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Die deutsch-polnischen Beziehungen 1918–1939

In der Zwischenkriegszeit gelang es Polen und Deutschland nicht, gutnachbarliche Beziehungen aufzubauen. Zuviel trennte beide Länder voneinander, und die politische Lage in Europa nach dem Ersten Weltkrieg ließ sie zumeist in antagonistischen Positionen verharren. Den Ausschlag dafür gab nicht zuletzt die unterschiedliche Auslegung der Bestimmungen des Versailler Friedensvertrags. Zwar akzeptierte Deutschland die Entscheidungen über den Grenzverlauf, hielt aber dennoch seine neue Ostgrenze für revisionsbedürftig. Die deutsche politische Führung verunglimpfte Polen als „Saisonstaat“ und versuchte beispielsweise mit einem Zollkrieg, seine Entwicklungsmöglichkeiten zu beschneiden; auch schwächte Berlin die Bestimmungen des Versailler Vertrags durch spätere Sondervereinbarungen ab, so durch den Vertrag von Locarno.

 

© Zygmnut Januszewski

Auch die Minderheiten bildeten einen Streitpunkt. Die Germanisierungs‑ und Diskriminierungspolitik der Teilungszeit war den Polen noch frisch im Gedächtnis. Trotz der Kriegsniederlage verfügte der westliche Nachbar immer noch über ein enormes Wirtschaftspotential, entwickelte Institutionen und eine erfahrene Diplomatie; Deutschland erwies sich als ernste Bedrohung für die Unabhängigkeit des armen und sich mühselig aus den Trümmern erhebenden Polen. Nach der Machtergreifung durch die Nazis 1933 traten gewissen Veränderungen ein, doch handelte es sich dabei nur um den Anschein eines Tauwetters in den bilateralen Beziehungen, dessen Zweck es war, Polen für die Umsetzung der deutschen Aggressionspläne zu instrumentalisieren. Ende 1938 verschlechterte sich das deutsch-polnische Verhältnis erneut.

 

 

Der Erste Weltkrieg und seine Folgen

 Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs stürzte die bestehende politische Ordnung Europas ins Chaos. Die Polen sahen darin die Chance, mehr als einhundert Jahre nach den Teilungen die Abwesenheit ihres Landes auf der europäischen Landkarte zu beenden und die Unabhängigkeit zurückzugewinnen. Polnische Soldaten wurden in die Armeen aller drei Teilungsmächte eingezogen, standen sich daher an der Front häufig gegenüber. Die unübersichtliche politische Lage ließ Hoffnungen aufkommen, die Situation für die eigenen Zwecke nutzen zu können. Verschiedene politische Gruppierungen suchten bei den Regierungen der kriegführenden Mächte nach Unterstützung für ein unabhängiges Polen; die Chancen dafür wuchsen, je mehr sich der Krieg in die Länge zog und die Mächte an den Rand ihrer Kapazitäten brachte. Das wilhelminische Deutschland machte eine vergebliche Anstrengung, die Polen doch noch auf die eigene Seite zu ziehen, in dem am 5. November 1916 per Dekret des deutschen und des österreichischen Kaisers ein von den Mittelmächten kontrollierter polnischer Rumpfstaat aus dem russischen Teilungsgebiet gebildet wurde; das allein konnte die Polen jedoch nicht mehr zufriedenstellen. Die Lasten der deutschen Besatzungsherrschaft waren in dem besetzten Gebiet für die gesamte Gesellschaft spürbar, auch in den Territorien östlich des Bugs. Flächendeckende Abholzung von Wäldern, Requirierung von Lebensmitteln und Rohstoffen sowie Besatzungsterror offenbarten die wahren Absichten Berlins und verstärkten die Abneigung gegen die Besatzungsmacht. Die Ausrufung des Königreichs Polens durch die Mittelmächte führte entgegen den Absichten jedoch zur Internationalisierung der polnischen Frage, die zuvor als innere Angelegenheit der Teilungsmächte behandelt worden war. Dadurch eröffneten sich allmählich neue Optionen, um für die polnische Unabhängigkeit zu werben, insbesondere nachdem der russische Kaiser durch die Februarrevolution 1917 gestürzt worden war. Mitte 1917 wurde schließlich die sogenannte deutsche Option von den Akteuren der polnischen Nationalbewegung endgültig zurückgewiesen. Die Niederlage der Mittelmächte und die Revolutionen in Deutschland und Österreich-Ungarn vom November 1918 erleichterten den Polen die Restitution ihres Staates.

 

Die Grundlagen der polnischen Staatlichkeit

 

Fritz Gottfried Kirchbach (1888–1942), Plakat “Bei Deutschland dauernder Wohlstand” © Wikimedia

Die Staatsbildung Polens und die Festlegung seiner Grenzen dauerten bis 1921. Polen war nicht in der Lage, seine Grenzen aus der Zeit vor den Teilungen wiederherzustellen. Die Delimitation der neuen Grenzen wurde nicht allein auf diplomatischem Wege erreicht, sondern auch in verbissen geführten bewaffneten Auseinandersetzungen. Das galt ebenso für die polnische Westgrenze. Ende Dezember 1918 brach der polnische Aufstand in Großpolen (im vormaligen Großherzogtum Posen) aus. In den Jahren 1919, 1920 und 1921 wurde heftig um das oberschlesische Industrierevier gekämpft; über dessen Zugehörigkeit sollte zwar ein von der Entente überwachtes Plebiszit entscheiden, doch entschieden letztlich die Gewehre über den Grenzverlauf. Die polnisch-deutschen Kämpfe, besonders die Schlacht um den St. Annaberg, wurden für Polen wie Deutsche zu einem wichtigen Erinnerungsort. Die Auseinandersetzung war nicht nur politischer Natur, sondern eine Form von nationaler Rivalität, die tiefe Gräben zog und nicht mehr verschwinden sollte. Die Abtrennung weiterer Regionen – zu den genannten kam noch das fortan in Deutschland „polnischer Korridor“ genannte Pomerellen hinzu (die vormalige Provinz Westpreußen, aber ohne Danzig, das Freie Stadt wurde) – war für die Deutschen die Umsetzung von durch nichts gerechtfertigten Ansprüchen Polens, eine Ungerechtigkeit und Demütigung Deutschlands. Vielen galten diese Vorgänge als Lehrstück dafür, dass die Grenzen der Nationalstaaten in diesem Teil Europas nur mit Gewalt gezogen werden konnten und einen großen Ballast an Problemen verursachten, der das wechselseitige Verhältnis in den kommenden Jahrzehnten belasten sollte.

 

 

 

Deutschlands „erlittenes Unrecht“

 Dass die Konferenz von Versailles die polnischen Gebietserwerbungen bestätigte, war einer der Gründe, aus denen die meisten Deutschen den Friedensvertrag ablehnten. So entstand die Legende der brennenden und blutenden deutschen Ostgrenze, und jede der aufeinanderfolgenden deutschen Regierungen setzte die Beseitigung des „polnischen Korridors“ auf ihre Agenda, was einen eigentümlichen revisionistischen Konsens der Weimarer Republik darstellte, eine überparteiliche Grundlage ihrer Außenpolitik. Polen wurde außerdem wahrgenommen als Kreatur und Erfüllungsgehilfe Frankreichs, nur dazu da, Deutschland im Interesse des westlichen Nachbarn zu schwächen. Die deutsche Minderheit, die im polnischen Staat verblieb, sollte in Zukunft im Mittelpunkt der Konflikte zwischen beiden Ländern stehen.

 

Wie der Historiker Heinrich August Winkler festhielt, war für die überwältigende Mehrheit der Deutschen der Versailler Vertrag ein Ausdruck von Siegerwillkür. Dabei sei ganz aus dem deutschen Kurzzeitgedächtnis gestrichen wurden, welche Forderungen Deutschland im Friedensdiktat von Brest-Litovsk vom März 1918 an Russland gestellt hatte. Wer sich im Jahr 1919 erdreistet hätte, inmitten der scharfen innenpolitischen Auseinandersetzungen um den Friedensvertrag an das an Polen begangene schwere Unrecht durch die Teilungen und die preußisch-deutsche Politik zu erinnern, wäre nach Winklers Auffassung des nationalen Verrats bezichtigt worden.

 

Die zwanziger Jahre

Die geopolitische und sozioökonomische Lage Polens war äußerst schwierig. Infolge der Grenzkriege hatte sich Warschau mit fast allen Nachbarländern überworfen; Ausnahmen waren nur Rumänien und Lettland. Die stärkste Bedrohung ging von Deutschland und der UdSSR aus, auch wenn theoretisch das bilaterale Verhältnis jeweils durch einen Friedensvertrag geregelt war. Die Befürchtung, Berlin und Moskau könnten sich miteinander verbünden, wurde rasch zu einer realen Gefahr. Denn bereits 1922 schlossen sie die Vereinbarung von Rapallo.

 

Die deutsch-polnischen Beziehungen waren mithin um 1930 von offener Feindseligkeit geprägt. In Berlin hegte man das Gefühl, ungerecht behandelt und gedemütigt worden zu sein. Polen als „Saisonstaat“ zu etikettieren, zeigt die Verachtung und mangelnde Akzeptanz für das Nachbarland. Auch das alte Stereotyp von der „polnischen Wirtschaft“ wurde ausgegraben und potenziert, zumal diese angeblich verantwortlich für den Niedergang der von Warschau übernommenen „deutschen“ Gebiete war.

 

Im September 1922 schrieb General Hans von Seeckt, die Existenz Polens sei unerträglich und unvereinbar mit den Lebensinteressen Deutschlands. Es müsse und werde verschwinden, und zwar unter der Einwirkung Russlands und mit deutscher Unterstützung. Denn Polens Existenz sei für Russland noch schwerer erträglich als für Deutschland, Russland könne sich daher nicht damit abfinden. Mit Polen werde eine der tragenden Säulen der Versailler Ordnung fallen und damit auch die Dominanz Frankreichs enden. Die Wiederherstellung einer langen deutsch-russischen Grenze sei Voraussetzung für eine beiderseitige Erstarkung. Die wechselseitige Verständigung müsse daher den Zweck haben, für beide Länder die Grenzen von 1914 wiederherzustellen.

 

Das Abkommen über den Minderheitenschutz, der sogenannte Kleine Versailler Vertrag, das die Entente-Mächte Polen im Juni 1919 aufzwangen, betrachtete Warschau als ungerecht, weil es Polen einseitig verpflichte, und lehnte es daher weitgehend ab. In der Folgezeit sollte es immer wieder zu Zwistigkeiten zwischen Berlin und Warschau in Fragen der Minderheitenrechte in beiden Ländern kommen, die bis vor das Schiedsgericht des Völkerbunds gelangten, vor dem Staaten im Namen von konationalen Minderheiten (nicht die Minderheiten selbst) Klage einreichen konnten.

 

Trotz Polens schwieriger Lage Anfang der 1920er Jahre ging die deutsche Rechnung nicht auf, das Land würde rasch zerfallen. Nach 1926 trat eine Phase der vergleichsweisen wirtschaftlichen und politischen Stabilisierung Polens ein, doch hatte das keinen positiven Einfluss auf die deutsch-polnischen Beziehungen. Dem standen politische ebenso wie ökonomische Faktoren entgegen. In den ausgehenden zwanziger Jahren verstärkte Berlin seine Wirtschaftsblockade und seinen Zollkrieg gegen Warschau. Im Streben nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit baute Polen unterdessen einen modernen Seehafen in Gdynia/ Gdingen, der die Rolle eines „polnischen Fensters zur Welt“ anstelle der Polen nicht wohlgesonnenen Freien Stadt Danzig übernahm.

 

In den letzten Jahren der Weimarer Republik verbesserten sich die deutsch-polnischen Beziehungen nicht. Der Zollkrieg hinterließ seine Spuren, ein 1930 ausgehandeltes Handelsabkommen wurde nicht ratifiziert. Die Auseinandersetzungen wurden oft vor dem Völkerbund ausgetragen. Dabei ging es vor allem um die Lage der nationalen Minderheiten, die gemäß den Bestimmungen des Versailler Abkommens in Polen immer noch vom Völkerbund überwacht wurde, sowie um das Verhältnis Polens zur Freien Stadt Danzig.

 

Die Danziger Stadtregierung und die meisten Einwohner akzeptierten den Status ihrer Stadt nicht und sahen sie als Bestandteil des Deutschen Reiches. Man versuchte, Polen seine Befugnisse innerhalb der Freien Stadt zu nehmen, die 1920 in einer gesonderten Konvention in Paris zuerkannt worden waren; diese Politik beschwor einen Konflikt mit Warschau herauf. Trotz der allmählichen Erweiterung des Hafens von Gdynia blieb Polen auf Danzig angewiesen.

 

1931 versuchte die Regierung der Freien Stadt, polnische Kriegsschiffe am Einlaufen in den Hafen zu hindern. Zwei Jahre darauf folgte der Versuch, die national gemischte Hafenpolizei abzuschaffen. Mit Hilfe von militärischen Machtdemonstrationen gelang es den Polen, das zu verhindern, doch stießen diese entschlossenen Maßnahmen auf die Kritik der westlichen Verbündeten. Die europäische Presse sah darin einen Beleg für eine aggressive polnische Politik, die geeignet sei, einen Flächenbrand auszulösen, in den die Verbündeten hineingezogen würden. Andererseits unterschrieb Warschau 1932 einen Nichtangriffsvertrag mit Moskau, in dem sich beide Seiten verpflichteten, auf „jeglichen Gewaltakt“ gegen Gebiet und Unabhängigkeit des Nachbarn zu verzichten. Diese Vereinbarung sollte die Bedrohung durch eine deutsch-sowjetische Kooperation neutralisieren.

 

Die „Tauwetterphase“ 1933–1938

In der Machtergreifung Hitlers erkannte Warschau eine Chance, den antipolnischen Kurs Berlins auszubremsen. Auch die Befürchtungen hinsichtlich eines möglichen deutsch-sowjetischen Bündnisses ließen nach, weil die Nazis mit ihrem lautstarken Antikommunismus ein solches kategorisch auszuschließen schienen.

 

Der neue Reichskanzler brach die in Rapallo begründete Zusammenarbeit mit der UdSSR ab, aber auch mit den westlichen Mächten, die es der Weimarer Republik gestattet hatte, die Deutschland auferlegten Beschränkungen allmählich aufzuheben und die finanzielle Belastung durch die Reparationen zu mildern. Dadurch isolierte sich NS-Deutschland jedoch selbst, auch wenn diese Entscheidungen natürlich innenpolitisch die Funktion hatten, die Befreiung aus einer demütigenden Lage zu propagieren. Als Deutschland im Herbst 1933 auch noch den Völkerbund verließ, vertiefte sich seine Isolation weiter. Vorerst jedoch waren die Nazis vollauf damit beschäftigt, die Opposition zu unterdrücken und ihre Macht zu konsolidieren, so dass außenpolitische Erwägungen für sie keine Priorität besaßen.

 

Hitler äußerte sich in dieser Zeit versöhnlich und unterstützte Danzig in seinem Konflikt mit Polen nicht. Seine Expansionspläne reichten weit über die Revision der deutsch-polnischen Grenze hinaus und erforderten einige Jahre der Vorbereitung.

 

Daher erschien es Hitler angebracht, Warschau mit einem Nichtangriffsvertrag zu beruhigen. Im Nebeneffekt führte dieser zu einem Missklang im Verhältnis zwischen Polen und Frankreich, das über die wachsende Selbständigkeit der polnischen Außenpolitik nicht erfreut war. Andererseits erkannte Warschau, dass es sich in Anbetracht der Passivität des Westens gegenüber den zielgerichteten Schritten Hitlers bei einer eigenen antideutschen Politik nicht auf die Unterstützung durch die Westmächte würde verlassen können.

 

Der im Januar 1934 unterzeichnete Nichtangriffspakt sollte für zehn Jahre gelten. Die antipolnische Propaganda in Deutschland wurde zum Schweigen gebracht, ebenso enthielt sich Warschau fortan negativer Äußerungen gegen Berlin. Die Lage der polnischen Minderheit in Deutschland besserte sich, und der Zollkrieg wurde beendet.

 

Karte aus “Geschichte Polens 1914-1939” von dem Historiker Henryk Zieliński, veröffentlicht von Wydawnictwo Ossolineum © Henryk Zieliński, HistPol-odbudowaPanstwaPolskiego1918-22, CC BY-SA 2.5

Dem Anschein nach war ein echter Kurswechsel vorgenommen worden. Was von der Weimarer Republik nicht zu erreichen gewesen war, das gestand zum Teil jetzt die NS-Diktatur zu. Die Veränderungen zeigten sich in den Medien und der Kultur. Beide Länder verzichteten auf die bisherige Propaganda gegen den Nachbarn und begannen, Literatur aus dem Nachbarland herauszubringen. Auch die Schulbücher zu deutsch-polnischen Themen wurden revidiert. Enno Meyer, einer der Väter der deutsch-polnischen Schulbuchkommission der Nachkriegszeit, schrieb in seinen Erinnerungen über die Veränderungen in dieser Zeit, ein Ergebnis der gleich nach dem Nichtangriffspakt getroffenen Pressevereinbarung habe sich in den Atlanten gezeigt. Diese bildeten nicht länger die deutschen Grenzen der Vorkriegszeit in gepunkteten Linien ab, etwa wurde der „polnische Korridor“ nicht mehr vom Rest Polens auf diese Weise getrennt. Ein Verwandter Meyers aus Ostpreußen, aktives Mitglied im Bund Deutscher Osten (BDO), habe sich über diese Politik der Zugeständnisse an Polen empört.

 

Im übrigen Europa entstand der Eindruck, dies könne der Anfang einer engeren Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschland sein. Um solche Befürchtungen zu zerstreuen, verlängerte der polnische Außenminister Józef Beck bei einem Aufenthalt in Moskau im Mai 1934 die Laufzeit des polnisch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags bis Ende 1945. Die bisherigen Gesandtschaften Polens und der UdSSR wurden in Botschaften umgewandelt. Aus Gründen der diplomatischen Gleichbehandlung geschah dasselbe im Verhältnis zu Deutschland. Aus Warschauer Sicht stand dahinter das Prinzip, beide gefährlichen Nachbarn gleich zu behandeln, um nicht den Eindruck zu erwecken, sich den einem auf Kosten des anderen anzunähern. Zugleich sollte die polnische Unabhängigkeit weiter durch das Bündnis mit Frankreich und anderen westlichen Staaten flankiert werden.

 

Diese Tauwetterphase in den deutsch-polnischen Beziehungen dauerte bis Herbst 1938 an. Als Deutschland zu einer aktiven, noch maskierten (Österreich, Tschechoslowakei) Expansionspolitik überging, brachte das Warschau in eine immer schwierigere Lage. Als Polen im Fahrwasser der deutschen Besetzung des Sudetengebiets seinerseits den tschechischen Teil des Teschener Schlesien, das Olsagebiet, besetzte, eine Region mit einem hohen polnischsprachigen Bevölkerungsanteil, um die sich beide Länder seit 1918 gestritten hatten, hinterließ das in Europa keinen günstigen Eindruck. Die Annexion dieser Region begründete die polnische Regierung mit dem Schutz der dortigen Polen, aber der Augenblick dafür war denkbar schlecht gewählt. Auf der Münchner Konferenz ließen sich die Westmächte zwar auf Hitlers Gebietsforderungen gegen Prag ein, doch weckte das polnische Vorgehen den Eindruck, Warschau mache mit Berlin gemeinsame Sache, um den südlichen Nachbarn zu teilen. Warschau musste übrigens sehr bald einsehen, dass sich Hitlers nächste Gebietsforderungen gegen Polen richten und natürlich den „Korridor“ betreffen würden. Der entschiedene Widerspruch Warschaus überzeugte Berlin, dass seine bisherige Taktik der Erzwingung von Grenzvisionen im polnischen Fall nicht verfangen würde.

 

Die in der Zwischenkriegszeit angestellten Versuche, Polen in ein starkes Bündnis mit Frankreich und Großbritannien einzubeziehen, bildeten keine ausreichende Versicherung gegen Bedrohungen von außen. Auch die Versuche, noch 1939 die wechselseitigen Bündnisverpflichtungen den Herausforderungen anzupassen, schlugen fehl. Gleichwohl konnte Deutschland nicht einfach offen seine Aggression gegen Polen einleiten. Es brauchte dazu einen Bündnisgenossen. Auf wen die Wahl fiel, löste in Europa ein politisches Erdbeben aus. Die selbsterklärten politisch-ideologischen Prinzipien erwiesen sich nämlich bei dieser Gelegenheit als dehnbar, insofern es die tagespolitischen Interessen erforderten, und selbst ein notorischer Kommunistenhasser wie Hitler konnte in dieser Hinsicht sehr flexibel sein. Die Unterzeichnung des Ribbentrop-Molotow-Abkommens vom 23. August 1939 und mehr noch seines geheimen Zusatzprotokolls besiegelte Polens Schicksal.

 

Die polnische Unabhängigkeit hatte kaum zwanzig Jahre überdauert. Berlin und Moskau teilten den polnischen Staat untereinander auf und führten nach dem Überfall auf Polen im Herbst 1939 extrem repressive Besatzungsregime auf beiden Seiten der Demarkationslinie ein. Die polnische Außenpolitik, vor allem in der Zeit, in der das Sanacja-Regime (1926–1939) und Außenminister Beck dafür verantwortlich waren, ist bis heute umstritten. Hätte Polen einen anderen Kurs einschlagen können? Hätte eine Chance bestanden, Unabhängigkeit und Frieden zu retten, etwa wenn Warschau den Weg beschritten hätte, sich an einen der beiden übermächtigen Nachbarn anzunähern? Es will jedoch scheinen, dass es keinen realistischen Ausweg gab. Beide Regime planten unter entgegengesetzten ideologischen Vorzeichen den totalen Umbau Ostmitteleuropas, und Polen in seiner Mittellage zwischen den beiden Mächten war für sie weniger ein potentieller Verbündeter als ein Expansionsraum und Schauplatz ihrer erwartbaren Konfrontation.

 

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 

 

Krzysztof Ruchniewicz

Krzysztof Ruchniewicz

Historiker, Professor an der Universität Wrocław und Direktor des dortigen Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien.

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