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Tauziehen

Mit der Absage ihrer Teilnahme am Brüsseler Minigipfel zur Flüchtlingsfrage vom 24. Juni eröffnete die in Warschau regierende Equipe ein weiteres Kapitel ihrer kaum verhohlenen Konfrontation mit der Europäischen Union. Nachdem die Strategie weitgehend gescheitert ist, Ministerpräsident Morawiecki als reinen Technokraten zu präsentieren, um Europa zu bezirzen, folgt eine Rückkehr zur gewöhnlichen PiS-Strategie der offenen Abneigung und des Tauziehens.

 

Diese im Falle der Flüchtlingsfrage anzuwenden, fällt umso leichter, als das von einer schweren innenpolitischen Krise geschüttelte Deutschland, das in der PiS-Propaganda ohnehin für gewöhnlich als Buhmann herhalten muss, auf eine rasche Lösung drängt. So kann sich Morawiecki zum Führer der kleineren Länder stilisieren, die sich den Machenschaften der EU-Potentaten widersetzten; denn auch die übrigen Länder der Visegrád-Gruppe, Ungarn, die Slowakei und Tschechien, sind gegen die Umverteilung der Flüchtlinge. Nebenbei bemerkt ist es schade, dass ausgerechnet die Gegnerschaft gegen die europäische Solidarität heute das einzige ist, was diese in vieler Hinsicht chimärische und untote Gruppe wiederbeleben könnte. Das alles ist umso bedauerlicher, als doch gerade Deutschland heute besonders daran gelegen ist, dass Polen als stabiles Mitgliedsland innerhalb der EU-Strukturen verbleibt. Nicht wegen besonderer polonophiler Neigungen, sondern aus hartem wirtschaftlichem Eigeninteresse.

 

Morawieckis Aussage, wir Polen „gehören nicht zum Klub der Befürworter der Umverteilung von Flüchtlingen“, die er anlässlich des Brüsseler Minigipfels traf, fällt in diesem Kontext besonders ins Gewicht. Er mobilisiert damit eine Gruppe ostmitteleuropäischer Länder, die Flüchtlinge ablehnen. In dieser (und keiner anderen) Frage von Andrej Babiš und Viktor Orbán unterstützt, bestätigt er so die schlimmsten im Westen von Alters her umgehenden Stereotype vom „autre Europe“, dem „anderen Europa“, der dem „eigentlichen“ Europa nicht gewachsenen, periferen und autoritär regierten kleineren Länder, in denen ein egoistischer Ethnonationalismus herrscht. Es grenzt an Heuchelei, wenn zugleich in Polen oder Tschechien Empörung über die Auffassung etwa des französischen Präsidenten Emmanuel Macron laut wird, die Überweisung von EU-Mitteln könne von der Zustimmung zu einer gemeinsamen Migrationspolitik abhängig gemacht werden. Wer in den Beziehungen zu Partnern, die uns de facto mit großen Geldsummen unterstützen, in egoistischer und zynischer Weise realpolitische Spielchen betreibt, darf sich nicht wundern, es mit gleicher Münze heimgezahlt zu bekommen.

 

Die zitierte Äußerung des polnischen Ministerpräsidenten und die Maßnahmen der Warschauer Regierung besitzen übrigens im Kontext von Image und Stereotyp eine weitere Bedeutungsebene. Sie sind Symptome eines umfassenderen Problems. Anscheinend ist die gegenwärtige polnische Regierung zu dem Schluss gekommen, der Weg zu europäischer Normalität sei lang und beschwerlich und stelle überdies den Exzeptionalismus der polnischen Nation in Frage, daher sei es besser, eine völlige Kehrtwende zu vollziehen und auf der ethnonationalistischen oder antisemitischen Tonleiter zu spielen, was zwar in Europa mit Konsternation aufgenommen wird, dafür aber Beifall im eigenen Hinterhof findet. Wenn man uns schon nicht mag, nicht respektiert und für primitive Hooligans hält, dann lasst uns doch einfach Hooligans sein und andere noch mit dazunehmen, die wie wir vom Westen stigmatisiert werden. Und lasst uns mit den mächtigeren Staaten von einer Position der Stärke aus reden, denn nur diese Sprache verstehen sie. Und da sie schwere Probleme mit den Einwanderern haben, wird es uns umso leichter fallen, auf diesem Gebiet die Oberhand zu gewinnen, besonders im Bündnis mit anderen Ländern aus unserer Region. Bei diesem frommen Werk wird uns die weltweite Krise der liberalen Demokratie und die Konjunktur der „souveränen“ oder „illiberalen“ Demokratien unterschiedlicher Spielart helfen.

 

© istock/eskaylim

Letzteres könnte eine solche Strategie tatsächlich sehr viel erfolgreicher machen, als es den Anschein hat. Die gegenwärtige Warschauer Regierung hat sich das Polen der 1930er Jahre zum Vorbild genommen, insbesondere das autoritäre System, das mit der Verfassung von 1935 eingeführt wurde. Das Modell eines Landes mit einer starken Zentralregierung, deren Befugnisse und Maßnahmen stark von westlichen Standards abweichen, das wirtschaftlich quasi autark ist und misstrauisch gegenüber westlichen Unternehmen sowie ausländischem Kapital eingestellt ist. In einer im Vergleich zu den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg völlig veränderten geopolitischen Lage, in der wir an der Westgrenze ein wirtschaftlich starkes, aber demokratisches und jedwedem Militarismus abgeneigtes Deutschland zum Nachbarn haben und uns die NATO vor dem östlichen Nachbarn schützt, kann ein solches System überdauern und den faktischen Autoritarismus der Regierung und die Fremdenfeindlichkeit großer Teile der Gesellschaft fortsetzen. Das belegt der Fall Ungarns unter Viktor Orbán, der es unlängst auf der Titelseite des „Economist“ in den elitären Kreis der globalen strongmen geschafft hat, der starken Staatenlenker, welche die Demokratie untergraben. Orbán bleibt als Stützpfeiler der mitteleuropäischen Front der Einwanderungsgegner und jemand, der die Europäische Union an der Nase herumführt, ein Vorbild für Morawiecki und für den diesen de facto an der kurzen Leine haltenden Jarosław Kaczyński. Dieser ist ebenfalls seit langem ein europäischer Hooligan, der die schlimmsten Stereotype durch ihren gezielten und schamlosen Einsatz bestätigt.

 

In gewissem Sinne ist die Flüchtlingsfrage ein Geschenk des Schicksals für die autoritären Herrscher von der Weichsel. Das Polen der Zwischenkriegszeit war ein multikulturelles Land, mit einer für heutige Verhältnisse riesigen jüdischen Diaspora und ukrainischen Minderheit in den östlichen Grenzgebieten. Der Autoritarismus vor dem Krieg nährte sich vom Antisemitismus, der mehr oder minder offen von der katholischen Kirche unterstützt und vom Antiukrainismus bestärkt wurde.

 

Polen, wie es sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte, war, so ließe sich sagen, die Erfüllung des Traumes derer, die ein ethnisch homogenes Land wollten, in dem es keine ethnokulturellen Minderheiten gab. Andererseits jedoch brauchte auch der kommunistische Autoritarismus einen Feind, musste ihn also erfinden, und dabei verfiel er zuerst auf die klassische marxistische Gestalt des „Ausbeuters“ und „Klassenfeinds“, dann auf den Deutschen als ewigen Nazi, schließlich, nämlich 1968, auf die viel besser vom heimischen Boden vertraute Figur des entfremdeten und gegen „Partei und Nation“ konspirierenden Juden. Im Ergebnis emigrierten nach dem März 1968 tausende Menschen nach Deutschland, Israel oder in die Vereinigten Staaten. So erlitt Polen ein weiteres Mal nach dem Krieg empfindliche kulturelle und ökonomische Verluste.

 

Es gibt wenige Anzeichen dafür, dass die gegenwärtige Warschauer Regierung ihren Trend zum Autoritarismus beenden wird; sollte dieser mithin fortbestehen, wird Warschau in gewissen Zeitabständen, und zwar eher häufiger als seltener, ein äußeres Feindbild aufbauen müssen, einen Feind, der nur darauf lauert, uns zu überfallen, zu überfluten etc. Die Flüchtlinge sind zu diesem Zweck bestens geeignet. Sie sind aufgrund ihrer Kultur und Religion ausreichend fremd, um bei den in der katholischen Monokultur erzogenen und an solche Fremdartigkeit überhaupt nicht gewöhnten Polen reflexartig Ängste auszulösen. Ängste, die von den Regierenden sorgsam geschürt werden, wobei die Kirche in einer ziemlich ambivalenten Haltung verharrt; und diese Phobien dienen der Mobilisierung der eigenen Wählerbasis. Alles im Einklang mit dem vielfach eingeübten, vielerorts erfolgreich erprobten Mechanismus der Schaffung von Gemeinschaftsgefühl. Bereits wenige Monate nach dem Sieg von PiS bei den Parlamentswahlen vom November 2015 ließ sich in Meinungsumfragen ein gewisser Anstieg von Ressentiments gegenüber anderen Nationen vermerken. Selbst wenn dieselben Umfragen zeigen, dass sich die Polen im allgemeinen nicht vor ausländischen Zuwanderern fürchten, zeigt das von Regierung und den ihr gefügigen Medien geschaffene Klima der Feindseligkeit gegen die „Fremden“ (und gegen Europa, das sie uns aufzwingen will) Wirkung.

 

Es sieht danach aus, dass sich das so bald nicht ändern und die Front der Flüchtlingsgegner noch stärker werden wird, die sich in der Illusion halten, man könne die Flüchtlinge irgendwie aufhalten und von den eigenen Grenzen abprallen lassen. Man könne eine Art restriktives „australisches Modell“ in Stellung bringen, von dem der tschechische Ministerpräsident Andrej Babiš gern redet. Oder auch „das Flüchtlingsproblem in ihren eigenen Ländern lösen“, was praktisch bedeutet, Milliarden Euro in den türkischen Autokraten Erdoğan zu pumpen, der die Migranten mit Stacheldrahtverhauen in den eigenen Grenzen halten soll; diese Illusion wird allerdings auch von den großen EU-Mitgliedsstaaten geteilt. Dies sind trügerische Hoffnungen, denn die Einwanderungswelle, die heute Europa erreicht, ist nach meiner festen Überzeugung nur ein Symptom für eine viel tiefergreifende historische Bewegung, welche die krassen Gegensätze zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden vergleicht und ihre Rechnung für den Kolonialismus und für die anschließenden quasikolonialen politischen und ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse aufmacht. Die chronische politische Instabilität des Nahen Ostens, das Erbe der Kolonialzeit und der Rivalität der Supermächte im Kalten Krieg erweisen sich in diesem Falle als Antriebskraft für ein tiefergehendes Phänomen. Für etwas, das sich weder von Stacheldraht noch Mauern aufhalten lässt, noch von restriktiven Einwanderungsgesetzen, wie sie zur Zeit in Ungarn erlassen werden. Und auch nicht von einem noch so geschlossenen Bündnis mitteleuropäischer „souveräner Demokraten“ und autoritärer Herrscher.

 

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 

Michał Warchala

Michał Warchala

Michał Warchala ist Soziologe und Ideenhistoriker.

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