Ein Abend im September 2017, Emilia Smechowski hat gerade aus ihrem ersten und soeben erschienenen Buch „Wir Strebermigranten“ gelesen. Zur Premiere hatte sie auch uns, die Initiative Zwischen den Polen, in die Berghain-Kantine eingeladen. Ihr Buch ist eine Erzählung eines komplizierten Nachspürens in biographisch-essayistischer Form; es geht um Emotionen des „Wir“, zunächst eines gescheiterten Familien-Wir, dann eines sich neuformierenden Wir mit Weggefährten. Und es geht um den Versuch einer „De-Assimilation“. Dieser Versuch ist mehr als nur der Rede wert, er wühlt auf. Denn Emilia glaubt zutiefst nicht an die Assimilation; diese sei, und sie schildert es anhand ihrer eigenen Erfahrungen, ein Trugschluss, dabei jedoch einer, der ihr Leben über viele Jahre begleitete und prägte.
Auch während der Lesung geht es zunächst um das Wir, das Emilia mit ihrer Familie teilte. Die Familie, das waren damals sie, ihre Schwester und ihre Eltern. Sie verließen 1988 Wejherowo bei Danzig, als Emilia knapp fünf Jahre alt war. In Berlin kam noch eine weitere kleine Schwester zur Welt. Bereits mit sechzehn Jahren brach Emilia aus dieser familiären Struktur aus da sie den Lebensstil der Eltern als zu materialistisch, streng und kühl kritisierte. Es fing damit an, dass die Kinder draußen kein Polnisch sprechen sollten – es galt das „Pst“ der Eltern. Emilia verstummte und sprach bald kein Polnisch mehr. Der Wohlstand, in dem sich die Smechowksis schon nach wenigen Jahren eingerichtet hatten – Emilias Eltern sind Ärzte, die sehr bald prestigeträchtige Arbeitsbedingungen erlangten – konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Familie ihren Zusammenhalt verlor, dass sie mit Wejherowo anscheinend eine Unbefangenheit, ihr Lachen, zurückgelassen hatte.
Es ist nicht möglich, dieses Buch als einen Einblick in intime Details einer persönlichen Geschichte abzutun. Schon deshalb nicht, weil die Schilderung des Lachens, das im Familiennachnamen enthalten ist (śmiech bedeutet Lachen), das „etwas irre klang und typisch war für uns“, nur auf den ersten Blick leicht unterhaltsam ist. Es berührt, wenn Emilia davon erzählt, wie es wohl ein letztes Mal möglich war, ausgerechnet auf den Bänken einer polnisch-katholischenKirche in Berlin durch geschwisterliches Kichern die Eltern, die gerade noch ernst blickten, zum Mitlachen anzustecken.
Dieses verlorene Lachen lässt tieferreichende Fragen stellen: Wie kam es dazu, dass dieser Familie Leichtigkeit und Ironie abhandenkamen, dass sich Nischen und Zwischenräume auflösten, dass Reflexion und Rückblick keinen Raum fanden? Um was für einen Schmerz, welche Traurigkeit handelt es sich? Emilia lässt nicht nur an dem abrupten Abbruch und dem Ausdünnen von Beziehungen teilhaben – sie konnte sich vor dem Weggang nicht von ihrem Kindheitsfreund verabschieden und die Bindung zu ihrer Oma, die für sie die wichtigste familiäre Bezugsperson überhaupt war, ging beinahe verloren – sie lässt auch an ihrer Entfremdung von ihren Eltern teilhaben. So sind es miteinander verflochtene Orientierungspfade hin zu einer schwer zu erbringenden Antwort, die Emilia beschreitet und beschreibt.
Sie schildert die Leidenschaft ihres Vaters für Musik und seine Weise, sie auszuleben. Dazu gehört es, einen Elektronikmarkt aufzusuchen, sobald er eine fremde Stadt erkundet. Emilia, selbst musikbegeistert, bringt in knappen Sätzen die Distanz auf den Punkt: „Mir macht das Kopfschmerzen. Mein Vater liebt es.“
An einer anderen Stelle beschreibt sie, wie ihre Mutter in einem kleinen Ferienbungalow beim Besuch der Großeltern in Polen allen Alltagstress beim Fußballgucken hinter sich lässt und ihrer ausgelassenen Fanbegeisterung freien Lauf. Es ist ein Spiel, bei dem Deutschland im Halbfinale auf dem Weg zur Weltmeisterschaft steht. Die Mutter bemerkt nicht, dass ihre lautstarke Für-Deutschland-Euphorie, die sich in einem „Jetzt werden wir Weltmeister!“ entlädt, Emilia unangenehm ist; es ist auch der Oma unangenehm, was allein Emilia zu merken scheint; ihr ist es peinlich: „Ich fühlte nicht, was meine Mutter zu fühlen schien. Das war nicht meine Mannschaft.“
Emilia betont, dass ihr früher Auszug aus dem Elternhaus „nicht allein die Rebellion eines Teenagers“ war: „Es war auch eine Absage an die Art, wie wir in Deutschland lebten.“ Es falle ihr kein besseres Wort für den Lebensstil ein, den sie ab 1988 führten, als nämlich „Strebermigranten“. So unmöglich es ist, ein Rumoren, das nicht polnisch und nicht deutsch ist, und doch irgendwie mit Polen und Deutschland zu tun hat, aus der Familiengeschichte herauszufiltern, so nachvollziehbar, so lesbar wird es in Emilias Erzählweise. „Wir Strebermigranten“ spornt zum weitergehenden Nachforschen und Diskutieren ein, gerade auch weil Emilia uneindeutig belässt, woher der Hang ihrer Eltern zum übertriebenen Leistungsstreben zuvorderst herrührt. Hatten sie diesen Hang aus dem sozialistischen Polen, von dem sie sich abwendeten, „importiert“? War er bereits stark in den Charaktereigenschaften angelegt und erfuhr durch die Migration nur einen Verstärker? Wurde er maßgeblich durch die Verheißungen der westdeutschen Konsumgesellschaft genährt oder stärker noch durch die bundesrepublikanische Bevorzugungs- und Vorschusspolitik gegenüber Aussiedlern?
Geht es überhaupt so zentral um die Eltern oder nicht vielmehr um Emilias eigenes Leistungsstreben, das nun der Motor dafür ist, ihre eigene Biographie sichtbar zu machen und sie in Diskurse um Migration und Integration einzuspeisen versucht?
Diese letztere Frage nach ihrer eigenen Strebsamkeit muss Emilia bei der Prämiere und auch bei weiteren Lesungen beantworten – und klar: In ihrer Auseinandersetzung mit dem Wir weist Emilia das Strebertum nicht alleinig ihren Eltern zu. Sie könne ihren Eltern die Scham und den Glauben an die perfekte Anpassung nicht vorwerfen, denn sie wisse nicht, wie sie sich selbst in deren Situation in den 1980er Jahren vor dem Mauerfall verhalten hätte. Zudem bliebe sie bei aller eingenommenen Distanz zu ihren Eltern deren Kind; sie sei keineswegs frei von strebsamen Bemühungen, mit denen sie immer wieder hadere.
„Wir Strebermigranten“ ist ein Wagnis, weil die These des „Strebermigranten-Wir“ zum Assoziieren verleitet. Von der Initiative Zwischen den Polen hören sechs Frauen in etwa Emilias Alter, darunter auch ich, aufmerksam zu und jede hebt einen anderen Aspekt hervor, der auf unser vages „Wir“ verweist (nichts lässt uns eindeutig auf ein „Wir“ festschreiben außer einigen biographischen Überschneidungen und unseres gelegentlichen Radebrechens, natürlich in unterschiedlichen Ausprägungen und Färbungen, auf Polnisch – was uns letztlich die Wir-Frage mit Humor begegnen lässt, dem wahrscheinlich besten Garanten für stabile Freundschaften. Kurz gesagt: Ich habe die Vagheit unseres „Wir“ sehr zu schätzen gelernt).
Vier von uns sechs sind wie Emilia per „Aussiedlerticket“ in den 1980er Jahren nach Deutschland gekommen, andere in unserer Initiative sind über gut zwei Jahrzehnte lang Ausländer gewesen, erhielten damals Asyl, wuchsen zunächst in der DDR auf oder waren Kinder, ob in West- oder Ostdeutschland geboren, „gemischter“ Eltern. Einige von uns wollen die Tragweite der Aussiedlerticketierung vertiefen, wohl wissend, dass diese weiterhin unzureichend erforscht ist; andere setzen beim Streben der Eltern an, das auch ohne Aussiedlergrundlage stattfand, ein Streben, das sich auch ohne so hohe materielle Errungenschaften und ohne so radikale Fokussierung auf das Deutschwerden wie in Emilias Familie möglicherweise besser als ein Hadern mit dem Ankommen oder ein Ankommen-Wollen gegen einen subtilen inneren und äußeren Widerstand diskutieren ließe.
Doch selbst die Scham, die in nahezu allen unseren Lebensgeschichten eine zentrale Rolle spielt, ist ein Thema, das sich eng an die Migration schmiegt und damit an die Lebensgeschichten unserer Eltern, die damals die Entscheidung zur Migration gefällt hatten – auch wenn wir uns in unserer Kindheit und Jugend vielleicht gerade dann schämten, wenn es unsere Eltern nicht taten und umkehrt. Vielleicht besonders dann, wenn wir selbst Eltern werden, treten die Erzählungen aus der Kindheit zurück, sie machen Platz für gegenwärtige, gewandelte. Das eigene Kind auf dem Spielplatz in Berlin auf Polnisch zu rufen, obwohl die Großeltern es vermieden hätten, hat weniger mit einem späten Aufbegehren gegen eine alte Scham zu tun, als vielmehr mit der praktischen Frage, wie sich Mehrsprachigkeit gestalten lässt im Fall eines schon etwas verkümmerten Polnisch.
Emilia beschreibt am Ende ihres Buchs, wie sie rot wird, als ihre Tochter im Zug nach Wejherowo plötzlich laut deutsche und polnische Wörter mischt; dies sei „der alte Reflex“, kurz darauf geht ihr befreiend auf, dass es „kein Protokoll für Deutsch-Polnisch-Mischmasch“ gäbe. Einerseits liest sich diese Stelle im Buch wie das Schließen eines Kreises: Emilia lacht und ihr Lachen erinnert sie an das ihrer frühen Kindheit. Das Einengende, Beklemmende ihrer Migrationsgeschichte ist überwunden. Andererseits lese ich an dieser Stelle die Fortsetzung einer Migrationsgeschichte unter veränderten Vorzeichen: Früher stand Emilias Geschichte im Zeichen des Fußfassens und Etablierens ihrer Eltern, die dabei extrem auf Materialismus, Geradlinigkeit und Eindeutigkeit setzten, heute geht es um das Experiment der Mehrsprachigkeit, das Emilia offensiv-suchend, nicht festlegend, balancierend unternimmt. Es sträubte sich etwas in ihr dagegen, dass das Familienpolnisch mit ihrer Generation zu enden drohte; mir erscheint sie gerade auch deshalb als ‚neue’ Strebermigrantin.
Es ist, als würden wir eine Art Migrationsentscheidung für uns selbst fällen, anders als damals unsere Eltern: Wir wechseln nicht den Ort, aber wir arbeiten an unserer Haltung gegenüber den Orten, zu denen wir ‚gehören’, wir bleiben mobil. Wir gestalten unsere Freiheit, wir streben nach ihr, und benennen die Hürden, die wir dabei wahrnehmen, darunter auch unsere eigenen Verstockungen und Unsicherheiten. Wenn so viele Facetten der eigenen Geschichte über Jahre nicht offen gelegt wurden, sich nie ein Resonanzraum für die Emotionen fand, die uns begleiteten, folgt der Schritt in die Öffentlichkeit einer logischen Konsequenz. So hat die ZEIT-Journalistin Alice Bota im Buch „Wir neuen Deutschen“ darüber erzählt, welche Emotionen es bei ihr auslöste, das Polnische „stillzulegen“, weil es „nicht so viel wert war wie das Deutsche“. Es sei Wut, die sie motiviere, sich mitzuteilen.
Die Schriftstellerin Alexandra Tobor schreibt in ihrem Artikel „Made in Poland“ wie sie nach der Veröffentlichung ihres ersten Romans gelernt und verinnerlicht habe, dass es „keinen Markt für die Geschichten polnischer Migranten“ gäbe, wie riskant und unbeliebt es sei, diese Geschichten zu erzählen, wie sehr Verlage und Marketing-Abteilungen davon abrieten. Sie träume davon, sich nicht mehr dafür rechtfertigen zu müssen, Bücher über ihren Migrationshintergrund zu schreiben. Polen seien in Deutschland „keine Marke“, es herrschen Stereotype und Proletarisierungen vor, was es schwierig mache, sich aus der eigenen Einsamkeit heraus mitzuteilen. Sie thematisiert dabei ihre gefühlte Nähe zu anderen Migranten, eine Nähe, die auch Alice und Emilia stark machen. Alexandra beneidete als Teenager „die sichtbaren Anderen“, sie wollte „eine Schwarze sein, eine Jüdin, ein Mädchen mit Kopftuch“, sie sehnte sich nach dieser „ganz normaler Neugier“, von der sie weiß, dass „die sichtbaren Anderen“ sie häufig als übergriffig empfinden. Damit wird deutlich, welcher Balanceakt es ist, sich nicht beschämt zurück zu ziehen und doch das Wort zu ergreifen, die eigene Andersartigkeit auszuloten und zu beschreiben; zu ihr zu stehen, und durchaus auch und gerade bei skeptischen bis ablehnenden Reaktionen, darauf zu bestehen, dass es sie gibt.
Emilia thematisiert ihre gefühlte Nähe zu anderen Migranten, wenn sie von Kollegen erzählt, die ihre Migrationserfahrung auch in der dritten Generation, ob als inhaltliches Thema oder als allgemeine Inspiration, mit Selbstbewusstsein und Verve in ihre journalistische Arbeit miteinfließen lassen. Wieso hatte sie einen solchen Weg für sich selbst über so eine lange Zeit nicht gesehen? Und sie beschreibt, wie sie es sich nicht verkneifen konnte, bei einem Interview mit syrischen Flüchtlingen auszusprechen, dass sie in eben diesem Aufnahmelager in Berlin-Marienfelde einst auch gelebt hatte. Sie bereut es sofort, es ist wieder eine reflexartige Scham. Sie muss sich fragen, was sie sich da anmaßt – sie, die „Luxusmigrantin“. Emilias Blick auf die Migranten, denen sie begegnet, zeigt, wie das Thema der Migration von Statusfragen durchzogen und differenziert ist und – das finde ich an dieser Stelle wichtig – er öffnet die Augen dafür, dass wir uns auf der Schwelle zu einer postmigrantischen Gesellschaft befinden.
Laut der Migrationsforscherin Naika Foroutan zeichnet die postmigrantische Gesellschaft aus, dass das alte Verständnis der einseitigen Integration in Teilbereiche der Gesellschaft (soziale und sprachliche, strukturell-ökonomische, politische) abgelöst wird von einem Verständnis der beidseitigen Integration. Entsprechend dieser Vorstellung, die theoretisch schon lange bekannt ist, vereinbaren die bereits Anwesenden zusammen mit den Neuhinzugekommen, was sich wandeln und wie entwickeln solle. Integration betrifft dann immer die Gesellschaft insgesamt. Laut Foroutan zeichnet sich das postmigrantische gegenwärtig am deutlichsten in „neuen Allianzen“ ab, in denen migrantische communities und Verbände auf Augenhöhe mit nicht-migrantischen zusammenarbeiten, womit die hierarchisierende Aufteilung in migrantisch und nicht-migrantisch obsolet werde.
Mit Emilias Familiengeschichte steht die Frage im Raum, welche Integration gesellschaftlich gewünscht sei. Das Streben ihrer Eltern nach Wohlstand und Anpassung war – besonders anscheinend für Polen, für die politisch günstige Bedingungen herrschten und die sich als Aussiedler registrieren konnten –in Emilias Worten wie ein „wahr gewordene Traum der CSU“. Es ließ blind werden für jede nicht-materielle Bereicherung. Doch keine noch so perfektionierte Integration in vielen gesellschaftlichen Teilbereichen, auch das macht Emilias Erzählung deutlich, ersetzt ein Gefühl des Ankommens.
Ihre Erfahrungen mit „Wir-Gefühlen“ haben wenig mit bedrohlichen Käfigen gemeinsam, denen man nicht entfliehen kann. Vielmehr sind Flucht oder Abbruch realisierbar, es folgt schmerzlicher Verlust, dann geht es wieder um Bereicherung, Zugehörigkeit, Regeneration, Reibung, Resonanz und Inspiration. Diese Erfahrungen lassen grundsätzlicher über die Bedeutung von Wir-Gefühlen nachdenken.
Die Frage eines postmigrantischen Wir beschäftigt mich, während ich der Lesung und dem Gespräch zwischen Emilia und der Moderatorin lausche. Ich frage mich, wie weit ich Emilias „Strebermigranten-Wir“ folge und mich darin wiederfinden kann. Schafft es dieses Wir, nicht zu separieren, Migranten von Nicht-Migranten, Strebermigranten von anderen Migranten, sondern Menschen näher zu bringen, Integrationspolitiken kritisch zu reflektieren? Dieser Gedankenfluss stockt, als Emilia auf dem Podium äußert, dass die Frage nach ihrem Polnisch- und Deutschsein, wie viel prozentig sie das eine und das andere sei, ihre „persönliche Hass-Frage“ sei, mit der sie viel zu häufig konfrontiert werde. „Keine Sorge, diese Frage werde ich nicht stellen“, erwidert die Moderatorin, doch prompt geht es in ihrer nächsten Frage um die „Anteile, die in polnischen Stereotypen besonders aufleuchten und stimmen würden“. In diesem Moment droht die Veranstaltung aus meiner Sicht zu kippen; ist die Orientierung an Anteilen, Stereotypen, vermeintlich unterhaltsamen Karikaturisierungen des Migrantischen notwendig? Sie scheint mir nicht hilfreich, nicht wegweisend zu sein. Emilia scheint sich Mühe zu geben, nicht aufzuseufzen, der Frage nicht gänzlich auszuweichen. Ja, sie habe in ihrem Buch einige Witze und Stereotypen aufgegriffen, aber jetzt falle ihr lediglich das Stereotyp ein, als „polnische Frau“ stets „ordentlich und gut gekleidet“ sein zu müssen. Sie schaut dabei auf sich herunter, sie trägt stilvolle Mode in schwarz-weiß. Ihr falle ansonsten nur das Stereotyp des Ordentlich-Sein auf, das wohl für Polen und Deutsche gelte.
Mit Emilias Antwort und vor allem auch der Diskussion im Publikum atme ich auf. Es geht nicht um Stereotypisierungen und Separationen. Das suggerierte Wir ist zu vage, zu uneindeutig, es zwingt kein Miteinander auf, auch wenn es dieses ‚en route’ schätzt; es sucht die Freiheit der individuellen Selbstentfaltung.
Deshalb sitze ich einige Tage später, im Oktober 2017, in der Buchhandlung buchbund zu einer weiteren Lesung und freue mich über Nina Müllers einleitenden Satz: Es gehe in Emilias Buch um eine Familiengeschichte; Energie und Tiefgang ließen sie an den kanadischen Filmemacher Xavier Dolan denken. Wunderbare Assoziation, denke ich, die zu allererst den Fokus auf Migration und Deutschland und Polen herausnimmt und sich damit einem postmigrantischem Wwir öffnet. Zum Schluss stellt sie eine Frage, die ihre siebenjährige Tochter beschäftigte, nachdem sie Emilias Geschichte erfahren hatte, nämlich wann Emilia zum ersten Mal wieder angefangen habe, polnisch zu sprechen. Es sei in Rom gewesen, berichtet Emilia, man habe in ihrem Italienisch heraushören können, dass ihre Muttersprache Polnisch gewesen sei. Diese Überraschung während eines Aufenthaltes in einem anderen Land – ich halte sie für recht typisch – sagt durchaus auch einiges über die deutsch-polnischen Beziehungen und den Stand des Polnischen in Deutschland aus.
Zur Lesung sind wieder einige Frauen von Zwischen den Polen sowie weitere ‚Migranten der zweiten Generation’ gekommen. Es melden sich ihre Eltern zu Wort, Menschen aus Polen sowie anderen Orten der Welt, Menschen die am Thema interessiert sind, einige wissenschaftlich, beruflich, andere aus rein persönlichen Gründen. Einige sind fest in der Berliner deutsch-polnischen Szene verankert, viele, so wie Emilia am Anfang ihrer Recherche zu ihrem Buch, gar nicht.