Gesundheitsschutz in Polen: ein Hort des Liberalismus oder der Pfeiler eines modernen Staates?
Bismarcks vor über 130 Jahren eingeführten Reformen waren der Anfang für den Aufbauprozess der Gesundheitsvorsorge als einer allgemein zugänglichen Leistung. Finanziert wurde sie aus Mitteln, die durch Pflichtbeiträge gesammelt wurden. Das löste viele Probleme, generierte aber natürlich auch neue. Inzwischen ist das Gesundheitssystem längst keine individuelle Angelegenheit mehr und hat sich zu einem der zentralen Punkte der öffentlichen Debatte entwickelt.
Hat die Gesundheit an der Weichsel nicht den Rang einer Priorität erhalten?
In Polen ist der Gesundheitsschutz heute ein heißes gesellschaftliches und politisches Thema. Nach Protesten der Rettungssanitäter begann vor kurzem ein Rotationshungerstreik von jungen Assistenzärzten. Als es nun schien, dass der Protest auf natürliche Weise erlöschen und die ganze Sache mit einem von nebulösen Versprechen gekrönten Kompromiss enden würde, wurde plötzlich das Regierungsfernsehen aktiv. Seine Hauptthese war die Beteuerung, dass die Ärzte heute schon sehr gut verdienen würden, was ihnen erlaube, oft in exotische Länder zu reisen. Zur Veranschaulichung dieser These sollten Fotos einer der Protestteilnehmerinnen aus einem Social-Media-Portal dienen. Das Pech der Propaganda bestand darin, dass diese Fotos tatsächlich in exotischen Ländern aufgenommen worden waren, jedoch… während eines Freiwilligendienstes, unter anderem im Irak. Pikanterie verleiht der ganzen Angelegenheit noch die Tatsache, dass das nationale Fernsehen selbst zuvor eine Reportage über diese Mission gesendet hatte, die übrigens illustrieren sollte, dass Polen zwar keine Migranten aufnehme, jedoch den Einwohnern in vom Krieg, Hunger und fehlender medizinischer Versorgung betroffenen Länder helfe.
Die oben beschriebene Aktion, die die Anführer des Protestes diskreditieren sollte, sowie weitere gegen sie gerichtete Angriffe in den Medien, riefen eine Welle von Solidaritätsaktionen hervor – und aus einem Protestherd entstanden mehrere. Heute haben die Nachwuchsärzte ihren Hungerstreik beendet. Sie beginnen aber mit einer anderen Aktion: Nun kündigen sie die sogenannte Opt-out-Klauseln, die dem Krankenhaus erlauben, einen Arzt (mit dessen Einverständnis) für mehr als 48 Arbeitsstunden in der Woche anzustellen. Das bedeutet (bei einer sehr geringen Anzahl von Ärzten), dass die Last der Gewährleistung einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung in Krankenhäusern und die Nothilfe nachts sowie an arbeitsfreien Tagen im hohen Maße gerade auf der jungen Ärztegeneration liegt. Das Problem ist natürlich größer und betrifft nicht nur die angekündigte Aktion. Begründet ist dabei die Befürchtung, dass alles nicht nur mit einigen Monaten Chaos endet, sondern dass Polen eine weitere Welle der Arbeitsmigration nicht nur von Ärzten, sondern auch von Krankenschwestern, Rettungssanitätern, Physiotherapeuten und Vertretern anderer medizinischer Berufe erwartet.
Die Ursache für diesen Tatbestand wird klar, wenn man sich die Zahlen anschaut. Das Grundeinkommen eines jungen Arztes beträgt etwa 500 Euro. Und obwohl er, wenn er über 60 Stunden in der Woche arbeitet, auf das Niveau von fast zweitausend Euro kommen kann, so bleiben sowohl sein Einkommen als auch seine Arbeitsbedingungen weit hinter den Angeboten zurück, die Krankenhäuser und Ärztezentren unter anderem aus Deutschland, Schweden oder England an die jungen Mediziner richten. So ist die Zahl der Ärzte in Polen bereits heute sehr klein (sie beträgt etwa 2,3 Ärzte pro 1000 Einwohner, in Deutschland sind es dagegen 4,1). In einer noch schwierigeren Situation befinden sich die Vertreter anderer medizinischen Berufe. Gegenstand von Spannungen sind die unerfüllten Wahlversprechen aus dem letzten Wahlkampf. Zwar hat die Regierung einen Gesetzentwurf angenommen, der einen Anstieg der öffentlichen Ausgaben für den Gesundheitsschutz von derzeit 4,7% auf 6% annimmt, aber… erst nach der nächsten Wahl. Hinzu kommt, dass das Gesetz keine Systemlösungen einführt und nicht präzisiert, wie diese erhöhten Ausgaben finanziert werden sollten.
Wird es gelingen, den deutschen Gesundheitszug auf holländische Gleise umzuleiten?
Vergleichbare Zahlen schwanken in der Bundesrepublik Deutschland um die 10% des Bruttoinlandsprodukts. Der Unterschied in der Frage, ob der Gesundheitsschutz eine Priorität darstellt, wird ersichtlich, wenn wir den Anteil der Gesundheitsschutzausgaben im Verhältnis zur Gesamtheit aller öffentlichen Ausgaben setzen, die in Polen knapp 11% und in Deutschland fast 22% betragen.
Natürlich stellen die angeführten Statistiken nur einen Teil des Bildes dar, weil verhältnismäßig große Unterschiede bei der Organisation der Finanzierung von Leistungen und deren Erteilung hinzukommen. Während sich Polen zurzeit mitten in der Legislaturperiode befindet, steckt die Bundesrepublik noch in den Koalitionsverhandlungen. Die Herausforderung besteht darin, dass jeder der Koalitionspartner sein eigenes Konzept für Änderungen im Gesundheitssystem hat. Während die FDP für eine größere Liberalisierung und mehr Wettbewerb zwischen den Krankenkassen nach holländischem Vorbild ist, wollen die linken Parteien eine Einschränkung oder Abschaffung der privaten Krankenversicherungen, die heute eine Alternative für Besserverdiener darstellen. Bei einem so fundamentalen Meinungsunterschied ist ein Kompromiss ziemlich wahrscheinlich, bei dem das derzeitige System mit eventuellen kleinen Korrekturen beibehalten wird. Alles deutet jedoch darauf hin, dass man auf verbindliche Entscheidungen noch warten müssen wird.

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Unterdessen geben die Einwohner Polens aufgrund der niedrigen Zugänglichkeit und mäßigen Qualität der vom Nationalen Gesundheitsfonds, der polnischen gesetzlichen Krankenversicherung, finanzierten Leistungen immer mehr Geld für private Gesundheitsleistungen aus. Der Patient zahlt, oft ohne eine andere Wahl zu haben, immer häufiger und immer mehr Geld aus eigener Tasche für seine Zahnbehandlung, seine Besuche bei Fachärzten, diagnostischen Untersuchungen und sogar für kleinere Eingriffe und Operationen.
Zugleich bleibt das Angebot privater Krankenversicherungen eine immer noch unzureichende Alternative, umso mehr, weil nicht einmal Millionäre auf die obligatorische gesetzliche Krankenversicherung verzichten dürfen. Während es in Deutschland eine Diskussion darüber gibt, ob eine Ausdifferenzierung der Ärztesätze aus privaten und gesetzlichen Versicherungen zulässig sei, wird an der Weichsel und Oder ein besserer Zugang immer häufiger mit Bargeld erkauft, was die im öffentlichen System arbeitenden Ärzte nicht selten einem offenen Interessenkonflikt aussetzt.
Die Unterschiede beim Funktionieren der Gesundheitsfürsorge beschränken sich nicht nur auf finanzielle Fragen. Während sich die Gesundheitsvorsorge am Rhein und an der Spree auf kleinere, oft Ein-Mann-Praxen von Fachärzten und Allgemeinmedizinern stützt, schreitet in Polen die Konzentration voran, wie es auch in der Volksrepublik Polen der Fall war. Trotz strittiger Investitionen bleibt die Infrastruktur das Problem, denn aufgrund der Alterung der Gesellschaften verlangt sie dringende Auflagen in beiden Ländern.
Unzureichende Ressourcen erzwingen Effizienz
Dabei sind aber trotz der niedrigen Aufwendungen die grundlegenden Richtwerte, die die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems in Polen illustrieren, relativ gut. Die Säuglingssterblichkeitsrate ist nur ein wenig höher als der europäische Durchschnitt, die durchschnittliche Lebenserwartung steigt systematisch und hat den höchsten jemals in der Geschichte notierten Wert erreicht, was natürlich fast die ganze Europäische Union betrifft. Paradoxerweise steigern die genannten Erfolge nur den Appetit und die Erwartung gegenüber einer noch effizienteren und freundlicheren sowie für alle zugänglichen Gesundheitsvorsorge.
Es ist die Demografie, Dummkopf!(?)
Ein gemeinsames Problem auf beiden Seiten der Oder bleibt die Demografie. Die Fertilitätsraten sind in beiden Ländern niedrig, was unter anderem eine systematische Erhöhung des Anteils älterer Personen an der Population bedeutet. Im Falle der Bundesrepublik werden die Bevölkerungsprobleme teilweise durch die Migrationspolitik ausgeglichen, wie auch durch ihre Anziehungskraft für die Bewohner anderer EU-Länder. Bewirkt wird dies vor allem durch höhere Einkommen, den aufnahmefähigen Arbeitsmarkt, aber auch durch die effizienten Lösungen des Sozialstaates. Im Ergebnis dessen hat sich in Deutschland die Fertilitätsrate von einem der niedrigsten Werte in Europa (ca. 1,3 Kinder pro Frau im geburtsfähigem Alter auf 1,5) erhöht: teilweise dank der Anziehung potenzieller Eltern, als auch durch bessere Lösungen für die Familienunterstützung.
In Polen hat sich diese Rate trotz des enormen, 1,2% des Bruttoinlandsprodukts überschreitenden Transfers für Kindergeld, nur wenig bewegt. Zugleich wurden viele Veränderungen im Bereich der Gesundheitsorganisation dem Druck der Ideologie und des konservativen Teiles der katholischen Kirche ausgesetzt. Zu einem der Opfer dieses Drucks wurde ausgerechnet das nationale Programm zur Unterstützung künstlicher Befruchtung, das 24.000 Elternpaaren geholfen hatte, ein Kind zu bekommen. Vielleicht hat das polnische Gesundheitsministerium gerade deshalb, um diesen Effekt auszugleichen, in eine Werbekampagne investiert, die die Polen zur Fortpflanzung zu ermuntern versucht. Nicht gerade glücklich wurden dabei als Symbol der Fruchtbarkeit Kaninchen benutzt. Das rief eine Lawine von Spott und Witzeleien hervor, doch die Leitung des Ministeriums versucht stur ihre Botschaft, deren Symbol die übrigens sympathischen und vegan lebenden Nagetiere sind, zu verteidigen.

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Der Ehrlichkeit wegen muss zugegeben werden, dass die Regierung Zugang zum sogenannten medizinischen Cannabis gesichert hat. Zwar ist man nicht mit dessen eingeschränktem Anbau in Polen einverstanden, jedoch wurde die Bestellung des Mittels, das die Symptome mancher Krankheiten lindert, aus dem Ausland ermöglicht. In Deutschland wurde der Weg zur Finanzierung von indischem Hanfpräparaten aus öffentlichen Mitteln zu einer ähnlichen Zeit eröffnet, als auch Polen das Arzneimittel legalisierte. In beiden Ländern war für die linken Milieus die Debatte über cannabisbasierte Medikamente nur ein Vorwand dazu, in der Diskussion die Frage der Legalisierung der Droge selbst anzusprechen. Bei der Gelegenheit sollte man daran erinnern, dass das getrocknete Cannabis nicht selten aus Deutschland nach Polen wandert (obwohl es in Polen auch welches aus internem, heimlichen Anbau gibt), gelangen andersherum in die Bundesrepublik in Polen synthetisierte Drogen auf Basis von Amphetamin und deren Derivaten. Leider brachte das die Ministerien beider Länder nicht dazu, bei der Bekämpfung der gemeinsamen Probleme auf einem intensiveren Niveau als dem Informationsaustausch durch die Polizei zusammenzuarbeiten.
Verblüffung hervorzurufen ist übrigens nicht nur eine polnische Spezialität. Ein ähnliches Gefühl rief der Vorschlag der Grünen hervor, dass Personen mit Behinderung Zugang zu aus öffentlichen Geldern finanzierten, entgeltlichen Sexdienstleistungen gesichert werden sollte. Wie man sieht, haben sogar reife Demokratien Probleme mit der eigenen Sexualität.
Interaktion und Koordination
Gesundheitsfürsorge ist jedoch eine zu ernsthafte Frage, um sie mehr oder weniger auf PR- Tricks zu reduzieren. In beiden Ländern laufen zwar etwas abseits, jedoch systematisch, Arbeiten an einer besseren Koordinierung der Leistungen und ihrer Qualitätserhöhung. Sie wecken weder das Interesse der Boulevardzeitungen noch des Internets oder Fernsehens und bleiben ein wenig außerhalb des Hauptstroms der Debatte. Diese organisatorischen, aber auch technologischen Innovationen übertragen sich nicht auf die Entwicklung gemeinsamer Projekte, wie das oft in anderen Bereichen der Fall ist. Während man bedenken muss, dass die Organisation öffentlicher Leistungen der Gesundheitsvorsorge außerhalb der Vertragsregulierungen der EU verbleibt, sollte man darauf aufmerksam machen, dass beide Länder, und vor allem die dort lebenden Patienten, ein wenig dabei verlieren, wenn der Austausch von Ideen, Überprüfung der Effizienz von Lösungen und tatsächliche grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Bereich Gesundheitsschutz eingeschränkt werden. Die Deutschen verlieren aufgrund ihrer Größe und der Dauerhaftigkeit der geltenden institutionellen Lösungen, die Polen vor allem aufgrund der Euroskepsis des jetzigen Kabinetts.