Der Staat und die Geschichtspolitik in Frankreich seit 1945
Die jüngste geschichtspolitische und -juristische Initiative der PiS-Regierung bezüglich der Wahrung des guten Rufs Polens im Ausland, die Anfang Februar 2018 dazu führte, dass von nun an sowohl die Verwendung des fehlerhaften und unglücklichen – wenn auch meistens nur als geografische Zuordnung gedachten – Ausdrucks „polnische Konzentrationslager“ als auch die Zuschreibung von nationalsozialistischen Verbrechen an die polnische Nation systematisch geahndet und bestraft werden sollen, schlägt international immer noch hohe Wogen – nicht nur in Israel und in den Vereinigten Staaten. In Frankreich äußerten sich mehr als hundert WissenschaftlerInnen in einem offenen Brief mit Sorge zu diesem politischen Schritt, der trotz polnischer Beteuerungen, die akademische und künstlerische Freiheit bleibe nach wie vor gesichert, aufgrund verschiedener Deutungsmöglichkeiten durchaus ein Instrument geschaffen hat, das unliebsame Historiker mundtot machen könnte. Auch die französische Regierung nahm zur polnischen Gesetzesänderung Stellung; am deutlichsten verurteilte sie wohl Außenminister Jean-Yves Le Drian, der die Absicht der polnischen Regierung schlicht als „unangebracht“ und „verwerflich“ bezeichnete. Besonders PiS-nahe Medien und nationalistische Internetportale reagierten gerade auf diese Kritik aus Frankreich mitunter überempfindlich: Die Franzosen seien, so hieß es oft, die letzten, die sich zur Mitverantwortung anderer Völker für den Holocaust äußern dürften, denn schließlich hätten sie doch die Kollaboration des Vichy-Regimes mit Hitler auf dem Gewissen. „Vichy“ als endgültig disqualifizierendes Kapitel der französischen Geschichte? Eine solche Reaktion zeugt allerdings vor allem von Unkenntnis in Bezug auf den zwar langwierigen, doch erfolgreichen Erinnerungsprozess und den Wandel in Frankreichs Gedenkkultur seit 1945. Dies veranlasste die französische Botschaft in Warschau am 16. Februar 2018 sogar zu einem öffentlichen Kommuniqué, in dem der hohe Stellenwert der Aufarbeitung schwieriger Erfahrungen der eigenen Geschichte für Frankreich betont wurde.
Den Ausgangspunkt für die französische Geschichtspolitik der Nachkriegszeit in Rückblick auf Frankreichs Rolle im Zweiten Weltkrieg lieferte am 25. August 1944, nachdem Paris von französischen Truppen mit Hilfe der aufständischen Pariser von deutscher Besatzung befreit worden war, die berühmte Rede von General Charles de Gaulle vor dem Rathaus der Hauptstadt. Als talentierter Redner und scharfsinniger Politiker verklärte der Anführer der Résistance jenen historischen Augenblick kollektiver Euphorie zum Symbol der wiedererlangten Ehre Frankreichs und schuf in nur wenigen prägnanten Worten ganz bewusst den bestimmt stärksten Gründungsmythos des befreiten Frankreichs: Ganz Frankreich hätte gekämpft, um schließlich zu siegen; die Kollaboration blieb unerwähnt. Diese Klitterung der Realität hatte allerdings gute taktische Gründe: Einerseits sollten besonders exponierte Persönlichkeiten und politische Akteure des Vichy-Regimes bestraft werden, andererseits wollte de Gaulle die vielerorts ohnehin schon durch – mitunter bürgerkriegsähnliche – Kämpfe zerrissene französische Gesellschaft nicht zusätzlich teilen. Der politische Mythos des „kämpfenden Frankreichs“ (la France combattante), von Historikern wie Henry Rousso kritisch als „Resistenzialismus“ bezeichnet, sollte als tragendes Narrativ die Franzosen als nationale Gemeinschaft zunächst wieder zusammenschmieden. Dafür wurde jedoch die französische Verantwortung, ja die Mitschuld am Holocaust ausgeblendet und verdrängt. Zwar wurden tatsächliche – und manchmal auch bloß vermeintliche – Kollaborateure teilweise verurteilt, Frankreich aber blieb als Staat und als Nation offiziell unangetastet.
Dieser langfristig unhaltbare erinnerungskulturelle Zustand dauerte immerhin bis in die 1970er Jahre. Dreißig Jahre Wirtschaftswachstum zum einen, aber auch der schmerzhafte Prozess der Dekolonisierung zum anderen drängten das Gedenken an das dunkle Kapitel „Vichy“ vorläufig ins geschichtspolitische Abseits und schufen sogar um dieses Thema ein Tabu, das erstmals nicht von einem Historiker, sondern von einem Regisseur, Marcel Ophüls, mit dem Dokumentarfilm „Das Haus nebenan – Chronik einer französischen Stadt im Krieg“ (1969) gebrochen wurde. Bezeichnenderweise durfte der Film, der das lokale Ausmaß der französischen Kollaboration am Beispiel der Stadt Clermont-Ferrand veranschaulichte, erst Anfang der 1980er Jahre im Lande ausgestrahlt werden. Dass dies auf den Wahlsieg des Sozialisten François Mitterrand in den Präsidentschaftswahlen 1981 zurückzuführen war, bedeutete jedoch nicht, dass dadurch der Nachkriegsmythos aufgegeben wurde. Trotz langjähriger politischer Gegnerschaft zwischen Mitterrand und de Gaulle blieb der so genannte Resistenzialismus als dominierendes Narrativ erhalten. Konsequent rüttelten zuerst Historiker aus dem Ausland an seinem Sockel, in den 1970er und frühen 1980er Jahren vor allem der Amerikaner Robert Paxton und der Kanadier Michael Marrus. Im französischen Diskurs erwies sich besonders Henry Roussos Studie „Le Syndrome de Vichy“ (1987) als bahnbrechend. Eine ausschlaggebende Rolle spielten außerdem Serge und Beate Klarsfeld, die unermüdlich die Rechte der Nachfahren deportierter französischer Juden verteidigten und nach untergetauchten (Mit-)Tätern des Holocaust fahndeten.
Die historiografische Aufarbeitung der Last französischer gesellschaftlicher und staatlicher Kollaboration mit den Nazis bei der Durchführung der „Endlösung“ wirkte sich nicht gleich auf die offizielle Position Frankreichs aus. Mitterrand – während des Zweiten Weltkriegs zunächst dem Vichy-Regime nahe, bevor er sich für den Widerstand entschied – legte als Präsident jedes Jahr einen Kranz am Grab von Marschall Philippe Pétain nieder, der lange Zeit ausschließlich als Held des Ersten Weltkriegs geehrt wurde. Zwar wurde 1993 ein Gedenktag für die Opfer rassistischer und antisemitischer Verfolgungen des Vichy-Regimes geschaffen (16. Juli, in Erinnerung an die 1942 von der französischen Polizei durchgeführte Razzia des Wintervelodroms, in der mehr als 13.000 französische Juden festgenommen wurden, von denen nur knapp hundert die anschließende deutsche Deportation überlebten), doch erst Mitterrands Amtsnachfolger Jacques Chirac bekannte sich 1995 zur Schuld des französischen Staates. Damit nahm Frankreich erstmals offiziell die Mitschuld an der Ermordung rund 76.000 französischer Juden auf sich. Ein weiterer wichtiger geschichtspolitischer Meilenstein wurde zehn Jahre später mit der Eröffnung der Pariser Shoah-Gedenkstätte samt Museum und Forschungseinrichtung (am Ort eines bereits seit 1957 bestehenden Denkmals) gesetzt. Ein anderer wichtiger Gedenkort wurde schließlich im September 2012 von Präsident François Hollande im ehemaligen Sammellager Drancy, nördlich von Paris, eingeweiht. Mittlerweile ist es für französische Staatsoberhäupter auch selbstverständlich geworden, an den Gedenkfeiern des 16. Juli (zwei Tage nach dem Nationalfeiertag) teilzunehmen, wie es zuletzt Emmanuel Macrons Auftritt bestätigt hat, den er auch nützte, um diejenigen zu ehren, die sich im Krieg für den Schutz französischer Juden eingesetzt hatten.
Die französische Erinnerungskultur setzt sich seit etwa zwanzig Jahren verstärkt auch mit dem Gedenken an die Schattenseiten des Kolonialismus auseinander, was besonders bezüglich der immer noch schmerzhaften Erinnerungen an den Algerienkrieg (1954-1962) für rege öffentliche Debatten sorgt. Auch hier gilt jedoch der vom französischen Botschafter in Warschau, Pierre Lévy, in der schon erwähnten Stellungnahme zur polnischen Gesetzesänderung angeführte Grundsatz: „Die Kraft und die Größe dieser oder jener Nation, sowie ihr Selbstbewusstsein werden an ihrer Fähigkeit gemessen, sich sowohl in die glorreichen als auch in die beschämenden Kapitel ihrer Geschichte zu vertiefen.“