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Oppositionelle oder Dissidenten?

Zbigniew Rokita spricht mit dem belarussischen Politikexperten Aljaksandr Klaskoŭski

 

Zbigniew Rokita: Meinem Eindruck nach war die belarussische Opposition noch nie so schwach wie heute.

Aljaksandr Klaskoŭski: Ja in der Tat. In den neunziger Jahren konnte die Opposition 30–40.000 Menschen auf die Straße bringen. Damals hatte sie noch Einfluss auf die belarussische Gesellschaft und konnte die Regierung in Angst und Schrecken versetzen. Heute ist das anders. Wenn es hochkommt, finden sich ein paar Dutzend Leute zu einer Demonstration ein: Das ist tausendmal weniger als vor zwanzig Jahren. Die Opposition hat fast keinen Einfluss auf die Politik in Belarus, umso weniger auf die Wirtschaft.

 

Wie erklären Sie sich die Schwäche der Gegner von Aljaksandr Lukaschenka ?

Erstens kann unter einem brutalen autoritären Regime keine starke Opposition bestehen. Lukaschenka hat es dahin gebracht, dass das System nicht mit friedlichen Mitteln geschlagen werden kann. Zweitens war Lukaschenka lange Zeit wirklich populär. Dabei spreche ich nicht nur von seinem Charisma und seiner Demagogie. Er verstärkte seine Popularität  durch die Verbesserung des Lebensstandards. Dies gelang mittels Subventionierung unseres Landes durch Russland. Die einfachen Menschen liebten den Batka [belaruss. bat’ka – Papa; in Belarus verbreitete Bezeichnung für Lukaschenka; A.d.Ü.], denn der sorgte dafür, dass Brot und Butter auf den Tisch kamenund das Durchschnittseinkommen stetig stieg: Vor den Wahlen von 2001 waren es 100 Dollar, 2006 250 Dollar, 2010 schon 500 Dollar. Für belarussische Verhältnisse ist das eine sehr gute Steigerung.

 

Aber schon vor gut zehn Jahren war Schluss mit den positiven Wirtschaftsdaten.

Ja, das Wachstum kam fast zum Erliegen. Die fetten Jahre waren am Anfang des Jahrhunderts, ungefähr bis 2006/07. Bis dahin erlebte das „belarussische Modell“ seine Hochzeit. Danach schränkte Russland die Zahlungen seiner Subsidien ein, die Wirtschaft geriet ins Schlingern. Heute liegt das mittlere Einkommen unter dem von 2010. Jetzt sind wieder die Ölpreise gestiegen, dadurch macht sich eine gewisse Belebung der belarussischen Wirtschaft bemerkbar, aber unabhängige Fachleute meinen, dass es sich dabei nur um eine Zwischenkonjunktur handelt – nichts, was auf Strukturreformen und Privatisierung zurückgeht, sondern auf vorübergehende Preisschwankungen bei den Rohstoffen. Belarus besitzt zwei große Raffinerien; wir bekommen billiges Rohöl aus Russland und verkaufen Erdölprodukte weiter an Polen, Großbritannien und die Niederlande. Das bringt einiges an Einnahmen.

 

Trotz allem hilft der Zustand der belarussischen Wirtschaft Lukaschenka und schadet der Opposition.

Die einfachen Leute sagen: „Wieso sollen wir auf die Straße gehen und protestieren, wo wir doch zu essen haben, und die Revolution könnte alles nur noch schlimmer machen.“

Und hier kommen wir auf einen weiteren Grund für die Schwäche der Opposition. Heute ist der Lebensstandard in Belarus nicht mehr so hoch wie früher, es gibt eine gewisse Unzufriedenheit, aber die Opposition ist inzwischen kraftlos geworden und marginalisiert. Das Negativbeispiel der Ukraine spielt dabei eine Rolle. Die belarussische Propaganda hat gekonnt ausgenutzt, was am Dnepr passiert ist. Die Propaganda lautet: „Die Ukrainer wollten eine Revolution machen – und was hat es ihnen gebracht? Krieg mit Russland, Gebietsverluste, der Lebensstandard ist gesunken. Ihr wollt auch eine Revolution? Hört nicht auf die Opposition. Wir sind vielleicht nicht besonders reich, aber Lukaschenka ist ein Garant für Stabilität und Sicherheit.“ Bei den Präsidentschaftswahlen von 2015 ist die Opposition nicht einmal auf die Straße gegangen.

 

Es hieß, man habe Angst, das wäre ein Vorwand für Russland, um in Belarus einzumarschieren.

Das war eine Ausrede. Die Opposition war schlicht nicht in der Lage, die Leute auf die Straße zu bringen, und hinter dem Vorwand des Sicherheitsinteresses des Landes versuchten sie, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Das Ausbleiben von Demonstrationen 2015 zeigte zwei Dinge: Die Schwäche der Opposition und deren mangelnden Rückhalt im Land.

 

Auch der Westen hat seine Haltung zu Lukaschenka und damit zur belarussischen Opposition verändert. Früher galt Lukaschenka als Diktator, doch 2014 kam man in den Hauptstädten im Westen zu der Auffassung, man müsse sich mit ihm gutstellen: Schließlich hatte er sich etwas von Moskau distanziert, vielleicht konnte er als Vermittler fungieren. So begann die Kooperation mit dem Regime und es verringerte sich die Unterstützung für die Opposition. Es macht sich bemerkbar, dass die Opposition heute kein Geld mehr hat. In der letzten Zeit kam es vor, dass Oppositionsparteien die Stromrechnungen für ihre Büros nicht bezahlen konnten.

 

Bei den Ursachen für die Schwäche der Opposition haben Sie äußere Faktoren genannt. Aber tut die Opposition selbst denn ihr Möglichstes, um wieder stärker zu werden?

Natürlich hat die Opposition viele Fehler begangen. Die Hauptursache für ihre Schwäche ist jedoch die Stärke des Regimes. Die Opposition ist in die Bedeutungslosigkeit abgedrängt, und bedeutungslos gewordene Menschen machen immer Dummheiten, fangen an, sich untereinander zu streiten. Aus Machtlosigkeit. Die Opposition schafft es beispielsweise nicht, bei Präsidentschaftswahlen einen gemeinsamen Kandidaten aufzustellen.

 

Man kann der Opposition diese Unfähigkeit zur Zusammenarbeit anlasten, aber ich denke, die Oppositionsführer sind sich schlicht im klaren darüber, dass niemand von ihnen eine Siegchance hat, und daher sehen sie Wahlen als Gelegenheit, ihr eigenes Image zu pflegen. Die Erfahrung anderer Länder zeigt, dass eine Opposition sich dann zusammenschließen kann, wenn sich das Regime bereits im Niedergang befindet.

 

Ein Teil der Opposition wollte 2015 die Wahlen boykottieren. Dabei ist der Wahlkampf fast die einzige Zeit, in der die Opposition überhaupt etwas aktiver wird. Ist die Opposition dabei, sich kampflos zu ergeben?

Ich habe diese Strategie schon kritisiert, das führt nirgendwo hin. Es funktioniert nicht, auf eine niedrige Wahlbeteiligung zu setzen – das Regime hübscht sich die Ergebnisse ohnehin nach eigenem Gutdünken auf. Auch das Fernbleiben der Opposition in den Wahlkommissionen hat keinen Sinn. So hat das Regime überhaupt keine Konkurrenz und damit einen noch leichteren Sieg. Solche Spielchen demotivieren die Wähler. Ich erinnere mich, wie am Wahltag 2015 Anatolij Lebedska aufrief: „Geht nicht zu den Urnen, es hat keinen Sinn, mit Falschspielern ein Spiel zu spielen, das ihr doch verlieren werdet.“ Nur wird nicht derselbe Lebedska eines Tages seine Anhänger mobilisieren wollen? Dann wird ihm niemand mehr glauben. Diese Taktik der Opposition hat dazu beigetragen, die Belarussen zu entpolitisieren: Sie haben das Interesse an Politik verloren.

 

Wenn also die Opposition nur sehr geringen Einfluss auf die Verhältnisse in Belarus hat, was machen dann die Oppositionellen den lieben langen Tag?

Manchmal muss ich lachen, wenn ich sehe, wie sich einige in Blogger, Kommentatoren in den sozialen Medien oder Youtuber verwandelt haben. Das sind keine nationalen Anführer mehr.

 

© Uladzimir Kalada

Eine virtuelle Emigration?

Einige wollen immer noch in der Realität was tun. Mikalaj Statkewitsch ruft immer noch seine Anhänger dazu auf, auf die Straße zu gehen. Die Regierung lässt diese Leute natürlich verhaften und bestrafen. Die Absicht dahinter ist, der Welt zu zeigen, dass es noch Belarussen gibt, die sich nicht beugen und das Versammlungsrecht verteidigen.

 

Gehen viele mit Statkewitsch auf die Straße?

Nicht besonders viele. Das vertieft nur noch den belarussischen Fatalismus. Die Belarussen sehen, wie zum x-ten Male eine Handvoll Leute auf die Straße geht, sie von der Polizei geschnappt und bestraft wurden, und dann wieder von vorne. Die Belarussen sind vernünftige Menschen und denken sich: „Wozu sollen wir demonstrieren gehen, wenn wir dafür Strafe zahlen, unseren Arbeits‑ oder Studienplatz verlieren und sich dann doch nichts ändert? Dann bleibe ich doch lieber zuhause und warte auf einen günstigeren Augenblick.“ Es klingt gut, von einem „Häuflein der idealistischen Fanatiker“ zu sprechen, die das Gewissen der Nation sind und die nationale Würde wahren, aber das bringt uns einer Reform des Landes nicht näher.

 

Eine andere Idee ist die Kampagne „Sag die Wahrheit“ der gemäßigten Opposition, die Veränderungen auf friedlichem Wege erreichen will. Dahinter steht die Überzeugung, man müsse durch verschiedene Regionen fahren, mit den Leuten sprechen, Hilfe anbieten, zum Beispiel in Rechtsangelegenheiten.

 

Daneben gibt es Versuche, aktuelle Themen zu besetzen. Zur Zeit ist die Gedenkstätte Kuropaty [ein Ort stalinistischer Repressionen; Z.R.] ein solches Thema, an der ein Restaurant gebaut wurde. Und da haben wir es wieder – zur Protestaktion erscheinen vielleicht zehn bis fünfzehn Leute. Klar weckt das Thema Emotionen, aber mehr in der ausländischen Presse als bei den Belarussen.

 

Allerdings fand die Opposition im vergangenen Jahr bei den sogenannten „Schmarotzerprotesten“ für einen Augenblick eine gemeinsame Sprache mit der Nation. Die Regierung hatte eine Steuer für Leute eingeführt, die im Laufe eines Jahres weniger als eine bestimmte Mindestzahl von Tagen arbeiten. Plötzlich bekamen hunderttausende Belarussen die schriftliche Aufforderung, einen hohen Betrag zu zahlen. Die Opposition nutzte den Moment und brachte tausende Menschen zusammen. Denn sie hat immer noch einige Asse im Ärmel: Organisation, Megaphone, Erfahrung.

 

Und mit welchen Parolen kann die Opposition die Gesellschaft denn noch erreichen? Sichtlich kommt die größte Unzufriedenheit aus den Turbulenzen in der Wirtschaft, währenddessen wiederholt die Opposition ihr ständiges Mantra von den westlichen Werten.

Das stimmt, es bringt mehr, vom Bauch zu sprechen als von der Demokratie. Viele Belarussen meinen immer noch, die Opposition bestehe zwar aus guten Leuten, diese seien aber realitätsfremde Idealisten.

 

Im Westen herrscht die Vorstellung, die politische Szene in Belarus sei zwischen Regime und westorientierter Opposition aufgeteilt. Befürwortet die Opposition aber tatsächlich liberale Demokratie und europäische Werte?

Die Forderung demokratischer Reformen ist allen Kräften der Opposition gemeinsam. Im Prinzip ist die gesamte Opposition gegen eine russische Dominanz, und der Westen bietet Sicherheit gegen Russland. Ähnliches gilt für die Gesellschaft insgesamt: Wer gegen Lukaschenka ist, ist prowestlich. Es gibt eigentlich niemanden, der gleichzeitig gegen Lukaschenka und für Russland wäre.

 

Liefert das Regime selbst heute Anlässe für Massenaufläufe?

Die Regierung befindet sich nicht in einer kritischen Situation. Die Wirtschaftslage ist nicht so schlecht, als dass die Leute massenhaft nach Revolution rufen würden.

 

Welcher Teil der Gesellschaft unterstützt die Opposition?

Nachdem vor zwei Jahren das Institut für unabhängige Sozioökonomische und Politische Forschung (NISEPI) geschlossen worden ist, gibt es keine unabhängige Soziologie mehr, daher wissen wir heute nur noch wenig über die im Lande verbreiteten Stimmungen. Aber ich denke, der Anteil von Leuten mit oppositionellen Ansichten hat sich nicht geändert, er schwankte gewöhnlich zwischen 20 und 25 Prozent.

 

Gut, aber lassen Sie uns genauer werden: Unterstützt dieses Viertel der Bevölkerung bestimmte Oppositionsparteien, oder ist es einfach nur nicht für das Regime?

Letzteres. Teils nörgeln die Leute über die Regierung, sehen aber in der Opposition keine Alternative. Die letzten Umfragen des NISEPI zeigten, dass die Unterstützung für die Oppositionsführer im Bereich der statistischen Fehlermarge lag.

 

Beruht das Problem der Opposition ausschließlich auf dem Regime und ihr selbst, oder vielleicht doch auch auf der belarussischen Gesellschaft, weil sie ziemlich passiv ist und sich ungern politisch engagiert? Man vergleicht gern die Belarussen mit den Ukrainern.

Ich wiederhole: Unsere Nation ist vernünftig, von ihr lässt sich nicht verlangen, sich massenhaft heldenhaft zu verhalten. Denken Sie etwa, wenn im Westen die Regierungen die Leute bei Demonstrationen mit Gummiknüppeln zusammenschlagen ließen, würden die Leute nicht still in ihrem Kämmerlein sitzenbleiben? Es gibt natürlich auch bestimmte nationale Eigenschaften: Die Belarussen sind eine eher nordländische Nation, die Ukrainer eine südländische, auch unterscheiden sich unsere Traditionen.

 

Was riskiert die Opposition heute?

Nach den Wahlen von 2010 wurden hohe, mehrjährige Haftstrafen verhängt. Jetzt, nach den Wahlen von 2017, sind Verfahren eingeleitet, werden Menschen eingeschüchtert, anschließend werden sie unauffällig wieder freigelassen, und auf die Anwendung des Gesetzes wird faktisch verzichtet. In den letzten Jahren wurden Geldstrafen gegen Oppositionsführer verhängt, aber in solcher Höhe, dass sie sie manchmal bis zum Ende ihres Lebens abzahlen. Es kommt vor, dass ein Aktivist beim Verfahren das Gericht bittet: „Steckt mich besser fünfzehn Tage hinter Gitter, als mir eine Geldstrafe zu geben.“ Denn die Aktivisten sind nicht reich. Bei den Repressionen denkt die Regierung in Minsk daran, den Westen nicht dazu zu provozieren, neue Sanktionen zu verhängen.

 

Wer stellt aus Lukaschenkas Sicht die größte Gefahr für ihn dar: die Gesellschaft, Rivalen innerhalb der machthabenden Elite oder die Opposition?

Die Nation. Oder besser gesagt: die Wirtschaft. Die Alternative zu dem nur noch spärlich aus Moskau fließenden Geld sind schmerzhafte Reformen, die uns von Russland abhängig machen würden, aber Lukaschenka hat Angst vor Reformen – sie würden das Land zeitweilig destabilisieren, wie Polen nach 1989. Er weiß, wenn die Wirtschaft schwächer wird, werden die Leute auf die Straße gehen, die Opposition wird sie dabei unterstützen, und Moskau wird sich vielleicht auch einmischen.

 

Kommt die Existenz einer Opposition also Lukaschenka zupass? Vielleicht könnte er sie zerschlagen, aber er will das nicht, weil er bei Beibehaltung des Status quo den Anschein von Pluralismus aufrechterhalten und die gegen das Regime gerichteten Stimmungen kanalisieren kann.

Ja, er will die Opposition nicht zerschlagen. Es hilft ihm eine Opposition, die lediglich ein Fassadenschmuck für das Regime ist. Er kann damit vor dem Westen angeben. Er kann sie vor der Nation zum Buhmann machen.

 

Wir haben jetzt die Regimegegner immer Oppositionelle genannt. Vielleicht sollte eher von Dissidenten die Rede sein?

Sie mögen es, den Eindruck zu wecken, sie seien Politiker, aber tatsächlich ist Dissidenten die bessere Bezeichnung. Aber man muss fair zu ihnen sein: Darunter sind Opportunisten und Karrieristen, aber es gibt auch Idealisten, Menschen mit Prinzipien. Wenn es letztere überhaupt nicht gäbe, würde völliger Fatalismus von der Gesellschaft Besitz ergreifen. Es ist nicht ihre Schuld, dass die Zeiten so schwer sind. In der Geschichte waren solche Menschen immer in der Minderzahl, aber wenn nicht Menschen gegen den Strom schwämmen, gebe es keinen Fortschritt in der Welt.

 

Aljaksandr Klaskoŭski ist ein belarussischer Publizist und Journalist, Direktor für Analyseprojekte der Nachrichtenagentur BelaPAN.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 

 

Gespräch

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