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Einakter über Macht und Ohnmacht im heutigen deutsch-französischen Tandem

In seiner tiefgründigen Studie zur Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne bemerkte der Soziologe Hartmut Rosa zutreffend, die Politik hätte spätestens gegen Ende des 20. Jahrhunderts angesichts der allumfassenden Beschleunigung ihre Rolle als sozialer Schrittmacher weitgehend eingebüßt. Tatsächlich rückt im gefühlten Zeitverständnis der Erwartungshorizont immer näher; der Zeitraum für Entscheidungen und mehr noch für deren Umsetzung scheint zerdrückt und tendiert zu Null – ebenso die Geduld vieler zu Politikkonsumenten mutierter Bürger. Oft zeichnen sich politische Entscheidungsträger deshalb nur noch durch größere oder geringere Reaktionskapazität aus. Umso mehr stechen dagegen Persönlichkeiten aus der politischen Öffentlichkeit hervor, die sich trotzdem der Aufgabe stellen, das Tempo (mit) zu bestimmen und kollektiven Sinn für die Gesellschaft zu stiften, eine Leistung, die – auch das wohl ein Zeichen der Zeit – in den vergangenen Jahren entsprechend hoch geschätzt, geehrt und symbolisch belohnt wird: So genügte im Juni 2009 bereits das von US-Präsident Barack Obama skizzierte Vorhaben, ja der heraufbeschworene Wunsch nach einem ehrgeizigen, erfolgsorientierten Friedensprozess in Nahost, um das Nobelpreiskomitee dazu zu motivieren, ihn nur vier Monate später mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen.

 

© picture alliance / SvenSimon

 

Neun Jahre später mangelte es nicht an Pressekommentaren, in denen diesbezüglich gewisse Ähnlichkeiten zwischen jener Preisverleihung und der jüngsten Ehrung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron mit dem Karlspreis aufgewiesen wurden. Auch hier hätte man es mit der Anerkennung wegweisender und anspruchsvoller politischer Ankündigungen zu tun, bevor diese überhaupt realisiert werden konnten. In diesem Falle ging es um Macrons dezidiert proeuropäische Wahlkampagne und sein Projekt einer Erneuerung der Europäischen Union durch intensivierte Integration der Mitgliedstaaten, insbesondere in den Bereichen der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialpolitik. So kühn es 2017 angesichts der europaweit schlagenden populistischen Welle erschien, im Wahlkampf für die französischen Präsidentschaftswahlen Europa als Hauptanliegen darzustellen, so schwierig erwies sich allerdings nach der immerhin glänzend gewonnenen Wahl der Versuch, ein solches Programm in die Tat umzusetzen. Über die nach Athen, der Sorbonne, und noch anderen wichtigen Europareden auch in Aachen anhaltende diskursive Charmeoffensive Frankreichs hinaus veranschaulichte die Karlspreisverleihung vom 10. Mai 2018 in geballter Form die Diskrepanz zwischen der Macht des Wortes und dem Widerstand der Materie – sowohl in der Gestaltung der Europapolitik im Allgemeinen als auch besonders auf der Ebene der deutsch-französischen Beziehungen.

 

 

Kaum überspitzt lässt sich feststellen, dass dieses Hochamt des europäischen Gedankens – im Zeitraffer und in Miniatur – in etwa so schwunglos wie das erste Jahr deutsch-französischer Zusammenarbeit seit Macrons Amtsantritt als neues Staatsoberhaupt Frankreichs verlief. Aus Paris kamen neue Impulse, ambitionierte Pläne, ja eine umfassende Vision für Europa mit entsprechenden bi- und multilateralen Projekten zu deren Umsetzung; in Berlin aber hielt sich abgesehen von der sichtbaren Erleichterung unmittelbar nach Macrons Sieg gegen die Rechtsextreme der Enthusiasmus sehr in Grenzen. Das hatte zumindest bis Anfang Februar 2018 teilweise gute Gründe: In den ersten Monaten bis zum Herbst 2017 verlangten zunächst die nahenden Bundestagswahlen von Bundeskanzlerin Merkel eine gewisse Zurückhaltung, denn als alteingesessene Partei konnte es sich die CDU nicht leisten, sich wie Macrons gerade erst gegründete ‚Republik in Bewegung!’ (La République En Marche) mit stark integrationistischen europapolitischen Themen zu profilieren und zu exponieren. Nach dem knappen Sieg vom 24. September begann die Ungewissheit der Koalitionsverhandlungen zur Schaffung der neuen Bundesregierung – ein Prozess, dessen schwer errungener Kompromiss lange Monate auf sich warten ließ. Auch dieser Zeitraum eignete sich kaum dazu, auf Frankreichs Angebote einzugehen, hinderte doch der Druck der Verhandlungspartner, vor allem der CSU und der FDP, die politisch immerhin geschwächte Kanzlerin dazu, über das business as usual hinaus außen- und europapolitische Initiative zu zeigen. Allerdings änderten weder die Unterzeichnung des Koalitionsvertrags am 7. Februar noch Merkels vierter Amtsantritt Mitte März diesen Status quo.

 

 

In Aachen wurde allem Lob auf Macron zum Trotz eher der Eindruck bestätigt, dass es um den sogenannten deutsch-französischen „Motor“ schon besser gestanden habe. Auffallend war insbesondere das Ringen um die Aufrechterhaltung des gemeinsamen europäischen Narratives, in dem jedoch die ersten Risse bereits unübersehbar geworden sind. Macrons Ziel mag es sein, ein „Europa, das schützt“ zu schaffen, seine Methoden und Pläne rütteln doch am bisherigen Modus Vivendi innerhalb der EU; wo Frankreich einen großen Wandel einläutet, pocht Deutschland weiterhin gebetsmühlenartig auf Stabilität – in einer Art „Fetischismus“, den der französische Präsident als solchen am denkwürdigen Tag der Preisverleihung sogar unverblümt kritisiert hat. Es frappiert dabei auch die latente Langlebigkeit gegenseitiger Perzeptionen von der geradezu stereotypischen Rollenverteilung selbst nach Jahrzehnten enger deutsch-französischer Zusammenarbeit: Die tüchtige deutsche Ameise sträubt sich davor, von der verschwenderischen französischen Grille übervorteilt zu werden. Könnte es denn sein, dass Peter Sloterdijk mit seiner erstmals vor zehn Jahren vorgetragenen, irritierenden Theorie der Nachkriegszeiten tatsächlich den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, als er den deutsch-französischen Versöhnungsprozess bilderstürmerisch als „wohltuende Entflechtung“, ja sogar als „heilsame Entfremdung“ zwischen beiden Nationen bezeichnete und die so erreichte Freundschaft – für so manchen engagierten Akteur nahezu profanierend – als „Ende einer fatalen Überbeziehung“ und „endlich erreichte Beziehungslosigkeit“ umzudeuten wagte?

 

 

Jedenfalls hinterlässt die jüngste Zeremonie im Krönungssaal des Aachener Rathauses das dumpfe Gefühl, dass die beiden Gründungsstaaten des großen europäischen Integrationswerkes in letzter Zeit des Öfteren herzlich aneinander vorbeireden. Fünfundfünfzig Jahre nach der sehr wohl epochemachenden Unterzeichnung des Élysée-Vertrags scheint dessen Gründungsmythos zu versanden, das bewährte Credo der deutsch-französischen Zusammenarbeit droht, in eine Diskursschleife zu geraten. Macron steht bestimmt richtig, wenn er sich weigert, auf die links- und rechtsextremen Stimmen im eigenen Lande zu hören, die zu einem Konfrontationskurs gegen Deutschland aufrufen. Befremdlich ist dagegen die deutsche Position, ein weiteres Beispiel der schon oft als German Angst zusammengefassten Mischung von historisch vererbter, doch kaum mehr zeitgemäßer bundesrepublikanischer Vorsicht, Zurückhaltung und Zaghaftigkeit in der Gestaltung der eigenen Außenpolitik, über die selbst Merkels „Wir schaffen das“ in Sachen Migrationspolitik nicht hinwegzutäuschen vermag. Auch ihrer jüngsten Bereitschaft, auf Macrons Projekt einer EU-Interventionstruppe einzugehen, sollte man momentan noch mit gemäßigtem Optimismus begegnen.

 

 

Im November 2011 hatte der damalige polnische Außenminister Radosław Sikorski für Aufsehen gesorgt, als er sich dazu bekannte, dass er deutsche Macht weniger als deutsche Untätigkeit in Europa fürchtete. Diese ist wohl das Letzte, was das deutsch-französische Verhältnis brauchen kann, und die Herausforderungen, vor denen die EU heute noch steht, verlangen vielleicht weniger Freundschaftsbekundungen, dafür aber mehr Engagement – gerade auch angesichts der zunehmenden, nicht nur handelspolitischen Spannungen im euroatlantischen Verhältnis. Wenn jedoch Paris auf europapolitische Beschleunigung setzt, während Berlin gleichzeitig das Bremspedal durchdrückt, hilft bald auch keine Motormetapher mehr.

Pierre-Frédéric Weber

Pierre-Frédéric Weber

Dr. habil. Pierre-Frédéric Weber ist Historiker und Politikwissenschaftler und lehrt als Dozent an der Universität zu Szczecin (Polen). In seinem jüngsten Buch befasst er sich mit dem Phänomen der Angst vor Deutschland in Europa seit 1945 ("Timor Teutonorum", Schöningh, Paderborn 2015).

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