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Eine Nachbarschaft für Europa? Beobachtungen von der Frankfurter Buchmesse 2017

Für die deutsch-französischen Beziehungen ist das Jahr 2017 bislang nicht nur von besonderem politischen Gewicht gewesen. Auch in kultureller Hinsicht standen die beiden Nachbarstaaten in einem besonders engen kooperativen Austausch miteinander. Der Ehrengastauftritt Frankreichs bei der Frankfurter Buchmesse war im Rahmen des französischen Kulturjahrs die Krönung dieser Verbundenheit und „das wichtigste kulturelle Projekt, das Frankreich je mit seinen PartnerInnen in Deutschland durchgeführt hat“. Das sagte der Präsident des Institut Français, Bruno Foucher und er hoffte auf Frankreichs Ehrengastauftritt „im Geiste einer Erneuerung Europas“.

 

Er blieb nicht der einzige, der die nachbarschaftliche Verbindung in einem Atemzug mit dem gemeinsamen „Projekt Europa“ nannte und für dieses warb. Die Frankfurter Buchmesse zählt zu den bedeutsamsten kulturellen Großereignissen im Jahr. Neben dem Treffpunkt für Verlage, Medienunternehmer und Übersetzer wirken auch die Veranstaltungen, Diskussionen und Debatten weit in die intellektuellen Diskurse der Gesellschaften hinein. Mit seinem Gastauftritt hat Frankreich Schwerpunkte gesetzt, die überall verhandelt wurden.

 

Wer sich als Beobachter nach Frankfurt begab, konnte also nicht nur in den Genuss von französischer Literatur, Design und Ideengeschichte kommen, sondern auch Zeuge werden, wie hier die Vertreter von zwei Nachbarländern auf der kulturellen Ebene um das gemeinsame Projekt Europa warben und stritten. Doch wie solle eine „Erneuerung Europas“ aussehen? Welche (politische) Rolle sollten die zwei Nachbarländer darin einnehmen? Und welche Perspektiven stiftet dabei die Literatur?

 

Die Eröffnungsfeier bot einen guten Auftakt, um über Frankreichs und Deutschlands gegenseitige Verantwortung als Nachbarn nachzudenken. Indem der französische Staatspräsident Emmanuel Macron das Buch als die Hauptverbindung der nachbarschaftlichen Beziehungen pries, erzählte er eine jahrhundertealte deutsch-französische Beziehungsgeschichte des Buches, des kulturellen Austauschs und der gegenseitigen Befruchtung – Angefangen bei der Übersetzung von Goethes Faust durch Gérard de Nerval bis hin zum Zweiten Weltkrieg, in dem der Philosoph Paul Ricœur den deutsch-österreichischen Philosophen Edmund Husserl ins Französische übersetzte. Die Übersetzung ist tatsächlich eine der Wichtigsten Formen des Austauschs und der Übermittlung von Gedanken, Ideen, sprachlichen Bildern und Geschichten. Macron nannte sie daher treffend „die erste Form der Diplomatie“.

 

Genauso wie Macron die Rolle der Kultur im Allgemeinen und des Buches – dem Anlass entsprechend – im Speziellen für Europa

Angela Merkel und Emmanuel Macron drucken die Deklaration der Menschenrechte auf einer Replica einer Gutenberg Druckmaschine im Forum © Frankfurter Buchmesse/Marc Jacquemin

unterstrich, betonte auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel das wichtige Band der zwei großen europäischen Kulturnationen für Europa und bemerkte, dass die „république des lettres“ und das „Land der Dichter und Denker“ zusammengehörten. Auch sie machte noch einmal auf die Wichtigkeit der Solidarität zwischen Frankreich und Deutschland aufmerksam, ohne die ein vereintes Europa nicht möglich sei (nach Adenauer).

Die rhetorische Einigkeit in der Bedeutung einer freien Kultur für Europa durch Macron und Merkel schützte sie nicht vor Vorwürfen, die bereits im Vorfeld der Messe gegen sie gerichtet wurden, wonach ihre Politik eben die Entfaltung eines kulturellen Europas verhindern würde. Im Vorfeld der Eröffnungsfeier kündigte der französische Bestsellerautor Didier Eribon an, diese zu boykottieren und sich so gegen seinen eigenen Präsidenten aber auch die Europapolitik der deutschen Bundeskanzlerin zu stellen. In einem Gastbeitrag der Süddeutschen Zeitung vom 10. Oktober begründete er seine Entscheidung und warf Macron einen ökonomischen Neoliberalismus und autoritären Konservatismus vor, der die bereits Privilegierten unterstütze und gleichzeitig die Schwächeren der Gesellschaft noch schwächer mache. Als Beispiele für diese Politik nannte er den geplanten Abbau von Beamtenstellen oder auch die Streichung der Mietunterstützung von Studenten. Macron tue damit das Gegenteil von dem, was er in schönen Reden sage. Doch die Bereiche Kultur, Wirtschaft und Politik funktionieren nicht autonom voneinander, sondern hängen vielmehr miteinander zusammen, weswegen seine Politik alles bedrohe, „was zum Fundament einer europäischen Kultur gehört“. Eribon selbst bezeichnet sich als großen Europäer, aber eines kulturellen Europas.

 

Vor dem Hintergrund der Warnung Eribons, wonach derzeitige politische Entwicklungen eine Bedrohung für das kulturelle Europa sein können, scheint die Frage der Veranstalter der Podiumsdiskussion zum Thema „Kann Kultur Europa retten?“ beinahe paradox. Denn wie und warum solle man das retten, von dem man gerade zerstört würde? Aber darin gerade liegt ja die Schlüsselfrage: Gibt es nicht verschiedene Vorstellungen von dem, was wir Europa nennen? Unter diesem Wort lässt sich vieles subsumieren – in positiver wie negativer Hinsicht. Diese grundsätzliche Frage nach unserer Vorstellung von Europa betonten auch die Referenten der Diskussion und sie schoben gleich die Fragen hinterher: Wovor muss Europa eigentlich gerettet werden? Und welchen Kulturbegriff legen wir Europa überhaupt zugrunde?

 

Ulrike Guérot, Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems, plädierte für einen Kulturbegriff, nach dem Kultur die Fähigkeit der Übertragung von Erfahrung von einer Generation in die andere sei. Somit stünde eine jede Genration vor der Frage, welche Erinnerungen, Geschichten und welches Erbe sie übernehmen und welches sie weitergeben wolle. Guérot betonte die Schlagworte der Französischen Revolution als die angestrebte Grundlage für unser Zusammenleben. So wurden die drei französischen Begriffe liberté, egalité und fraternité immer wieder mit Nachdruck und Leidenschaft von ihr betont, was Dr. Andreas Görgen, den Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts, nach einigen Malen sichtlich Widerwillen ins Gesicht schrieb, nicht weil er diese Werte etwa ablehne, sondern weil er ein alltäglicheres Konzept viel lieber zu einem Symbol unserer Gesellschaft stilisieren wollte: das Freibad. Auf humorvolle Art erklärte er, dass dort die wichtigen freiheitlichen Grundlagen unserer Gesellschaft gelebt werden, die da wären: Freiheit, Gleichheit und nun ja, vielleicht sogar Brüderlichkeit. Er machte aber auch auf einen sehr viel wichtigeren Umstand aufmerksam: Europa könne nichts anderes sein als das, was wir erzählen, doch diese Erzählung könne niemals von Beamten in den Regierungsämtern gestiftet werden. Dann wäre die Erzählung Propaganda. Was aber kann die Aufgabe der Politik hinsichtlich der Kultur sein? Sie sollte die Grundlagen schaffen, dass Kultur frei bleibt und in einem „Freiraum der Ästhetik“ das ausdrücken kann, was sie will.

 

Podiumsdiskussion: „Kann Kultur Europa retten?“

Der gemeinsame Konsens, dass Europa von den Europäern nur durch das Erzählen selbst kreiert wird, schwang bei allen Teilnehmern der Diskussion mit. Liegt diese Verantwortung nun alleine bei der Kultur? Und wird diese nicht überfordert, wenn sie plötzlich die Lücken schließen, die Krisen überwinden und die Antworten geben soll, die die europäische Politik verursacht hat? Die Kultur könne nur ein Puzzleteil darin sein, sagte Chris Dercon, neuer Intendant der Berliner Volksbühne. In diesem komplexen europäischen Gefüge und den großen Fragen nach Verantwortung ist dies wohl eine gesunde Einschätzung, die die eigenen Möglichkeiten der Einflussnahme nicht überhöht und dennoch seine Verantwortung annimmt. Bezugnehmend auf die Eröffnungsfeier und Reden Macrons und Merkels bemerkte Dercon jedoch kritisch, dass ein deutsch-französisches Europa für ihn wenig attraktiv sei, wenn es nicht genügend Platz für die Perspektiven aller Mitgliedsstaaten gäbe.

 

Als Frankreich 1989 zuletzt Gast bei der Messe in Frankfurt war, war Europa noch geteilt. Heute leben wir in einem geeinten und in einem größeren Europa. Das Potenzial einer starken Nachbarschaft mit Frankreich und der Stärke, die hieraus auch für Europa entstehen kann, sollten wir nicht unterschätzen, aber die Perspektiven auf Europa sollten hier nicht haltmachen. Die Buchmesse festigt den Austausch und fördert die Übersetzung im Rahmen des Ehrengastprogramms. Diese zugewandte Nachbarschaft ist ein wertvolles Band und doch nur eine Perspektive im europäischen Gebäude. Vergessen sollten wir dabei die anderen Nachbarn und Mitglieder und ihre Perspektiven nicht.

 

Ob die Kultur nun mit der „Rettung“ Europas überfordert ist? Ganz bestimmt ist sie das, wenn man von ihr erwartet, dass sie das ausfüllt, was die Politik versäumt hat. Diese Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen Künstler frei sind zu sprechen, das ist Aufgabe der Regierungen. Der Austausch unter den Menschen und eine gemeinsame Kultur ist die Voraussetzung für ein geeintes Europa. Doch brauchen wir weitere Möglichkeiten, eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit zu bilden. Im Rahmen der Messe werden Bücher und somit Geschichten ausgezeichnet, Narrative diskutiert, aufgebaut und durch die Verlage, Veranstaltungen und Gespräche entsteht ein Abbild der pluralistischen Meinungen unserer Gesellschaft. Dass diese Debatten leidenschaftlich geführt werden, ist Ausdruck für eine lebendige Gesprächskultur, doch dass sie sich an dem Besucherwochenende leider auch in körperlicher Gewalt ausdrückte wie im Rahmen der Handgreiflichkeiten rund um den Antaios-Stand aber auch gegen Achim Bergmann, Verleger des Trikont Musikverlages aus München, der sich verbal kritisch gegen die Aussagen bei einer Lesung am Stand der Wochenzeitung „Junge Freiheit“ äußerte und von einem Messebesucher ins Gesicht geschlagen wurde, ist mehr als empörend. Es zeigt, dass die Kraft des Buches und des geschriebenen Wortes eine enorme Wirkung hat, aus der sich auch eine politische Kraft entfalten kann.

Ricarda Fait

Ricarda Fait

Ricarda Fait ist Slawistin, Übersetzerin und Doktorandin an der Europa-Universität Viadrina.

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