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Visegrád ‒ Teilung im Namen der Einheit

Entgegen den Versicherungen mancher mitteleuropäischer und insbesondere ungarischer und polnischer Politiker, erlebt das Visegrád-Quartett, eine der wichtigsten regionalen Gruppierungen innerhalb der Europäischen Union, gerade eine schwere Krise. Diese geht vor allem auf die autoritären Entwicklungen in Polen und Ungarn zurück, die diese beiden Länder von Tschechien und der Slowakei entfernen.

 

Die Konzeption einer dynamischen und durchsetzungsfähigen Visegrád-Gruppe (auch V-4 genannt) als einheitlicher Block der vier Staaten kam während der Flüchtlingskrise auf, als die vier Regierungen sich hartnäckig der Flüchtlingsumverteilung widersetzten. Besonders die Staats und Regierungschefs von Polen und Ungarn äußerten sich häufig über die V-4 als regionale Macht. Für diese Denkweise war eine Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán vom Dezember 2016 charakteristisch. Er führte damals aus: „[…] die gegenwärtige Rolle und politische Kraft unserer Region in der EU, die wechselseitige Unterstützung der Visegrád-Länder, die gemeinsamen Schritte auf dem Weg zu europäischen Reformen und solchen der Immigrationsgesetzgebung, oder auch die Wiedergeburt Mitteleuropas sind Phänomene, die diese Region von ihrer schönsten Seite zeigen. […] Gegenwärtig sind wir die wirtschaftliche und politisch stabilste Region in Europa. Mitteleuropa erlebt seine Renaissance, wird stärker und entwickelt sich dynamisch. Wir werden unseren Kritikern nicht gestatten, diese Sachlage zu verschleiern.“ Die polnisch-ungarische Zusammenarbeit wird von Warschau und Budapest als Antriebsachse dargestellt, welche die V-4 stärke. In Wahrheit hat jedoch die Innenpolitik von Polen und Ungarn zur Schwächung der V-4 geführt, weil Tschechien und die Slowakei immer mehr auf Distanz zu Budapest und Warschau gehen.

 

Zwischen Geopolitik, Kultur und Wirtschaft

Selbstverständlich wird der Zusammenhalt der Visegrád-Gruppe nicht allein durch die Innenpolitik der polnischen Regierungspartei PiS gefährdet, sondern auch durch strukturelle ökonomische und geopolitische Gegebenheiten. Die Visegrád-Gruppe besteht aus vier Staaten, von denen sich Polen am stärksten abhebt, weil seine Bevölkerung 60 Prozent der Einwohner der Gesamtregion umfasst. Polen besitzt auch die regional größte Volkswirtschaft mit wiederum annähernd 60 Prozent des Bruttosozialprodukts, bemessen an der Kaufkraft innerhalb der Visegrád-Gruppe. Mehr noch, Polen ist aus diesem Grund und wegen seiner Lage am nördlichen Rand der V-4 am schwächsten mit den übrigen drei Ländern integriert. Auch hinsichtlich seiner Nationalkultur ist Polen am schwächsten mit der V-4 verbunden, weil nur sein südlicher Teil Bestandteil der Habsburgermonarchie war, und das viel kürzer als die übrigen Visegrád-Staaten. Im Unterschied zum Rest der Gruppe hat Polen eine gemeinsame Grenze mit Russland und Belarus, das militärisch stark von Moskau abhängt, daher spielt Sicherheit für Polen eine sehr große Rolle. Eben deshalb waren Polens Verteidigungsausgaben im Jahr 2016 annähernd zweieinhalbmal größer als diejenigen der übrigen Visegrád-Staaten zusammengenommen. Basis der Visegrád-Gruppe ist die in europäischem Maßstab einmalige Verflechtung der vier Volkswirtschaften mit Deutschland innerhalb der globalen Wertschöpfungskette. Doch in politischer Hinsicht unterscheiden sich die Beziehungen der V-4-Länder zu Deutschland. Die Slowakei ist Mitglied der Eurozone und daher mit Deutschland in einem Boot. Tschechien hat in den letzten Jahren seine Beziehungen zu Berlin deutlich enger geschnürt. Orbáns Partei ist Mitglied der Europäischen Volkspartei, in der die deutsche CDU eine Schlüsselposition hat. Dagegen hat Polen unter der Regierung von „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) sein Verhältnis zu Deutschland merklich unfreundlicher werden lassen, indem es dessen Führungsrolle in Europa angegriffen hat und in der Symbiose mit der deutschen Wirtschaft eine Sackgasse der Modernisierung (Aussicht auf die Falle mittlerer Einkommen) und eine Art neokolonialen Verhältnisses sieht, das seine Souveränität einschränkt.

 

Polen-Ungarn oder Polen-Tschechien?

Das polnisch-ungarische Bündnis als Antriebsrad der Visegrád-Gruppe hat eine schwache ökonomische Grundlage. In wirtschaftlicher Hinsicht ist Ungarn in der Gruppe sehr viel weniger bedeutsam für Polen als Tschechien. In der ersten Jahreshälfte 2017 war der polnische Export nach Ungarn zweieinhalbmal geringer als nach Tschechien und ungefähr auf demselben Niveau wie der Export in die Slowakei. Der Import aus Tschechien nach Polen war doppelt so groß wie derjenige aus Ungarn. Dagegen beträgt das kaufkraftbemessene Bruttosozialprodukt Ungarns fast 80 Prozent desjenigen von Tschechien und ist mehr als anderthalbmal größer als das der Slowakei. Die Wirtschaftsachse der Visegrád-Gruppe kann nur zwischen Polen als der größten Volkswirtschaft und Tschechien als Land mit dem größten absoluten Handelsumsatz der V-4 und damit mit einer die Region integrierenden Volkswirtschaft verlaufen. Tschechien ist auch der wichtigste Handelspartner für die Slowakei. Der tschechische Anteil an der slowakischen Handelsbilanz geht auf 15 Prozent zu und liegt damit, mit Abstand hinter Deutschland, an zweiter Stelle. Andererseits ist die Slowakei mit annähernd acht Prozent der drittwichtigste Handelspartner Tschechiens, das auch mit zwölf Prozent aller Direktinvestitionen der zweitwichtigste ausländische Investor in der Slowakei ist. Auch in gesellschaftlicher Hinsicht spielt Tschechien für die Region eine integrierende Rolle; verwiesen sei hier nur auf die Bedeutung der in der Tschechischen Republik lebenden Minderheiten, den kleinen Grenzverkehr, die ausländischen Studenten und Touristen, die Verbreitung von Sprachkenntnissen und die Kultur. Umgekehrt ist Polen mit keinem anderen Land der Visegrád-Gruppe sozial und kulturell so stark verbunden wie mit Tschechien. Doch sind beide Länder gerade in nationalkultureller Hinsicht sehr verschieden. Die Polen sind eine der konservativsten und religiösesten Gesellschaften in Europa, belegt beispielsweise durch die Tatsache, dass wahrscheinlich in Kürze das ohnehin restriktive Abtreibungsgesetz nochmals verschärft wird. Die Tschechen dagen sind eine der am stärksten säkularisierten europäischen Gesellschaften; dort werden Homosexuelle bald das Adoptionsrecht erhalten. Diese kulturellen Unterschiede sind nicht unüberwindlich, solange es Gemeinsamkeiten der Interessen und politischen Systeme gibt. Jedoch ist an diesen beiden Feldern zu erkennen, dass sich Tschechien und die Slowakei auf einem anderen Weg befinden als Polen und Ungarn.

 

Integration und europäische Demokratie

Die Veränderungen im Innen von Polen und Ungarn, durch die ein hybrides System der illiberalen Demokratie mit autoritären Anteilen entsteht, haben zu der Kluft beigetragen, die sich zwischen ihnen und Tschechien sowie der Slowakei aufgetan hat. Die tschechischen und slowakischen Abgeordneten im Europaparlament stimmten mit großer Mehrheit für Vorlagen, die die Innenpolitik in Polen und Ungarn kritisieren. Im Juli 2017, als es in Polen wegen des Justizwesens zu einer politischen Krise kam, unterschrieben der Präsident des tschechischen Verfassungsgerichts, der Präsident des Obersten Gerichts, der Präsident des Obersten Verwaltungsgerichts, der Generalstaatsanwalt und der Bürgerrechtsbeauftragte eine präzedenslose Erklärung mit dem Titel „Wir können nicht schweigen“. Darin heißt es: „Bei aller Achtung vor der polnischen Souveränität können wir in der Angelegenheit der Schritte nicht schweigen, die deren Quelle selbst in Gefahr bringen, nämlich die unveräußerlichen Werte der europäischen Zivilisation, des Humanismus und der Grundrechte und –freiheiten.“ Bereits vorher hatte der tschechische Justizminister an seinen polnischen Amtskollegen ein deutliches Schreiben gerichtet, das um eine erneute Abwägung des Wortlauts der Gesetze zum Gerichtswesen bat. Auch der slowakische Gerichtsrat äußerte seine Beunruhigung und Vorbehalte gegenüber den von der polnischen Regierung durchgesetzten Änderungen im Gerichtswesen.

Die sich auftuenden Differenzen innerhalb der Visegrád-Gruppe bei den Vorschlägen für eine Reform der EU, insbesondere zur weiteren Integration der Eurozone, haben dazu geführt, dass das Königgrätzer Dreieck, bestehend aus Österreich, Tschechien und der Slowakei, wiederbelebt wurde. Gipfeltreffen in diesem Format fanden erstmals nach der Initiierung des Dreiecks Anfang 2015 im Juni 2017, dann erneut Ende August 2017 statt. An diesem zweiten Gipfel nahm der französische Präsident Emanuel Macron teil, der absichtsvoll bei seiner Reise durch Mitteleuropa Ungarn und Polen ausließ. Beim Treffen mit dem französischen Präsidenten erklärten die Staats und Regierungschefs von Österreich, Tschechien und der Slowakei, dass sie in den hauptsächlichen Gesichtspunkten bei der Beschränkung der Entsendung von Arbeitskräften mit Macron übereinstimmen. Polen und Ungarn dagegen waren in dieser Frage nicht zu einem Kompromiss bereit. Ein weiteres Mal zeigte sich die wachsende Entfernung einiger V-4-Staaten von Polen per Schulterschluss mit Österreich bei der Gelegenheit des Trimarium-Gipfels in Warschau, zu dem die Präsidenten von Tschechien und Österreich, also der beiden größten Volkswirtschaften und reichsten Länder der Region, gar nicht erst anreisten. Tschechien wurde nur durch den Vorsitzenden der Abgeordnetenkammer vertreten, Österreich durch seinen Botschafter.

Die Aussicht auf die fortschreitende Integration der Eurozone führte dazu, dass der slowakische Ministerpräsident Robert Fico im August 2017 erklärte, ihm liege einerseits sehr an der Zusammenarbeit im Rahmen der Visegrád-Gruppe, andererseits sei die Europäische Union der „Lebensraum“ der Slowakei. Er bezeichnete Deutschland und Frankreich als das Tandem, das der Zukunftsentwicklung der EU das Tempo vorgebe. Insbesondere gab er deutlich zu verstehen, es sei Grundlage seiner Politik, „an der Seite von Deutschland und Frankreich zu stehen“. Im selben Kontext ist die Erklärung des tschechischen Außenministers von Ende August 2017 zu interpretieren, sein Land werde sich darum bemühen, den Status eines Aufnahmekandidaten der Eurozone zu erhalten.

 

Dagegen schlägt Polen bei der Frage der europäischen Integration vor, diese unbedingt zu lockern, indem im Europäischen Rat in allen wichtigen Fragen die Abstimmung per Akklamation wieder eingeführt wird, einige Sachgebiete jeglicher Kontrolle der EU-Institutionen entzogen werden und im Gesetzgebungsverfahren den nationalen Parlamenten die wichtigste Rolle zufallen soll. Polen widersetzt sich gleichfalls der weiteren Integration der Eurozone parallel zu den EU-Strukturen. Ungarn nimmt einen den polnischen Vorschlägen ähnlichen Standpunkt ein.

© Mirosław Gryń

Unterschiede auf EU-Ebene

Grundlegend für die Zusammenarbeit der Visegrád-Gruppe auf EU-Ebene sollte die geschlossene Front gegen die Flüchtlingsumverteilung sein, die vom Europäischen Rat im September 2015 beschlossen wurde. Allerdings erwiesen sich die vier Länder als in dieser Frage nicht völlig einig, und diese reichte für den Zusammenhalt der Gruppe nicht aus. Die Slowakei klagte gegen die Entscheidung des Europäischen Rats vor dem Gerichtshof der Europäischen Union. Ungarn schloss sich der Klage an, und Polen unterstütze den Antrag. Der Gerichtshof verwarf den Standpunkt von Bratislava und Budapest. Während die slowakische Regierung zurückhaltend reagierte, attackierte Ungarn das Urteil scharf. Die Slowakei und Tschechien nahmen im Rahmen der Umverteilung kleine Gruppen von Flüchtlingen auf, Ungarn und Polen dagegen keinen einzigen. Tschechien zog sich aus dem Programm zurück. Infolgedessen verklagte die Europäische Kommission Tschechien, Polen und Ungarn vor dem Gerichtshof der Europäischen Union wegen Nichteinhaltung europäischen Rechts, ohne die Slowakei in die Klageschrift einzubeziehen.

 

2017 offenbarten Abstimmungen im Europäischen Rat gravierende Interessenunterschiede zwischen den Visegrád-Ländern in wichtigen Fragen. Im Februar 2017 stimmte der Rat über die Einleitung von Arbeiten zu einem gemeinsamen Standpunkt bei der Reform des EU-Systems der Emissionszertifikate für Treibhause ab. Polen war dagegen, konnte jedoch die Einleitung der Arbeiten nicht blockieren. In der Visegrád-Gruppe erhielt Polen nur von Ungarn Unterstützung. Schließlich wurde im November 2017 eine neue Direktive für den Gerichtshof der Europäischen Union verabschiedet, obwohl sich Polen und Ungarn der Stimme enthielten. Tschechien und die Slowakei stimmten jeweils dafür. Im Oktober 2017 verabschiedeten die EU-Minister im Europäischen Rat eine Verordnung zur Einrichtung einer europäischen Staatsanwaltschaft. Erneut nahmen Ungarn und Polen, im Unterschied zu Tschechien und der Slowakei, an der Initiative nicht teil. In Sachen der Arbeitnehmerentsendung stimmten im selben Monat Ungarn und Polen mit Nein, Tschechien und die Slowakei mit Ja.

 

Das Jahr 2018 wird Unterschiede zwischen den Visegrád-Ländern nicht nur bei Fragen von Gegenwart und Zukunft, sondern auch von Erinnerung und Gedächtnis zeigen. Tschechien und die Slowakei planen aufwendige gemeinsame Feiern zur Erinnerung an die Gründung der Tschechoslowakei vor einhundert Jahren. Für Ungarn dagegen ist das Ende des Ersten Weltkriegs die größte historische Niederlage und ein bleibendes Trauma. Budapest bereitet sich darauf vor, im Jahr 2020 den einhundertsten Jahrestag des Friedensvertrags von Trianon zu begehen, der dem Bestehen desm Königreichs Ungarn in seiner damaligen Form ein Ende setzte und durch den aus Oberungarn… die Slowakei wurde.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Adam Balcer

Adam Balcer

Politologe, Programmdirektor Kolegium Europy Wschodniej (Niederschlesien), lehrt am Institut für Osteuropastudien an der Universität Warschau.

Ein Gedanke zu „Visegrád ‒ Teilung im Namen der Einheit“

  1. Wenn Deutschland ein Einwanderungsland werden will bitte schön, über Polens Schicksal entscheiden alleine die Polen und ihre frei gewählten Vertreter, nicht Herr Junkers, nicht Herr Macron. Eine Einwanderungspolitik für die EU entscheidet nicht alleine Deutschland und vor allem sollte das Thema Einwanderung aus moslemischen Ländern behutsam und Schritt für Schritt mit den anderen EU Ländern erörtert und bearbeitet werden.

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