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Der deutsch-französische Motor und das polnische Liberum Veto

Da Großbritannien die Europäische Union verlässt, gewinnt die Eurozone an relativer Bedeutung, weil sie einen größeren Anteil am EU-Territorium haben wird. Voraussichtlich wird sich die Integration innerhalb der Eurozone beschleunigen – mit Frankreich und Deutschland als Antriebsmotor. Wie die Integration aussehen wird, hängt davon ab, welche Kompromisse zwischen französischen und deutschen Konzepten geschlossen werden. Nach dem Brexit wird Polen wahrscheinlich Großbritanniens Stelle als das Land mit der größten Distanz zur weiteren Integration der EU einnehmen. Die polnische Politik wird dabei an das Gefühl der Polen appellieren, sich politisch und in ihrer nationalen Identität von allen anderen zu unterscheiden.

 

Der Brexit bedeutet eine außerordentliche Veränderung der Machtverteilung innerhalb der EU. Der Anteil der Länder außerhalb der Eurozone verringert sich von etwa 35 Prozent auf weniger als 15 Prozent des am Kaufkraftanteil bemessenen Bruttoinlandprodukts. Darüber hinaus ist mittelfristig vom Beitritt weiterer Länder zur Eurozone auszugehen (Bulgarien, Kroatien und Rumänien). Eine weitere Folge des Brexit sind die intensiveren Überlegungen zur Beschleunigung der EU-Integration um die Eurozone. Es ist sehr viel wahrscheinlicher geworden, dass sich die EU in unterschiedlichen Geschwindigkeiten weiterentwickeln wird. Anfang März 2017 gab es eine Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs der größten EU-Staaten Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien, die sich in einer gemeinsamen Erklärung dafür aussprachen, dass Länder, die dies wünschen, sich stärker integrieren können, ohne die Haltung der übrigen Länder zu berücksichtigen.

 

Dass aus solchen Ankündigungen Realität werden könnte, ist nach den Präsidentschafts‑ und Parlamentswahlen in Frankreich im Frühjahr sowie den Bundestagswahlen in Deutschland im Herbst dieses Jahres zu einer konkreten Perspektive geworden. Allerdings vertreten die Regierungen beider Länder sehr unterschiedliche Visionen für Europa. Ihnen ist jedoch die Überzeugung gemeinsam, dass sich die EU weiter integrieren müsse. Wie diese Integration aussehen wird, entscheidet ein Kompromiss zwischen Frankreich und Deutschland als den beiden wichtigsten Mitgliedstaaten. Voraussichtlich wird Polen daran keinen Anteil haben, auch wenn es nach dem Austritt Großbritanniens gemessen an Bevölkerung und Wirtschaftskraft das fünftgrößte Land und wirtschaftlich sehr stark mit Deutschland verbunden ist. Nach dem Austritt Großbritanniens ist Polen nach Frankreich und den Niederlanden und gleichauf mit Italien der wichtigste EU-Handelspartner Deutschlands. Für Polens Integrationsabstinenz geben die Vorbehalte den Ausschlag, welche die polnische Regierung gegen die Führungsrolle Deutschlands in der EU und den Beitritt Polens zur Eurozone hat und die sie durch den Appell an die besondere nationale und kulturelle Identität des Landes unterfüttert. Diese Politik, vor allem die Gegnerschaft gegen den Euro, findet in Polen starke Unterstützung. Daher widersprechen die polnischen Vorschläge zur Reform der Europäischen Union denjenigen aus Frankreich und Deutschland.

 

Annäherung der Positionen Macrons und Merkels

Der neue französische Präsident Emmanuel Macron präsentierte sich im Wahlkampf als entschiedener Befürworter der Beschleunigung der europäischen Integration, in der Frankreich neben Deutschland wieder einmal die Rolle des Schwungrads übernehmen soll. Macron entwickelte die Konzeption eines eigenen Haushalts der Eurozone in Höhe einiger Prozent ihres Bruttoinlandprodukts. Dieser soll von einem eigenen Eurozonenparlament beschlossen und von einem gemeinsamen Finanzminister verwaltet werden, der die Wirtschafts‑ und Finanzpolitik koordiniert. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich zu diesen sehr ambitionierten Plänen bisher nur zurückhaltend geäußert. Sie befürwortete ein gemeinsames, aber nicht sehr großes Budget, darüber hinaus auch ein eigenes Exekutivorgan, das die Einhaltung der fiskalischen Regeln überwachen soll. Noch weit stärker auf Distanz blieb die FDP. Die deutschen Liberalen lehnen einen gemeinsamem Etat der Eurozone ab, da sie diesen als Beginn einer „Transferunion“ sehen, also einer Vergemeinschaftung der Schulden der Mitgliedsländer.

Die Bundestagswahlen veranlassten Macron dazu, seine Position zu korrigieren.

© istock/AlexLMX

Direkt nach den Wahlen stellte Macron bei einer Ansprache an der Sorbonne zwanzig Änderungsvorschläge für das europäische Projekt vor. Er schlug vor, am 22. Januar 2018, dem 55. Jahrestag des Elisée-Vertrags, einen neuen deutsch-französischen Kooperationsvertrag zu schließen. Dieser solle ein festes Bündnis zum Umbau der EU sowie die enge Abstimmung der Wirtschaftspolitik beider Länder umfassen, beispielsweise die Angleichung der Handelsgesetzbücher. Macron überging die Frage, wie groß die Eurozone werden solle, auch von einem Eurozonenparlament war keine Rede mehr. Dies sind Anzeichen dafür, dass er in diesen Fragen Deutschland entgegenzukommen bereit ist. Stattdessen nahm der französische Präsident in seine Rede erstmals den Gedanken auf, einen Hilfsfonds für krisenbedrohte Länder einzurichten. Dieser solle nicht aus dem gemeinsamen Budget der Eurozone finanziert werden, sondern aus der Besteuerung des Digitalmarkts oder von Finanztransaktionen. Macron stellte jedoch außerökonomische Initiativen in den Vordergrund. Dazu zählen eine verbesserte Effizienz der EU-Institutionen sowie eine engere Zusammenarbeit bei der Verteidigungs‑ und Einwanderungspolitik.

 

Zur Verbesserung der Effizienz in der EU schlug Macron beispielsweise vor, die Kommission von 28 auf fünfzehn Kommissare zu verkleinern. In der Sicherheitspolitik schwebt ihm vor, in den nächsten Jahren einen gemeinsamen europäischen Rüstungsetat, gemeinsame Interventionsstreitkräfte und Zivilschutz einzurichten und eine europäische strategische Doktrin zu entwickeln. Er möchte insbesondere eine europäische Rüstungsindustrie aufbauen. Grundlage dafür sollen die im Juli 2017 zwischen Frankreich und Deutschland geschlossenen Abkommen sein. Darin verständigten sich Berlin und Paris darauf, beim Bau oder Ankauf eines Mehrzweckflugzeugs, eines Kampfhubschraubers, einer Luft-Boden-Rakete, schwerer Panzer, Artillerie und Dronen zusammenzuarbeiten. Die bilaterale Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik soll Schwungrad für ein EU-Instrument ständiger Kooperation sein („Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“, SSZ oder mit dem englischen Kürzel PESCO), einen Europäischen Verteidigungsfonds (EDF) und eine jährliche Bestandsaufnahme der Verteidigungspolitik (CARD). Demnach sollen sich weitere EU-Staaten den deutsch-französischen Projekten anschließen. Bei der europäischen Einwanderungspolitik spricht sich Macron für mehr Koordination im Austausch von Informationen über Asylbewerber aus. Diesem Zweck soll ein 2018 einzurichtendes europäisches Amt für Asyl dienen. Darüber hinaus möchte Macron eine gemeinsame europäische Grenzpolizei bilden. Seine Rede fand bei der deutschen politischen Führung einschließlich der Liberalen positive Aufnahme. Voraussichtlich werden die Deutschen damit einverstanden sein, die Kompetenzen des Europäischen Stabilitätsmechanismus um die Möglichkeit zu erweitern, Investitionen stärker zu unterstützen, was an die Stelle von Macrons ehrgeizigen Pläne für einen großen Haushalt der Eurozone treten würde. Es ist ebenso möglich, dass Deutschland seine Idee unterstützt, einen Finanzminister für die Eurozone zu berufen, dessen Kompetenzen sich jedoch auf fiskalische Fragen beschränken sollen.

 

Geld ja, Prinzipien nein

Die Ideologie der in Polen regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) rankt sich um Souveränität nach innen wie außen, gepaart mit Ethnonationalismus und Populismus. Das bedeutet, dass sich die Macht durch den souveränen Willen der Nation bzw. des Volks legitimiert, der durch keinerlei rechtlichen Rahmen beschränkt wird. PiS pflegt ein Verständnis von Souveränität, das eine Mitgliedschaft in der Eurozone ausschließt, deren Bedeutung in der EU nach dem Brexit stark gewachsen ist. Ein noch stärkerer Hinderungsgrund gegen die Übernahme des Euro als die Parteiideologie ist die von PiS vertretene Innenpolitik. PiS betreibt einen grundlegenden Umbau des politischen Systems, in dessen Mittelpunkt die Aushebelung rechtsstaatlicher Prinzipien steht. Diese sind jedoch für die EU und insbesondere die Eurozone und ihren institutionell stärker integrierten harten Kern von fundamentaler Bedeutung. Infolgedessen hat ein Land, das dabei ist, die Gewaltenteilung aufzuheben, keine Chance, in die Eurozone aufgenommen zu werden.

 

Es war eine strategische Änderung der polnischen Europapolitik durch die PiS-Regierung, das Verhältnis zu Deutschland als bis dahin wichtigstem Partner in der EU neu zu definieren. PiS lehnt es grundsätzlich hab, Berlins durch seine wirtschaftliche und politische Macht begründete Führungsrolle in Europa anzuerkennen. Das wurde zuerst 2016 in einem Grundsatzpapier von Außenminister Witold Waszczykowski deutlich, der erstmals seit 1989 nicht die Beziehungen zu Deutschland als Priorität der polnischen Europapolitik sah, sondern diejenigen zu Großbritannien. Diese Verschiebung war nicht allein deshalb bemerkenswert, weil Deutschland Polens wichtigster Außenhandelspartner ist. Zuvor hatte ein enges Verhältnis zu Deutschland als grundlegend für die polnische Europapolitik gegolten. Die Deutschlandpolitik der PiS-Regierung ist ein Resultat mehrerer Faktoren. Selbstverständlich galten weiter die althergebrachten antideutschen ideologischen Vorbehalte der Partei und eines Großteils ihrer Wählerschaft, die Deutschland gelegentlich in einem Atemzug mit Russland nennen und als Hegemonialmacht sehen, die Polen wie eine Kolonie behandle, die Geschichte verfälsche und mir ihrer liberalen Kultur die polnische nationale Identität gefährde. Seit 2015 trat die innenpolitische Instrumentalisierung der Flüchtlingsfrage hinzu, mittels derer PiS Moslems als tödliche Bedrohung für Polen heraufbeschwört, um mit einer Politik der Angst Anhänger zu mobilisieren. Der PiS-Diskurs bringt beide Faktoren darin zusammen, die deutsche politische Elite als Führung eines „linken und verdorbenen“ Europa hinzustellen, das die ethnische Homogenität Polens durch Einschleusung von Moslems zerstören wolle, um es dadurch leichter unter Kontrolle halten zu können.

 

Dass Deutschland auf Rechtsstaatlichkeit als Definiens des europäischen Projekts besteht, was durch seine historische Erblast erklärbar ist, belastet das deutsch-polnische Verhältnis zusätzlich. Die polnische Regierung dagegen hat binnen zweier Jahre die Gewaltenteilung praktisch aufgehoben, indem sie wie nie zuvor die Kontrolle der Exekutive über die Judikative erweiterte. Mit Rücksicht auf seine historische Schuldenlast gegenüber Polen vermied Deutschland es lang, die polnische Innenpolitik offen zu kritisieren. Doch die im Rahmen des acquis communautaire („gemeinschaftlichen Besitzstandes“) eng miteinander verknüpften Rechtssysteme der EU-Mitgliedstaaten und die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit für das europäische Projekt haben dazu geführt, dass die immer radikaleren Maßnahmen der polnischen Regierung auf Dauer eine Reaktion der Bundeskanzlerin und eine Verschlechterung der bilateralen Beziehungen provozieren mussten.

 

An die Spitze der Kritik an Polen hat sich jedoch Frankreich gesetzt. Warschaus Kündigung des Vertrags zum Ankauf von Caracal-Hubschraubern im Herbst 2017 und die Art, in der dies geschah, ließen die Temperatur der polnisch-französischen Beziehungen auf den Gefrierpunkt sinken. Niemals seit 1989 waren sie so schlecht wie zurzeit. Auch wenn Paris dies nicht offen zugibt, ist daher die Europolitik Polens durchaus in seinem Interesse. Durch einen Schneeballeffekt würde Polens Eintritt in die Eurozone nämlich weitere Länder aus Ostmitteleuropa wie Tschechien, Ungarn und Rumänien in die Zone bringen, was die Position Deutschlands und der skandinavischen Länder und die deutschen Pläne zur Entwicklung der Eurozone stärken würde. So ist es wohl kein Zufall, dass Paris die Kritik an der polnischen Innenpolitik mit der Reform des gemeinsamen Marktes verknüpft hat, was Warschau die Gelegenheit gibt, die EU wegen Anwendung doppelter Standards zu kritisieren.

 

Motorreparatur © istock/da-kuk

Die Europapolitik von PiS kann auf Zustimmung in der polnischen Gesellschaft setzen. Zwar befürworten die Polen unentwegt die EU-Mitgliedschaft, doch haben sie auch gute Gründe, auf der Andersartigkeit ihres Landes zu beharren. Meinungsumfragen zeigen Polen als einziges EU-Land, in dem eine große Mehrheit gegen den Beitritt zur Eurozone ist, eine sehr negative Haltung zu Moslems in der Nachbarschaft hat und zu Abtreibung und Homosexualität sehr konservative Meinungen pflegt. Skepsis gegenüber internationaler Zusammenarbeit und konservative Einstellungen zu internationalem Engagement sind in Polen mindestens so weit verbreitet wie in vielen weniger ausgeprägt proeuropäischen Ländern. Soziologische Untersuchungen weisen aus, dass die Polen die EU im Unterschied zu vielen europäischen Gesellschaften eher als Wirtschaftszone sehen. Daher richtet sich ihre Unterstützung für die EU nach den daraus zu gewinnenden ökonomischen Vorteilen: je geringer diese sind, desto weniger sind die Polen für die europäische Integration. Was die proeuropäische Haltung der Polen heute am stärksten in Frage stellt, ist die weitverbreitete Angst vor den Moslems, die nach Westeuropa kommen. Nach aktuellen Umfragen wäre mehr als die Hälfte der Polen bereit, aus der EU auszutreten und auf Zahlungen aus dem Strukturfonds zu verzichten, wenn diese daran gekoppelt wären, einige Tausend islamische Flüchtlinge aus den Lagern in Griechenland und Italien aufzunehmen, wozu das Land durch den Beschluss des Europäischen Rats über die Aufnahmequoten eigentlich verpflichtet ist.

 

Ein europäisches Liberum Veto

So verwundert es nicht, dass Polen eine sehr defensive Haltung zur EU einnimmt, im starken Kontrast zu Frankreich oder Deutschland; Polen fordert also, die Integration zurückzufahren. In dieser Hinsicht ist Polen stark isoliert. Es ist das einzige Land, das in den letzten Jahren in der Diskussion um die EU-Reform vorgeschlagen hat, die Grundlagenverträge zu ändern. Direkt nach dem Brexitbeschluss meinte Jarosław Kaczyński, die Antwort der Europäischen Union auf die Krise müsse ein tiefgreifender institutioneller Umbau sein, ausgehend von der Neuformulierung der Grundlagenverträge. Im Anschluss sprach er wiederholt von der in Arbeit befindlichen Neufassung der Verträge durch polnische Juristen, doch ist inzwischen klar, dass dies nicht den Tatsachen entsprach. Die Idee der PiS für Europa ist, die einzelnen Mitgliedstaaten wieder aufzuwerten und zu den Anfängen zurückzukehren. PiS setzt eine „Union solidarischer Staaten“ oder eine „Union souveräner Nationen“ einer möglichen Föderalisierung oder „größeren, vertieften Integration“ entgegen. Sie betont dabei die Gleichrangigkeit aller Staaten. Daher fordert Jarosław Kaczyński, im Europäischen Rat bei allen wichtigen Fragen zur Abstimmung per Akklamation zurückzukehren. Während die PiS-Regierung einerseits fundamentale Veränderungen im Aufbau der Europäischen Union sehr hoch auf die Agenda setzt, sind doch ihre konkreten Reformvorschläge ausgesprochen vage. Eine der wichtigsten ihrer Änderungskonzepte ist, die nationalen Parlamente sehr viel stärker in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Die Forderung nach einer „roten Karte“ für Gesetzesvorhaben der EU ist schon älter, aber Polen hatte sich dafür ausgesprochen, sie bereits in die Verständigung mit Großbritannien einzubeziehen, welche die Briten zum Verbleib in der EU bewegen sollte.

 

Die Europakonzeption von PiS ist eine Art „interexekutiver Demokratie“ nach dem Muster der polnischen Adelsrepublik des 16. und 17. Jahrhunderts, was Mitglieder der PiS-Regierung auch unumwunden sagen. Die „rote Karte“ würde jedem nationalen Parlament die Möglichkeit geben, Gesetzesinitiativen auf europäischer Ebene zu blockieren. Ihrem Wesen nach wäre die „rote Karte“ demnach eine Art Liberum Veto. Kein anderes Land befürwortete dieses Prinzip so entschlossen. Die PiS-Regierung machte keinen Hehl daraus, dass es ihr mehr um demokratische Legitimierung nach innen als um die Effizienz von EU-Prozeduren geht. Polen schlug auch vor, die Vollmachten des Europäischen Rats um ein Misstrauensvotum gegenüber der Kommission zu erweitern, wie es heute allein dem Europäischen Parlament zusteht. Die Mitgliedstaaten sollen gegenüber der Europäischen Kommission dadurch gestärkt werden, dass jedes Land seinen Kommissar abberufen kann. Dieses Beharren auf dem interexekutiven Prinzip ist offenbar der Überzeugung geschuldet, die Europäische Kommission sei ein Verbündeter oder geradewegs ein Werkzeug der größten EU-Länder auf Kosten der kleineren und schwächeren Länder. PiS will die Übermacht der größten Akteure dadurch beschneiden, dass in den Gemeinschaftsverträgen klar geregelt wird, welche Fragen ausschließlich in die Kompetenz der Mitgliedstaaten selbst fallen, die so weit wie möglich ausgebaut werden soll. Polen betont, wie wichtig der gemeinsame Markt als Säule der Integration und Gegengewicht gegen die weitreichenden Pläne zur politischen Integration im Rahmen der Eurozone sei.

 

Polen verwirft die Idee einer Europäischen Union der vielen Geschwindigkeiten. Die Union könne nicht von allen Ländern dasselbe Engagement für sämtliche Integrationsprojekte verlangen, vielmehr müssten die Mitgliedstaaten größeren Spielraum besitzen, selbst zu entscheiden, an welchen Vorhaben sie teilnehmen wollen. Polen widersetzt sich der Schaffung neuer Institutionen oder jeder Einschränkung der vier Freiheiten [des EU-Binnenmarkts: freier Personen‑, Waren‑, Dienstleistungs‑ und Kapitalverkehr; A.d.Ü.]. Auch strebt die PiS-Regierung an, Polen das Recht zu geben, aus politischen Vorhaben oder kooperativen Projekten auszuscheren oder solche zu blockieren, die seinen Interessen nicht entsprechen, ohne dafür sanktioniert zu werden. Diese Haltung kommt einem Europa à la carte sehr nahe. Die von Polen geforderten Veränderungen in der EU sind in sich nicht sonderlich kohärent. Denn einerseits kritisiert Warschau die mangelnde Effizienz der EU-Organe, schlägt aber andererseits prozedurale Strukturen vor, die Entscheidungsprozessen neue Hindernisse in den Weg legen würden. Warschau fordert, die Nichtteilnahme an bestimmten Politiken der EU zu erleichtern, ohne dafür auf irgendwelche Vorteile der Mitgliedschaft verzichten zu müssen. Der Verlauf der Diskussion um die Zukunft der EU zeigt, dass die polnische Regierung auf die Kompetenzen der EU-Institutionen fokussiert ist, während die meisten anderen EU-Staaten ganz andere Reformprioritäten sehen, die nicht so sehr auf die Institutionsarchitektur abzielen, sondern darauf, bestimmte Politikfelder in der EU zu korrigieren.

 

Außerhalb des Gesetzes, außerhalb der EU?

Von dem deutsch-französischen Tandem ist zu erwarten, dass es die Integration innerhalb der Eurozone beschleunigen wird. Wie diese aussehen wird, hängt stark davon ab, wie umfassend die Wirtschaftsreformen in Frankreich ausfallen werden. Diese werden umso erfolgreicher sein, desto eher Deutschlands bereit ist, gemeinsame Institutionen der Eurozone zu schaffen und diese mit größeren Finanzmitteln auszustatten. Diese Integration wird erheblichen Einfluss auch auf die Staaten außerhalb der Eurozone haben. So wird beispielsweise der gemeinsame Markt unterteilt sein in eine Mitgliedschaft erster und zweiter Klasse; die erste Klasse wird aus den Mitgliedern der Eurozone bestehen. Polen wird diese Form der Integration nicht verhindern können und immer weniger Einfluss auf Entscheidungen haben, die es selbst betreffen und die innerhalb der Eurozone fallen. Diese Machtlosigkeit, das Beharren auf nationaler Souveränität und die Aversion gegen Deutschland, die allesamt dem Beitritt zur Eurozone entgegenstehen, werden in Polen zu wachsender Frustration und zu Spannungen mit Berlin und Paris führen. Auch die fortschreitende Aufhebung der Gewaltenteilung zugunsten der Exekutive wird für zusätzlichen Konfliktstoff sorgen. PiS wird diese Politik in jedem Fall fortführen, denn sie steht auf der Parteiagenda ganz oben, und wird damit faktisch Polen aus der Rechtsgemeinschaft der EU ausschließen. Damit wird Polen auf eigenes Betreiben hin in der Nach-Brexit-EU zum Nachfolger Großbritanniens als dem am wenigsten mit dem Rest der EU integrierten Mitgliedsland. Die Schlüsselfrage ist, wie lange Polen in diese Position wird verharren können, da das Land wirtschaftlich sehr viel stärker mit der Eurozone verwoben ist, als es das Vereinigte Königreich je war.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Adam Balcer

Adam Balcer

Politologe, Programmdirektor Kolegium Europy Wschodniej (Niederschlesien), lehrt am Institut für Osteuropastudien an der Universität Warschau.

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