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Operation Weltmeisterschaft

Die Russen erwarten die Fußballweltmeisterschaft in ihrem Land mit wachsender Vorfreude, doch es ist nicht derselbe Enthusiasmus wie vor den olympischen Winterspielen in Sotschi. Die eher bescheidenen Chancen der russischen Nationalmannschaft und der Kater nach den Dopingskandalen legen sich wie ein Schatten auf die WM. Nur vier Prozent der Russen glauben, dass ihre Auswahl mit der goldenen Nike nach Hause gehen wird. Dennoch wird ein großes Turnier stattfinden.

 

Die Nationalmannschaft in Ungnade

So mancher russische Fußballfan würde am liebsten seine Mannschaft und die Funktionäre gleich dazu in einem Eimer Wassers ersäufen. Und die Fußballprofis hätten das auch mit ihrem miserablen Spiel, ihren Exzessen, Skandalen und ihrer Faulheit glatt verdient. Einen nicht unerheblichen Anteil am schlechten Ruf der Spieler haben ihre ehelichen und nichtehelichen Partnerinnen, die sich wie Prinzessinnen benehmen und die Nase ganz hoch tragen.

 

Nicht allein die Sportpresse zerbricht sich den Kopf, wie es zu einer derartigen dekadenten Fäulnis bei der russischen Fußballelite hat kommen können. Doch gibt es darauf wohl eine ganz einfache Antwort. Wie ihr kluges Sprichwort sagt, müssen sich die Russen in ihrem Leben der dreifachen Probe von „Feuer, Wasser und bronzenen Tuben“ unterziehen. Letztere ist der Lackmustest darauf, ob ein Mensch den Versuchungen von Ruhm und Vergötterung durch die Massen widerstehen kann.

 

Wie am Beispiel vieler Künstler, Sportler und selbst Wissenschaftler ersichtlich, scheitern die Russen besonders oft gerade an dieser letzten Probe. Zum Beispiel stieg Fußballstars wie Pawel Mamajewow und Aleksandr Kokorin, gehärtet im Feuer und Wasser von Training und Turnieren, ihre Popularität derart zu Kopfe, dass sie die schmachvolle Niederlage ihrer Mannschaft bei der Europameisterschaft von 2016 mit einer wilden Party im exklusivsten Nachtclub von Monaco feierten, bei der sie für alle Gäste ein Runde des teuersten Champagners schmissen.

 

Nachdem sie im Internet Videos dieses Auftritts ihrer Nationalspieler zu Gesicht bekommen hatten, setzten mehr als 800.000 aufgebrachte russische Fans ihre Unterschrift unter die Forderung, die Nationalmannschaft augenblicklich aufzulösen.

 

 

Patriotische Freude

Die Nachricht von der Zuerkennung der 21. Fußball-WM an ihr Land durch die FIFA nahmen die Russen im Dezember 2010 mit einiger Skepsis auf. Damals war noch nicht bekannt, wieviel genau ihr Land für die Olympiavorbereitungen in Sotschi ausgeben würde; erst später brachte der Oppositionspolitiker Boris Nemzow seine Landsleute damit auf die Barrikaden, dass die Spiele eine Rekordsumme von 53 Milliarden Dollar verschlungen hatten. Doch hieß es bereits allgemein, die Ausgaben würden ungeheuerlich sein, und das Leben der Einwohner des im Chaos von Großbaustellen versinkenden Sotschi würde sich in einen Albtraum verwandeln.

 

Doch die olympischen Spiele brachten nur die Ordnung in einer einzigen Stadt von 400.000 Einwohnern gründlich durcheinander. Dagegen hatten sich auf die Fußball-WM elf Städte einzustellen, darunter die Metropolen des Landes. Zudem war die Stimmung in der Gesellschaft im Jahr 2010 denkbar schlecht. In Moskau und St. Petersburg bereitete sich im Stillen die „Weiße Revolution“ gegen Putin vor, die ein Jahr darauf zum Ausbruch kam. Daher war die Freude der Russen über den Erfolg ihrer Regierung durchaus mäßig, nachdem sie für ihr Land das Recht zur Olympia-Austragung erlangt oder, was den Russen völlig klar war, käuflich erworben hatte, noch eine weitere kostspielige und für die Wirtschaft belastende Sportgroßveranstaltung bei sich abzuhalten. Damals hatten nur vierzig Prozent der Russen eine positive Meinung zur Fußball-WM im eigenen Land. Das sollte sich später jedoch allmählich ändern. Nachdem die Spiele in Sotschi ein voller Erfolg gewesen waren und der Dopingskandal noch nicht ans Licht gekommen war, freuten sich bereits 58 Prozent der Russen auf die WM. Heute sind es bereits fast vier Fünftel aller Russen.

 

Diese Stimmung hat jedoch nichts mit dem Sport an sich zu tun. Nur wenige setzen darauf, dass ihrer Mannschaft der Heimvorteil eine solche Blamage wie vor zwei Jahren bei der Europameisterschaft ersparen kann. Schon sehr viel mehr hoffen darauf, die WM werde das Ansehen ihres Landes fördern, den Dopingskandal vergessen machen und den Patriotismus stärken.

 

Dabei stören sich die Russen nicht sonderlich daran, dass die Staats‑ und Regierungschefs aus dem Westen nach dem Giftanschlag auf Sergej und Julija Skripal nicht anreisen werden. Das Kremlfernsehen erklärt den Boykott elegant mit der „animalischen Russophobie“ der politischen Klasse des Westens. Wie viele Untertanen Putins glauben, sind dafür umso enger die ausländischen Fans ans Herz zu schließen, welche der warme Empfang und die Gastfreundschaft der Einheimischen schier überwältigen werden.

 

Wie Putin das gedreht hat

Russlands Präsident hat der Politik seine Regeln aufgezwungen, die er in den Jahren der Ausübung seines eigentlichen Berufes bestens zu beherrschen gelernt hat. Als Geheimdienstler begriff er, dass der geradeste Weg zum Ziel über Propaganda und Spezialoperationen führt. Diese Denkgewohnheiten kamen ihm vor elf Jahren sehr zupass, als das Internationale Olympische Komitee im sonnendurchglühten Guatemala tagte, um die Winterspiele 2014 zu vergeben. Damals war er vor Ort, und seine Leute bewirteten die Sportfunktionäre nicht allein mit eisgekühltem Vodka und Kaviar, sondern blendeten sie zudem mit einer echten Eisbahn, auf der unter der Tropensonne Eiskunstlaufmeister Jewgenij Pluschtschenko seine Pirouetten drehte. Dann gab es noch Geheimgespräche in Hinterzimmern, wo die Russen die Olympiafunktionäre nicht nur mit warmen Worten auf ihre Seite brachten.

 

Die im Vergleich zur Olympiabewerbung viel schwerere Schlacht um die Weltmeisterschaft führte der Kreml von langer Hand und wohlbedacht. Bereits im Jahr 2001, also kurz nachdem er in den Kreml eingezogen war, begann der vorausschauende Putin, den FIFA-Vorsitzenden Sepp Blatter zu bezirzen oder, um es in der Sprache der Geheimagenten zu sagen, umzudrehen. Einige Jahre darauf empfing er ihn in seiner Datscha oder doch eher in seinem Haus in Nowo-Ogarjowo bei Moskau, wo er sich von Staatsoberhäuptern oder Freunden besuchen lässt. Und als der für Schmeicheleien und opulente Geschenke keineswegs unempfängliche Herr des Weltfußballs nach Moskau kam, nannte ihn Putin in der Öffentlichkeit den „sehr verehrten Herrn Blatter, einen lieben Freund“.

 

In dem Augenblick, da die Entscheidung über die WM 2018 entweder für die Russen oder die favorisierten Briten fallen sollte, waren Freund Sepp und seine Fußballbürokraten bereits gehörig präpariert und die Kabale im vollen Gange. Die Inselbewohner bekamen einen Korb. Putin hingegen fiel nicht aus der Rolle und dankte, ohne mit der Wimper zu zucken: „Dieser Erfolg ist völlig unerwartet. Wir fühlen uns geehrt, dass wir diesen schweren und fairen Kampf gewonnen haben.“

 

Hat Russland es nicht dabei belassen, den Fußballzaren zu umwerben, sondern die Weltmeisterschaft gekauft? Das ist nicht die richtige Frage. Eher wäre zu fragen, wer von den Ausrichtern der bisherigen Weltmeisterschaften sie nicht gekauft hat?

 

 

Ein ausdrücklicher Befehl

Weltmeisterschaften verlangen dem Gastgeber eine meisterliche Vorbereitung ab. Auch diese fiel in Russland als Spezialoperation aus.

 

Zum Preis von elf, vielleicht gar fünfzehn oder mehr Milliarden Dollar musste das wenn nicht von einer Rezession, so doch von wirtschaftlicher Stagnation und Sanktionen gebeutelte Land acht die allerstrengsten Auflagen erfüllende, neue Stadien bauen und vier bereits bestehende sanieren. In kleineren Provinzstädten wie zum Beispiel Saransk oder Rostow am Don entstanden neue Flughäfen. In den Metropolen, selbst in Moskau mussten die existierenden Flughäfen erweitert werden. Ganz zu schweigen von den Hotels, Bahnhöfen, Zufahrtstraßen zu den Stadien…

 

Eine ungeheure Aufgabe, die in einigem Chaos angegangen wurde. Die Pläne für das Stadion von Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg in Ostpreußen, das am sumpfigen Ufer der Pregel entstand, wurden vielfach geändert, wobei die Zahl der Tribünenplätze reduziert wurde. Während der Bauarbeiten ging die größte beteiligte Firma pleite, das Unternehmen Mostowik (es musste Konkurs anmelden, weil der Staat seine offenen Rechnungen für die Errichtung von Olympiabauten in Sotschi bei Mostowik nicht beglich), und es war auf die Schnelle ein neues Bauunternehmen zu finden. Trotz all dieser Schwierigkeiten wird es Russland schaffen und seine Gäste angemessen empfangen. Wie hat das Land das fertiggebracht?

 

Wladimir Milow, früher einmal Energieminister, später Oppositionspolitiker, der gemeinsam mit Nemzow über die Korruption in Putins Russland berichtete, antwortete auf meine Frage, wie es möglich sei, dass in seinem Land trotz des Durcheinanders und der mangelnden Rechenschaftslegung durch die Politik große Unternehmungen zu einem glücklichen Ende gebracht werden könnten, mit einer kleinen Geschichte über einen russischen Fürsten:

 

Der Magnat äußerte auf seinem Landsitz den Wunsch, sein Verwalter möge bis zu seiner Wiederkehr in einem Jahr im Park einen romantischen Winkel mit Springbrunnen, einem Brücklein und einer Laube einrichten. Als er zurückkam, war nichts davon geschehen. Außer sich vor Wut schlug er dem Verwalter mit der Gerte ins Gesicht und beschimpfte ihn wegen der Missachtung seiner Anordnung. Aber als er am nächsten Tag durch den Park spazierte, sah er das fertige Brücklein und die Laube, und auch der Springbrunnen war in Betrieb. Erstaunt rief er den Untergebenen zu sich und fragte, wieso er ein Jahr lang nichts getan, aber über Nacht alles vollbracht habe. „Weil mir vorher der hohe Herr keinen ausdrücklichen Befehl gegeben hat“, erklärte der Bedienstete.

 

In Putins Russland versteht man es, ausdrückliche Befehle zu geben und den Richtigen anzuweisen, kopfzustehen, um den Befehl auch auszuführen, weil man ihm nämlich sonst den Kopf abreißt. Übrigens verfügt ein jeder autokratischer Staat über sehr wirkungsvolle Mittel, die Leute zum Spuren zu bringen.

 

 

Ein Risiko

Für die Weltmeisterschaft mobilisiert Moskau seine zahlreichen Geheimdienste und uniformierten Kräfte. Den Gästen wird totale Sicherheit versprochen. Doch kann auch Moskau keine hundertprozentige Garantie dafür geben. Schließlich findet eine Fußballweltmeisterschaft nicht wie die olympischen Winterspiele an einem einzigen Ort statt.

 

Vor vier Jahren führte der Kreml erst einmal „Säuberungen“ durch, nämlich eine Pazifizierung der radikalen Bewohner des Nordkaukasus. Daraufhin wurde Sotschi unter den Schutz von drei Elitedivisionen gestellt, von Marineeinheiten sowie von über die Stadt verteilten, tausenden Geheimagenten. Die Regierung überwachte das Internet und die Mobiltelefone sehr sorgfältig und erfolgreich. Kein Mäuslein mit terroristischen Plänen im Kopf konnte da noch durchschlüpfen. Das war alles zu bewerkstelligen, weil es nur darum ging, Menschen an einem überschaubaren Ort zu schützen.

 

Die Fußball-WM dagegen bedeutet nicht nur elf große Städte, an denen die Spiele stattfinden. Das sind auch tausende Kilometer Eisenbahnstrecken, auf denen unablässig die Fanzüge unterwegs sein werden. Und nicht wie in Sotschi ein einziger, sondern fünfzehn während der WM überlastete Flughäfen. Das alles lässt sich nicht so dicht abschirmen wie die Winterspiele in Sotschi. Zugleich ist Russland in zwei bewaffnete Konflikte verwickelt und hat es immer noch mit einem terroristischen Untergrund im eigenen Land zu tun.

 

Das pazifizierte Fußball-Sondereinsatzkommando

Die Besucher der WM brauchen sich dagegen keinerlei Sorgen wegen aggressiver russischer Fans zu machen, die mit ihren Krawallen bei den Europameisterschaften in Polen und der Ukraine von 2012 und vier Jahre darauf in Frankreich Angst und Schrecken verbreiteten. Nachdem zweihundert Ankömmlinge aus Russland in Marseilles englische Fußballfans verprügelt hatten, machte der Präsident keinen Hehl aus seinem Stolz auf die Tapferkeit seiner Landsleute. Und der damalige Pressesprecher der Strafverfolgungsbehörde der Russischen Föderation, Wladimir Markin, machte sich über die französische Polizei lustig, die in Marseilles „200 normale Burschen“ nicht habe stoppen können. Denn diese habe beim „Schutz von Gleichheitsparaden“ verlernt, was „ein echter Mann“ sei.

 

Aber dieses „Fußball-Sondereinsatzkommando Putins“, wie die Medien die brutalen russischen Hooligans nannten, war nur für den Export gedacht, während es auf dem einheimischen Markt von der Obrigkeit strengstens untersagt ist. Seit mindestens zwei Jahren führt nämlich der Kreml noch eine weitere Spezialoperation durch, die Pazifizierung der eigenen Fußballfans. So soll vermieden werden, dass „200 normale Burschen“ das Fußballfest verderben könnten. Russlands Fanchef, der Vorsitzende der Russischen Fanvereinigung Aleksandr Schprygin, genannt „der Komantsche“, der auf den Straßen von Warschau und Marseille Berühmtheit als Schläger erlangte, hat bereits eingesessen, und sein Haus wurde durchsucht, wobei ihm sogar seine Medaille zum 90. Jubiläum des sowjetischen bzw. Föderationsgeheimdienstes WTschK-KGB-FSB abgenommen wurde. Und er, der einst sogar mit Putin persönlich bei Bier und Krebsen sprach, wird für die Zeit der Fußball-WM die Heimat verlassen, um gar nicht erst in Versuchung zu geraten.

 

Was den Deutschen umbringt

In Russland gibt es das Sprichwort: „Was dem Russen bekommt, bringt den Deutschen um“. Diese alte Volksweisheit bezieht sich selbstverständlich auf den Alkoholkonsum und darauf, wieviel ein jeder verträgt, ohne sich in Lebensgefahr zu bringen. In der Sorge, die Gäste könnten sich schon vor der WM umbringen, wird eine alte, längst abgeschaffte Einrichtung wiederbelebt – die Ausnüchterungszelle. Nachdem sie 109 Jahre bestanden hatten, war sie im Jahr 2011 von Moskau per Dekret beseitigt worden. Nur an wenigen Orten hatten die Lokalbehörden sie trotzdem irgendwie beibehalten. Jetzt sollen die Ausnüchterungszellen wiederbelebt werden, nicht etwa in Reaktion auf innere „soziokulturelle“ Erfordernisse, sondern auf die Gefahren, die von den fremden Fußballfans ausgeht, die ausgiebig, jedoch ohne entsprechende Befähigung und adäquat trainierte Widerstandsfähigkeit dem russischen Vodka zusprechen werden. Wobei sich die Gastgeber dessen völlig bewusst sind, dass die Neigung zum Gelage und die Trinkfestigkeit der Gäste aus verschiedenen Ländern unterschiedlich ausfallen, weswegen das Ausmaß der Probleme davon abhängen wird, wie man mit den Betrunkenen aus aller Welt fertig wird.

 

Der Gesundheitsminister hat die Rauschmittelexperten der Oblasts in einem Runderlass angewiesen, sich besonders sorgfältig auf „Spiele vom höchsten Schwierigkeitsgrad“ vorzubereiten. Als solche wurden eingestuft: Spiele unter Beteiligung der Mannschaften aus England, Belgien, Deutschland und natürlich ihrer Fans.

 

Die wiedererweckten Ausnüchterungszellen muss niemand fürchten. Dort führen heute nicht mehr strenge Polizisten die Aufsicht, sondern ältere Damen, wie etwa die im Ruhestand befindliche Krankenschwester Natalja Fjodorowna aus Samara, für die die Wochenzeitschrift „Ogonjok“ sehr warme Worte gefunden hat. Solche älteren russischen Damen seien normalerweise fürsorglich und verständnisvoll. Der Mensch muss trinken, das sehen sie völlig ein. Und schließlich ist ein Ausländer auch nur ein Mensch, nur dass er halt nicht zu trinken versteht, weshalb er eben besonders zu betreuen ist.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Wacław Radziwinowicz

Wacław Radziwinowicz

Literaturwissenschaftler und Journalist. In den Jahren 1997-2016 Korrespondent der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza in Russland, Weißrussland und der Ukraine.

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