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Der Künstler Ungelegenheiten mit dem Vaterland

Das Vaterland ist für die Kunst schon seit zweihundert Jahren Thema, aber in jüngster Zeit hat es sich vermehrt in den Vordergrund gedrängt. Eine Ausstellung im Museum of Contemporary Art in Krakau (MOCAK) zur künstlerischen Produktion der letzten Jahrzehnte bietet Anlass, darüber nachzudenken, was heute eigentlich Vaterland bedeutet und wie es von verschiedenen Menschen verstanden wird.

 

MOCAK, © R. Sosin

Das MOCAK ist steingewordenes Symbol für die Veränderungen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten in Polen vollzogen haben. Am Anfang stand, dass die Stadt Krakau im Jahr 2004 Areal und Bebauung der vormaligen Schindler-Fabrik an der Lipowa-Straße 4 übernahm. Im ehemaligen Verwaltungsgebäude wurde eine Filiale des Historischen Museums der Stadt zum Thema deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg eingerichtet; dies ist inzwischen einer der meistbesuchten Orte Krakaus. Das MOCAK befindet sich gleich daneben in einem von Claudio Nardi und Leonardo Maria Proli entworfenen Neubau sowie in sechs eigens umgebauten Gebäuden. Die Architektur arbeitet mit sparsamen Mitteln und fügt sich gut in das Ensemble aus industriellen Zweckbauten ein.

 

Das 2011 eröffnete Museum füllte eine klaffende Lücke in der Krakauer Kultur, und es war, ganz so wie das Museum der Modernen Kunst in Warschau und das Zeitgenössische Museum in Wrocław, Ausdruck des Willens, sich zu modernisieren, zumal es bislang, abgesehen vom Kunstmuseum in Lodz, im ganzen Land keine vergleichbare Einrichtung gegeben hatte. Es öffnete den Blick für die Moderne und verschaffte ihr Anerkennung als integraler Bestandteil der polnischen Kultur.

Ähnlich wie die übrigen neugegründeten Museen für zeitgenössische Kunst, konzentrierte sich das MOCAK auf die letzten beiden Jahrzehnte und darauf, was in der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an wegweisenden Entwicklungen vonstattengegangen war. So entstand rasch eine eigene Sammlung, die Werke der führenden polnischen Künstler des letzten halben Jahrhunderts umfasste, darunter von Paweł Althamer, Mirosław Bałka, Stanisław Dróżdż, Zofia Kulik, Natalia LL, Erna Rosenstein, Wilhelm Sasnal und Artur Żmijewski, aber auch von Valie Export, Andrea Fraser, Sarah Lucas, Tony Oursler, Dan Perjovschi, Kateřina Seda und Ai Weiwei, also von international anerkannten Künstlern. Trotz der bekannten Namen prägte Museumsleiterin Anna Maria Potocka der Einrichtung ihr eigenes, nicht unumstrittenes Verständnis von Moderne auf. Ähnlich verhielt es sich mit den Sonderausstellungen, darunter insbesondere ein Zyklus von Ausstellungen, die sich jeweils um ein soziokulturelles Gebiet rankten: „Die Geschichte in der Kunst“, „Der Sport in der Kunst“, „Die Wirtschaft in der Kunst“, „Gender in der Kunst“, „Die Medizin in der Kunst“, sogar „Die Kunst in der Kunst“. Das diesem Zyklus zugrundeliegende Konzept geht ein Risiko ein, denn es zwingt zu Vereinfachungen und klebt den oft doch vieldeutigen Arbeiten einfache Etiketten auf.

 

Unsere Welt und die der anderen

Diese Ausstellungen regten immer mal wieder wirklich interessante Diskussionen an. Denn sie brachten Mythen, allgegenwärtige Platitüden, Stereotypen und Denkschablonen der Künstler wie der Kuratoren zutage. So verhält es sich auch mit der gerade im MOCAK gezeigten Exposition „Ojczyzna w sztuce“ (Das Vaterland in der Kunst). Das ist ein schwieriges Thema mit einer jahrhundertealten Geschichte. Es wird immer wieder aufgegriffen, etwa noch vor kurzem in der Ausstellung „Wanderlust. Von Caspar David Friedrich bis Auguste Renoir“, die in der Alten Nationalgalerie in Berlin gezeigt wurde. Es ist aber überdies ein unverändert aktuelles und wichtiges Thema.

Die Ausstellung „Das Vaterland in der Kunst“ © R. Sosin

Die Krakauer Ausstellung ist auch in ihren Dimensionen beeindruckend: Sie versammelt Arbeiten von sechzig Künstlern aus aller Welt. Die meisten davon stammen aus den letzten Jahrzehnten, mit Ausnahme eines Faksimiles von Jan Matejkos „Polonia“, dessen Einbeziehung in die Ausstellung einfach auf ein Missverständnis zurückgeht. Doch trotz ihres Anspruchs auf Aktualität drängt sich der Eindruck auf, die Ausstellung handle von einer bereits im Vergehen begriffenen Welt. Und genau dieses Vorbeigehen an der heutigen Situation ist es, was sie so interessant macht.

 

Leitgedanke der Ausstellung ist vordergründig das Spannungsverhältnis zwischen Nationalismus und Globalismus. Daher wohl die Idee, in der Ausstellung die künstlerische Verarbeitung von Nationalsymbolen, Staatsemblemen, Karten und ganz besonders Fahnen zusammenzutragen. Künstler wie Nikita Aleksejew, Mounir Fatmi, Jimmy Lasser, Robert Longo und Melissa Vandenberg sind ständig dabei, solche Motive zu analysieren, zu drehen und zu wenden, umzugestalten und zu verändern. Für sich betrachtet, sind viele interessante Arbeiten darunter, in der Masse jedoch erzeugen sie Überdruss. Manchmal hat der Besucher den Eindruck, Nationalfarben seien das eigentliche Ausstellungsthema. Ein ärgerliches, bespötteltes, aber niemals ein Thema, bei dem man passiv bleiben könne. Denn sie sind, auch wenn das manchem nicht gefallen mag, immer noch wichtig für die Gemeinschaft. Und sie sind ein mächtiges Symbol. Sara Rahbar nutzt dieses Potential geschickt in ihren Patchworkarrangements. Sie nimmt die Stars and Stripes als Untergrund und platziert darauf iranische und US-amerikanische Motive, also solche aus dem Herkunftsland und der Wahlheimat der Künstlerin. Dazu kommen verstärkend die Werktitel: „Streng dich an, wie du willst, aber ich will mehr“, oder „Nachdem wir dich umgebracht haben, haben wir angefangen, uns gegenseitig umzubringen“; sie sind irritierend und manchmal schwer zu ertragen. Rahbar gelingt es zu zeigen, welche Identitäten, Probleme, Spannungen und Konflikte damit einhergehen.

 

Unbehagen über die Identität

„Den Künstlern, deren Arbeiten in der Ausstellung gezeigt werden, bereitet das Vaterland merkliches Unwohlsein. Abgesehen von einigen Hinweisen auf Schandflecken der Geschichte erfahren wir aber eigentlich nicht, wieso das so ist“, sagt Karol Sienkiewicz in seinem interessanten Beitrag zur Ausstellung in der „Gazeta Wyborcza“. Genau im Mittelpunkt der Ausstellung befindet sich eine Fassung von David Černýs Skulptur „Entropa“, welche die tschechische Regierung anlässlich der EU-Ratspräsidentschaft ihres Landes 2009 in Auftrag gegeben hatte und die damals einiges Aufsehen machte. Die, wie der Künstler anfangs behauptete, von einem guten Dutzend Künstlern aus der gesamten Europäischen Union geschaffene Arbeit provozierte Widerspruch. Černý stellte nämlich die Mitgliedsstaaten der EU in Symbolen dar: Dänemark wird zu einem Konstrukt aus Legosteinen; Frankreich schmückt in Großbuchstaben die Aufschrift „Streik!“, auf der Deutschlandkarte bilden die Autobahnen annäherungsweise ein Hakenkreuz; Polen wird vom Klerus mit Regenbogenfahne auf einem Kartoffelacker symbolisiert; Großbritannien fehlt ganz. David Černý setzt in seiner Arbeit gezielt scharfe Kritik, Ironie und Spott ein, womit er sie bewusst in einen bestimmten politischen Kontext stellt: Ein Staatenverband voller Optimismus, der noch vor kurzem neue Mitglieder aufnahm und sich als offen versteht, in dem sich aber die alten Trennlinien immer noch bemerkbar machen.

 

Wenn auch der tschechische Künstler bewusst mit gängigen Klischees zu den einzelnen Ländern und Nationen arbeitet, entsteht doch der Eindruck, dass viele andere in ihren Werken zwar die Stereotype bekämpfen, sie damit aber lediglich bestätigen. Die Soziologin Arlie Russell Hochschild verbrachte für ihre Forschungen zur Bevölkerung der US-amerikanischen Südstaaten fünf Jahre in Louisiana. Sie hatte nach eigenem Bekunden festgestellt, dass sie in einer linksliberalen Blase lebte, die sie wenigstens vorübergehend verlassen musste, um andere verstehen zu lernen. Nach diesem Aufenthalt schrieb sie ihr Buch „Strangers in Their Own Land“ (dt. Ausgabe: Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten, Frankfurt, New York: Campus, 2018), das tiefe Einblicke in die inneren Verhältnisse der Vereinigten Staaten bietet. Diese Neugier auf andere und ihre Ansichten, Empfindungen und Werte fehlte den Machern der Krakauer Ausstellung.

Das gilt auch für die Art und Weise, wie sie Polen betrachten, obschon dem Land sehr viel Platz eingeräumt wird. Und obwohl die Ausstellung doch eigentlich ganz auf die Jetztzeit fokussiert ist, befasst sich interessanterweise nur Krzysztof Wodiczkos Arbeit „Lebende Bilder“ von 2017 mit der Gegenwart. Der Künstler komponiert Bilder von heutigen Menschen in die Porträts von vier Reformern und Protagonisten der Aufklärung: des Koautors der Verfassung vom 3. Mai 1791 Stanisław Małachowski; des Schriftstellers, Philosophen und Pioniers des Genossenschaftswesens Stanisław Staszic; des Historikers und Politikers Joachim Lelewel; schließlich Hugo Kołłątajs, Mitglieds der als europaweit als erstes Bildungsministerium geltenden Kommission für Nationale Erziehung in den 1770er Jahren. Gesichter von Studierenden, von sozialen und lokalen Aktivistinnen und Aktivisten, von Angehörigen verschiedener Milieus und Generationen verschmelzen mit den historischen Gestalten. Die durch den Künstler belebten Porträts sprechen auf diese Weise von Dingen, die der in Polen zur Zeit herrschenden Regierung ungelegen sind: von Frauen‑ und Mieterrechten, vom Zustand der Bildung. Wodiczko spricht aktuelle Fragen an und verweist doch zugleich auf die Kontinuität der polnischen Kultur, erinnert an Erbe und Bedeutung der Aufklärung, zumal es bei rechten Politikern und Intellektuellen in Mode ist, die Überlieferung der Aufklärung rundheraus abzulehnen.

 

Ärger mit den Worten

„Die Nation ist eine große Solidargemeinschaft, die durch das Gefühl für die Opfer gebildet wird, die erbracht wurden und die man noch zu erbringen bereit ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus […],“ sagte Ernest Renan in seiner berühmte Sorbonne-Rede „Was ist eine Nation“ von 1882. „Die Existenz einer Nation ist […] ein tägliches Plebiszit, […].“ Doch heutzutage ist die Nation ein wenig in Verruf geraten, ganz ähnlich wie das Vaterland, was nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nachvollziehbar ist. Schließlich steht sie jenem anderen Wort, dem „Nationalismus“, zu nahe. Im Katalog der Krakauer Ausstellung sucht man allerdings vergeblich nach einem Hinweis auf Renan. Dafür wird gern und oft Ernest Gellners Buch „Nations and Nationalism“ (dt. Ausgabe: Nationalismus und Moderne, 1991) von 1983 zitiert. Wie Stanisław Obirek jedoch zutreffend in seinem Beitrag zur Publikation des MOCAK festhält, lohnt es sich stets „zu wissen, was wir wirklich meinen, wenn wir Wörter benutzen, die ihrer Natur nach mehrdeutig sind“.

Jarosław Kozłowskis „Die vereinte Welt – totalitäre Version“, 2000 . Im Hintergrund die Arbeiten von Damir Muratov, Katharina Sieverding, Robert Long, © R. Sosin

 

Eine von der Ausstellung unterstrichene These ist, das traditionelle Verständnis von Vaterland sei heute nicht mehr aktuell. Ko-Kuratorin Anna Maria Potocka vertritt gar die Auffassung, heute verlange „das Verständnis des Vaterlandes eine tiefe, insbesondere eine mentale Transformation. Sonst werden wir dazu verurteilt sein, fremd in einem fremden Vaterland zu sein oder den Fremden im eigenen Vaterland aufzunehmen“. „Auf der Ebene der individuellen Identifikation müssen wir ein Gefühl der Einheit mit der Welt erreichen. Das erfordert, die Welt als Vaterland wahrzunehmen und alle Menschen als Landsleute, die Anspruch auf dieselben Rechte und Wertschätzung haben.“ Mehr noch, sie ist der Meinung, wir alle sollten den Künstlern nachfolgen, die „seit langem schon zum globalen Modell des Vaterlandes übergegangen sind. Sie sprechen die universelle Sprache der Bilder und wechseln mit Leichtigkeit die Länder, in denen sie sich niederlassen, überall finden sie Nahrung für ihre Vorstellungskraft. […]. Die Künstler der ganzen Welt teilen auch, bei allem Gespür für ihre Individualität und Besonderheit, die allen Kulturen gemeinsamen existentiellen Probleme.“

 

Auf seinen wenigen Seiten gelingt es diesem Text, so manche Künstlerstereotype des 20. Jahrhunderts unterzubringen, die wenig weder mit der damaligen noch der heutigen Realität zu tun haben. Ebenso frappierend ist die Behauptung, Künstler lebten außerhalb der Gesellschaft und ihre Aufgabe bestehe darin, den Normalsterblichen ihren jeweils angemessenen Platz zuzuweisen; übrigens stehen die Vorstellungen der Leiterin des MOCAK der konservativen Kritik an der modernen Kunst nahe. Aber durch seine Überzeichnungen zeigt der Text etwas Wesentliches, nämlich die Spannungen zwischen Globalismus und lokaler Bindung.

 

Mounir Fatmi, „Verlorene Frühlinge“, 2011, Art Front Gallery, Tokyo, © R. Sosin

Es gibt jedoch ein grundlegendes Problem. Wie der bereits zitierte Karol Sienkiewicz betont, dominiert in der Ausstellung „die wenn auch kritisch betrachtete Standardsichtweise der Mehrheit. Einerseits haben wir also die Globalisierung mit ihren Gefahren, andererseits die Warnungen vor dem Nationalismus.“ Doch würden sich heute nach Sienkiewicz‘ Meinung ganz andere Fragen stellen. Wesentlich sei diejenige nach dem Status der Immigranten und ihrer Nachkommen sowie dem kolonialen Erbe. Was ist heute das Vaterland, wer kann sich wann mit einem Ort völlig identifizieren? Wann beginnen die Einwanderer, sich mit ihrem neuen Vaterland zu identifizieren? Dem lässt sich hinzufügen: Und was ist mit den früheren Vaterländern der Migranten und ihrer Erinnerung an sie?

 

Es ist müßig, auf der MOCAK-Ausstellung nach den Antworten zu suchen, so als ob die jüngsten historischen Erfahrungen Europas oder des Westens im weiteren Sinne die Polen nichts angingen. Die Ausstellung im MOCAK, das doch ein Inkubator der Moderne sein will, zeigt, wie sich Polen immer mehr vom übrigen Europa absondert. Umso lehrreicher sind zwei große, internationale Veranstaltungen, die zur Zeit stattfinden: die Berliner Biennale für zeitgenössische Kunst sowie die Wanderbiennale Manifesta, die in ihrer 12. Ausgabe in Palermo abgehalten wird. Beide zeigen, wie global die Kunst inzwischen ist. Damit geht der Abschied von einer europazentrischen Wahrnehmung der Kunstwelt einher. Künstler und Künstlerinnen mit außereuropäischen Wurzeln sind zu einem gleichberechtigten Teil der Kunstszene geworden, was nicht bedeutet, dass die Globalisierung die Künstler dazu gebracht hätte, ihre eigene Identität aufzugeben. Sie werden durch sie nicht unbedingt zu globalen Kosmopoliten. Im Gegenteil, ihre Identitäten durchdringen und ergänzen einander. Sie tragen dazu bei, die Identitäten der Länder neu zu definieren, die sie als Lebensmittelpunkt gewählt haben, und ebenso die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Vaterland neu zu umreißen.

 

Allerdings fehlt auf der MOCAK-Ausstellung auch ein Ort für diejenigen, die einem traditionellen Verständnis von Vaterland verbunden bleiben, einem Ort und einer Tradition, wie sie ihnen von vorangegangenen Generationen übermittelt wurden (gelegentlich werden sie in einer ziemlich karikierten Gestalt präsentiert). In der Forschung ist die Meinung verbreitet, die heutigen sozialen Unterteilungen im umfassend verstandenen Westen verliefen nicht mehr entlang der traditionellen Klassenkategorien, sondern zweier anderer Achsen. Die erste ist die sozioökonomische und steht in direktem Zusammenhang mit der Globalisierung; diese Aufteilung ist eine in privilegierte Gruppen, die von der Globalisierung profitieren, und solche, die durch diese benachteiligt werden, also die mit den Globalisierungskosten belastete Mittelschicht und die Arbeiter in den alten Industrieländern. Die zweite Achse ist definiert durch Kultur, Religion und Identität. Auch sie hängt mit der Globalisierung und der Geschwindigkeit der weltweiten Veränderungen zusammen, in denen sich immer weitere Gruppen nicht wiederfinden können. Bei einer Debatte der Batory-Stiftung sagte Andrzej Waśkiewicz: „In normalen Zeiten ist Aristoteles der Patron der Politik, aber jetzt wacht Carl Schmitt über sie.“ In jenen normalen Zeiten sind politische und soziale Unterteilungen der Gesellschaft deckungsgleich, heute, in anormalen Zeiten, ist die Unterteilung identitär oder gar existentiell. Datingplattformen und Heiratsagenturen in den USA und Großbritannien haben inzwischen in ihren Klientenprofilen die Optionen „für/ gegen Trump“ bzw. „für/ gegen den Brexit“ eingeführt.

 

Melissa Vandenberg, „Der vielköpfige Patriot“, 2012, Maus Contemporary, © R. Sosin

In dieser Hinsicht ist es nicht nur wichtig zu fragen, wie Vaterland und Gemeinschaft definiert werden, sondern auch danach, wie es mit der Fähigkeit aussieht, andere Meinungen, Empfindlichkeiten, auch rechtsgerichtete, konservative oder traditionalistische, zu beachten und zu respektieren. Anders gesagt, mit einer Neugier, wie sie Arlie Russell Hochschild dazu brachte, US-Bundesstaaten zu besuchen, in denen sie sich so gar nicht heimisch fühlte. Deshalb ist es schade, dass die Ausstellung keine Arbeiten von Honorata Martin oder Daniel Rychalski zeigt, die einen vieldimensionalen Blick auf Polen werfen und es schaffen, die Marginalisierten ins Bild zu bringen, zum Beispiel die Menschen in den kleinen Städten und auf dem Lande. Doch lassen sich im MOCAK auch Werke finden, die deutlich machen, dass die Künstler manchmal mehr sehen, als die Autoren wahrnehmen wollten, die über sie schreiben. Als Beispiel sei der phänomenale Fotozyklus „Soziologische Aufzeichnung“ (1978–1990) von Zofia Rydet genannt, der die traditionelle Vorstellung vom polnischen Haus, das zunehmend entschwindet, festhalten will. Oder auch zum Beispiel das Video „Europa 54 ̊ 54′ 25 ̊ 19’“ von Deimantas Narkevičius (1997), in dem der Künstler seine Reise zum in Litauen befindlichen geographischen Mittelpunkt Europas dokumentiert, ein Ort, der viele Litauer mit Stolz erfüllt. Vielleicht ist dieses Gefühl für den Außenstehenden schwer zu verstehen. Doch Narkevičius enthält sich aller Wertungen und folgt einfach den Spuren seiner Landsleute.

 

Vielleicht können Künstler heute Hilfestellung leisten, die Realität zu begreifen und sich darin wiederzufinden. Helfen, diejenigen zu verstehen, deren Ansichten abseits des Mainstreams liegen, und fortbestehende, in der Tradition verankerter Phänomene wiederzufinden. Denn, wie der weltberühmte Ai Weiwei im Gespräch mit Hans Ulrich Obrist betont: „Wir bewegen uns so schnell von Ort zu Ort, dass das Gedächtnis ist, was wir erfassen können […]. Je schneller wir uns bewegen, desto öfter wenden wir uns um, um in die Vergangenheit zu blicken.“

 

Ojczyzna w sztuce (Das Vaterland in der Kunst), Museum für Zeitgenössische Kunst Krakau (MOCAK), 27. April bis 30. September 2018, kuratiert von Delfina Jałowik, Maria Anna Potocka und Agnieszka Sachar

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Piotr Kosiewski

Piotr Kosiewski

Piotr Kosiewski ist Historiker, Kunstkritiker und Publizist. Er schreibt regelmäßig für die polnische Wochenzeitschrift „Tygodnik Powszechny” und das Magazin „Szum".

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