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Wenn zwei sich streiten

Als „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) in Warschau an die Regierung gekommen war, gab es in Vilnius durchaus etliche, die große Hoffnungen mit Jarosław Kaczyński verbanden. Man ging davon aus, er werde die Linie seines Bruders Lech fortsetzen, der seinerzeit in den Jahren 2005 bis 2009 ein ausgezeichnetes Verhältnis zu dem damaligen litauischen Präsidenten Valdas Adamkus gepflegt hatte. In Vilnius weinte niemand der Bürgerplattform (PO) hinterher, deren führende Politiker als unnachgiebig und in ihrer Rhetorik als kategorisch und aggressiv galten.

 

© istock/fudfoto

Doch bereits 2015 war zu erkennen, dass PiS in etwa die Linie der Bürgerplattform fortsetzen würde, auch wenn nicht klar ist, ob dies einem bestimmten Plan entsprach oder doch eher auf mangelndes Interesse an dem Nachbarland zurückging. Warschau machte für die Verbesserung der bilateralen Beziehungen weiterhin die Erfüllungen der polnischen Forderungen zur polnischen Minderheit in Litauen zur Voraussetzung, und setzte entschlossen auf die für ihre pro-moskauer Neigungen und ihr manchmal rüpelhaftes Auftreten bekannte „Wahlaktion der Polen in Litauen“ (Akcja Wyborcza Polaków na Litwie). In dieser Gruppierung sind Angehörige der polnischen und der russischen Minderheit vertreten, die Abgeordnete im Sejmas (dem litauischen Parlament) sowie im Europäischen Parlament hat, in bestimmten litauischen Regionen regiert und noch unlängst als Juniorpartner an der litauischen Staatsregierung beteiligt war. Bei Parlamentswahlen kann diese Partei bis zu zehn von den insgesamt 141 Sitzen des Sejmas gewinnen. Durch ihre Unterstützung für die „Wahlaktion“ mischte sich Warschau direkt in innerlitauische Angelegenheiten ein. Unter anderem spielte dabei eine Rolle, dass Litauen von Warschau keine besondere Priorität eingeräumt wurde. Die Zeit der Partnerschaft beider Länder lag lange zurück. Um die Jahrtausendwende unterstütze Polen noch die Integration Litauens in westliche Bündnissysteme, weil dies in seinem Interesse lag. Aber auch Vilnius zeigte in vielen Fragen ausgesprochene Unnachgiebigkeit.

 

Zum wiederholten Mal gerieten die bilateralen Beziehungen im Sommer vergangenen Jahres in eine Krise: Damals machte die sogenannte Passaffäre Schlagzeilen. Das polnische Innenministerium kündigte an, in den neuen polnischen Pässen werde eine Darstellung des Friedhofs der Adlerjungen in Lemberg [d.h. der jungen polnischen Gefallenen der polnisch-ukrainischen Kämpfe um Lemberg von 1918–20; A.d.Ü.] abgedruckt sein, und, abhängig vom Ausgang einer Internetabstimmung, vielleicht auch eine des Spitzen Tores in Vilnius [auch „Tor der Morgenröte“, die historische polnische Präsenz in Vilnius symbolisierende Wallfahrtsstätte; A.d.Ü.]. Das litauische Außenministerium bekundete seine Entrüstung und erklärte, auf litauischem Staatsgebiet liegende Objekte sollte nicht in den offiziellen Dokumenten eines anderen Landes abgebildet werden. Obwohl die Abstimmung im Internet sich für das Spitze Tor ausgesprochen hatte, verzichtete das polnische Innenministerium glücklicherweise auf die Umsetzung beider Ideen. Jerzy Haszczyński gab damals in der „Rzeczpospolita“ zu bedenken, der von polnischer Seite erwiesene Mangel an Feingefühl sei etwa so, als wolle Deutschland in seinen Pässen das Rathaus von Posen oder die Jahrhunderthalle in Breslau abbilden. Kurz gesagt, in den ersten beiden Jahren der PiS-Regierung war das polnisch-litauische Verhältnis sehr schlecht. Publizisten in Litauen meinten, es sei so schlecht wie seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr.

 

Durchbruch?

Im vergangenen Sommer zeichnete sich aber auch der Anfang einer neuen Entwicklung ab. Im Juni 2017 wurde der die beiderseitigen Beziehungen seit 2008 belastende Streit des im polnischen Mehrheitsbesitz befindlichen Erdölunternehmens ORLEN Lietuva mit der Litauischen Staatseisenbahn beendet. Dazu gehörte eine Einigung über die umstrittenen Frachtgebühren für polnische Waren bei der litauischen Bahn. Für den für Warschau glücklichen Ausgang sorgte mehr als nur das Motiv, die Wechselbeziehungen nicht weiter beschädigen zu wollen; eine Rolle spielten auch die innenpolitische Situation in Litauen und der Ölmarkt. Jedenfalls handelte es sich um einen wichtigen Schritt, durch den der bisherige „kalte Frieden“ ein wenig entfrostet wurde. Wie wichtig die Sache war, zeigt allein schon, dass bei Unterzeichnung der Vereinbarung der litauische Ministerpräsident Saulius Skvernelis und Verkehrsminister Rokas Masiulis zugegen waren.

 

Der Wilnaer Publizist Aleksander Radczenko wies auf dem vielgelesenen Internetportal rojsty.blox.pl darauf hin, die Litauer hätten bereits seit 2014 Zugeständnisse bei der polnischen Minderheit gemacht: „Besonders wichtig ist, Litauen hat einige problematische Fragen unserer Beziehungen gelöst. Bereits die vorherige Regierung unter Algirdas Butkevičius widmete den Bedürfnissen der nationalen Minderheiten mehr Aufmerksamkeit. Das Minderheitendepartement bei der litauischen Regierung wurde wiederhergestellt, und Minderheitensprachen wurden in den Staats‑ und Lokalverwaltungen zulässig. Die Regierung von Saulius Skvernelis ging noch weiter – der Streit von ORLEN Lietuva mit der Litauischen Staatseisenbahn wurde geregelt, der Streit um die Akkreditierung polnischer Schulen in Vilnius als Langzeitgymnasien wurde beendet […].“

 

Im August 2017 besuchte Sejmmarschall Marek Kuchciński Litauen. Dies war seit längerer Zeit die erste Visite eines hochrangigen polnischen Staatsfunktionärs in dem Nachbarland. Überhaupt häuften sich auf einmal die offiziellen Besuche: im Frühjahr Präsident Andrzej Duda, Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, Senatsmarschall Stanisław Karczewski und nochmals Sejmmarschall Kuchciński. Litauische Gegenbesuche nach Warschau folgten. Man war im Gespräch.

 

Während sich PiS in anderen außenpolitischen Bereichen wie der Elefant im Porzellanladen benimmt, hat die Partei augenscheinlich im Falle Litauens eine angemessenere Politik gewählt: Seltener wird eine ohnehin wenig aussichtsreiche Politik der harten Hand betrieben, stattdessen wird mehr auf sanften Druck und Gespräche hinter verschlossenen Türen gesetzt.

 

Für die polnische Regierung ist es in mehrerer Hinsicht wichtig, das Verhältnis zu Litauen zu verbessern. Im Vordergrund scheint dabei jedoch das Motiv zu stehen, sich eines Verbündeten zu versichern, während die Beziehungen zu einer Anzahl anderer Länder angespannt sind. Das bringt die gewünschten Resultate, denn Äußerungen der litauischen Führung lassen erkennen, dass Warschau bei seinen Auseinandersetzungen mit der Europäischen Kommission auf Unterstützung aus Vilnius zählen kann.

Versöhnliche Schritte der Litauer auf die polnische Minderheit zu, der Regierungswechsel in Vilnius, die Isolation Warschaus, ein Bewusstsein gemeinsamer Interessen – das alles bringt jetzt Dividende und ermöglicht einen Neuanfang der polnisch-litauischen Beziehungen.

 

Harte Kooperation

Im Verhältnis zwischen Polen und Litauen geht es jedoch nicht allein um Minderheitenrechte und den historischen Ballast. Allerdings sind es diese beiden Bereiche, die den Blick auf andere Politikfelder verstellen. Zu diesen gehören viele Infrastrukturprojekte von strategischer Bedeutung, die besonders für Litauen wichtig sind. Die Verbesserung des politischen Klimas kann ihrer Umsetzung nur dienlich sein.

 

Zu den wichtigsten dieser Projekte zählt die Rail Baltica, eine Eisenbahnlinie, die dem schnellen Warentransport auf der Strecke Warschau-Kaunas-Riga-Tallinn dienen soll. Sie wird in das europäische Schienennetz eingegliedert werden, sodass beispielsweise der schnelle Gütertransport von Helsinki bis in die Beneluxländer möglich sein wird. Die Trasse soll im Laufe weniger Jahre fertiggestellt werden. „In Verbindung mit anderen Schnellbahnprojekten in Polen und Tschechien, kann die Rail Baltica zum Schwungrad werden, das die Geographie des Transports in Ostmitteleuropa verändert, und Polen als Umschlagpunkt des neuen Systems für den Personen‑ und Gütertransport kann aus dieser Investition mit den größten Nutzen ziehen“, kommentiert Kamil Moskwik vom Jagiellonischen Institut auf dem Portal Biznesalert.pl.

 

©istock/Almotional

Ein weiteres Projekt ist die Via Baltica, das heißt eine Schnellstraßenverbindung zwischen Warschau und Tallinn. In einem Gespräch mit dem Polnischen Radio kündigte der litauische Ministerpräsident dazu an: „Wir sind entschlossen, ab 2023 eine vierspurige Straßenverbindung zwischen Vilnius und Warschau zu erstellen.“ Müßig zu erwähnen, dass derzeit keine direkte Bahnverbindung für den Personentransport zwischen den beiden Hauptstädten besteht und auch die Straßenverbindung nicht gerade optimal ist. Von solchen Infrastrukturprojekten profitieren Litauen und Polen gleichermaßen. Von den vielen Vorteilen sei fürs Erste nur der Anschluss an den Rest Europas genannt, andererseits aber auch der Entwicklungsimpuls in den ärmeren Regionen im Nordosten des Landes.

 

Für die Litauer besonders dringlich ist heute die Synchronisierung ihrer Stromnetze, weil die baltischen Ländern zur Zeit noch in das russische Energiesystem eingebunden sind. Litauen möchte sich über Polen mit Westeuropa bei der Stromversorgung integrieren, auch wenn es noch andere Möglichkeiten gäbe, wie zum Beispiel über Schweden. In diesem Jahr wurde die Auseinandersetzung darüber beendet und die Synchronisation, die bis 2025 beendet sein soll, hat einen neuen Impuls erhalten.

 

Piotr Maciążek, Energie‑ und Brennstoffexperte, erklärt hierzu für Dialog Forum: „Solange die baltischen Staaten in das russische Stromnetz eingebunden sind, kann Russland ihre Stromversorgung drosseln. Litauen produziert nur etwa zwanzig Prozent des Eigenbedarfs, daher ist es auf Energieimporte aus Russland und Belarus angewiesen.“ Maciążek hält gar einen flächendeckenden Blackout in Litauen für nicht ausgeschlossen: „Nach der Synchronisierung wird es billig und einfach sein, neue Stromtrassen nach Europa zu bauen, sofern die polnische Regierung das zulässt. Heute gehören Polen und Litauen noch unterschiedlichen Systemen an, daher ist die Errichtung einer Stromtrasse noch sehr teuer.“

 

Nicht weniger wichtig ist schließlich die für 2022 geplante Gaspipeline zwischen Polen und Litauen. Für Litauen bedeutet diese Integration mit den mitteleuropäischen Märkten ein Mehr an Sicherheit, es macht das Land unabhängiger von Gaslieferungen aus Russland und wird das Flüssiggas-Terminal in Klaipėda rentabel machen. Auch Polen wird von diesem Projekt profitieren können.

 

Bei alldem ist ein nicht zu unterschätzender Umstand zu berücksichtigen, dessen sich Litauer und Polen gleichermaßen bewusst sind: Warschau und Vilnius haben eine ähnliche Auffassung der von Russland drohenden Gefahr; die beiden Länder bilden innerhalb der Europäischen Union und der NATO einen wichtigen Teil der „putinskeptischen“ Ländergruppe.

 

Die Zeit wird erweisen, ob der jetzige Neuanfang der bilateralen Beziehungen Früchte tragen wird. Es bleibt zu hoffen, dass die beiden aufeinander angewiesenen Länder in Zukunft grundlose Streitereien vermeiden werden. Wenn nämlich zwei sich streiten, freut sich der dritte, und wer hier der dritte ist, braucht nicht weiter erklärt zu werden.

 

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Zbigniew Rokita

Zbigniew Rokita

Zbigniew Rokita ist Reporter und spezialisiert sich auf Themen rund um Osteuropa.

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