseits ist dringend geboten. Die Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas nach 1945 ist zu einem Teil der Geschichte der Europäischen Union geworden: Das ist noch längst keine allgemeine Einsicht diesseits der einstigen Ost-West-Grenze des Kalten Krieges.

 

Denken Sie, eine fortschreitende europäische Integration, wie sie der französische Staatspräsident Emmanuel Macron anstrebt, kann der Motor für eine Überwindung der europäischen Krisen sein?

 

© Zygmunt Januszewski

Die Wahl von Emmanuel Macron eröffnet die Chance, nach den ideenarmen Präsidentschaften von Nicolas Sarkozy und François Hollande das Projekt Europa wieder voranzubringen. Doch nicht alles, was Macron vorschlägt, ist zu Ende gedacht. Was meint er, wenn er ein „souveränes Europa“ neben den souveränen Nationen fordert? Einen europäischen Superstaat kann er nicht wirklich wollen. Damit dränge er weder in Frankreich noch sonst irgendwo in Europa durch.

 

Mehr Integration um den Preis von weniger Demokratie kann und darf es nicht geben. Eine Vollparlamentarisierung der EU scheitert daran, dass das Europäische Parlament kein repräsentativ gewähltes Parlament ist und auch nicht sein kann. Es privilegiert aus guten Gründen die kleineren Mitgliedstaaten. Transnationale Parteilisten, wie Macron sie für die Wahl des Europäischen Parlaments anregt, helfen deswegen nicht weiter. Es kommt vielmehr auf die Europäisierung der nationalen Parlamente an. Sie müssen ihre Integrationsverantwortung stärker wahrnehmen und besser koordinieren, wenn sie das Demokratiedefizit der EU abbauen wollen.

 

In vielen anderen Bereichen sind die Ideen Macrons hingegen hilfreich, etwa in den Feldern gemeinsame Verteidigung, Sicherung der Außengrenzen, Terrorbekämpfung. Deutschland und Frankreich werden sich über einen vernünftigen Ausgleich zwischen den Zielen Konsolidierung der Staatsfinanzen und Förderung von nachhaltigem Wirtschaftswachstum verständigen müssen. Davon hängt viel für die Eurozone und die EU insgesamt ab.

 

Muss die Rolle des Nationalstaates im europäischen Gebäude neu definiert werden?

 

Der klassische, vollsouveräne, isoliert agierende Nationalstaat gehört in Europa der Vergangenheit an. Die Mitgliedstaaten der EU sind, ob sie wahrhaben wollen oder nicht, postklassische Nationalstaaten, die einige ihrer Hoheitsrechte gemeinsam ausüben oder auf gemeinsame Einrichtungen übertragen haben. Auf sich allein gestellt, wären die europäischen Staaten in vielen Bereichen völlig überfordert.

 

Der Nationalismus hat Europa ins Verderben gestürzt. Wer ihn kultivieren oder wiederbeleben will, hat nichts aus der Geschichte gelernt. Die Nationen überwinden zu wollen, wäre hingegen ebenso ahistorisch wie gefährlich. Die geschichtlich gewachsene Vielfalt der Nationen ist ein wesentliches Merkmal Europas und Ausdruck seines kulturellen Reichtums. Die europäischen Nationen verbindet mehr, als sie trennt. Dieses gemeinsame Erbe gilt es zu pflegen und gegen alle diejenigen zu verteidigen, die sich dem Lernen aus der Geschichte verweigern.

 

 

Das Interview führte Ricarda Fait

 

Gespräch

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