Diskriminierung tritt in Belarus mit gewissen Besonderheiten und in feinen Abstufungen auf. Allgemein gesprochen, geht sie in ihren Grundzügen aber immer noch auf eine patriarchal strukturierte Gesellschaft zurück, in der die Menschen nach Mehrheit und Minderheiten sortiert werden.
Im April dieses Jahres fand in einer Schule in Homel im Südosten von Belarus eine Versammlung der Bewohner des Wohnblocks Nr. 18 statt. Anlass des Treffens war, dass es in dem betreffenden Haus keinerlei Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung gab. Andrej Antonenko, einer der Mieter, sitzt im Rollstuhl und braucht einen Treppenlift, um seine Wohnung verlassen zu können. Am Tag vor der Versammlung hatten sich 106 Personen dagegen ausgesprochen, einen solchen Lift im Foyer des Blocks zu installieren. „Und wie sollen wir da wohnen? Wie sollen wir unsere Möbel transportieren?“, wandten die Nachbarn höchst respektvoll ein. „Und der Krach? Das Ding wird doch Krach machen! Und wieviel Platz wird es brauchen?“
Niemand hätte ahnen können, welchen Unmut die Treppenliftfrage auslösen würde. Doch ist der Fall eine gute Illustration für die Widersprüche und inneren Brüche, die stets zum Vorschein kommen, wenn es um die Rechte sozialer Randgruppen in Belarus geht. Diese sind immer noch Objekt bürokratischer Willkür und verbreiteter Vorurteile. Eine notwendige Umbaumaßnahme wurde in diesem speziellen Fall nicht durch ein gesetzliches Verbot oder die Indifferenz der Kommune verhindert, sondern durch Mangel an Empathie und feindselige Einstellungen in der Nachbarschaft. Das hatte nichts Persönliches, sondern war ein unbewusster Abwehrreflex. Unter dem Druck der Berichterstattung in den Medien lenkten die Mitbewohner schließlich doch ein und stimmten der Einrichtung des Treppenlifts zu. Das hat natürlich auf die Gesamtsituation kaum einen Einfluss.
Konfrontationen
Im Jahr 2016 initiierte die belarussische Menschenrechtsorganisation „Büro für Behindertenrechte“ eine Studie, um zu erfahren, wie in den Medien des Landes mit dem Thema Behinderung umgegangen wird. Die Studie stellte fest, dass nur in 1,5 bis 1,8 Prozent aller Medienberichte überhaupt von Behinderung die Rede ist, und zwar vor allem im Kontext von Wohltätigkeitsveranstaltungen, Gesundheit oder konkreten Hilfsaktionen. Im Allgemeinen greift die Berichterstattung auf alte Stereotype zurück, und während das Problem der Diskriminierung ganz unerwähnt bleibt, kommen vorurteilsbehaftete Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung zum Ausdruck. Daraus ergibt sich ein konfliktreiches Verhältnis zwischen der Mehrheit der Gesunden und der Minderheit der Beeinträchtigten. Die Vorannahme gilt als selbstverständlich, Gesunden stünden alle Rechte zu, während dies nicht für Menschen mit Behinderung gelte. Diese Form von Diskriminierung wird damit gerechtfertigt, behinderte Menschen seien „von Natur aus“ geringerwertig, daher besäßen sie nicht dieselben Rechte, ohne auch nur auf den Gedanken zu kommen, diese Sicht auf Behinderung könnte etwas mit bestehenden Vorurteilen und der ungleichen Ressourcenverteilung in der Gesellschaft zu tun haben.
Solche Denkweisen stehen jeder systematischen politischen Analyse von Stigmatisierung und Exklusion sozialer Randgruppen entgegen; sie machen das Problem zu einer reinen Privatsache, anstatt es als eine der Gesetzgebung zu sehen. Infolgedessen wird strukturelle Ungleichheit verzerrt als eine Anzahl miteinander nicht in Zusammenhang stehender Einzelfälle dargestellt. Beispielsweise wird aus der Treppenlift-Geschichte von Homel eine anekdotische Geschichte über „hartherzige Nachbarn“.
Dahinter steckt die Strategie, Probleme grundsätzlich zur Privatsache zu erklären. Auch handelt es sich um eine Form von Manipulation, welche die Anerkennung von Menschen mit Behinderung und der Heterogenität der Gesellschaft vermeidet. Dazu passt ein immer noch aktueller Slogan aus der Zweiten Welle des Feminismus sehr gut: „Das Private ist politisch.“ Damals war der Slogan revolutionär, und er verweist darauf , wie das Verhältnis zwischen Machtpraxis und Unterordnung politisch konsolidiert wird. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass sogar emanzipatorische Bewegungen zu Sexismus, Rassismus, Homophobie und zu Diskriminierung von Behinderten neigen. Damals in den sechziger Jahren wurden Aktivistinnen dafür kritisiert, ihre „Körperdinge“ öffentlich zur Sprache zu bringen, also ihre Sexualität, ihr Äußeres und ihr Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Sie wurden dazu ermutigt, selbst Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen und still zugunsten der „Revolution“ zu arbeiten.
Das ist dem Diskurs der belarussischen Opposition sehr ähnlich, in dem Frauen immer noch als „Körper der Nation“ figurieren. Nach dem konservativen Geschlechterrollenparadigma sollen wir Frauen uns gefälligst passiv verhalten und unsere naturgegebene Aufgabe erfüllen. Erstaunlicherweise gibt es in Belarus immer noch eine Liste von 181 Berufen, die Frauen verwehrt sind. Die Befürworter der Liste behaupten, die Reproduktion sei die Pflicht und außerdem ein „natürliches“ Bedürfnis der Frauen sowie ihre einzige Möglichkeit zur Selbstverwirklichung. „Wir sollten nicht übersehen, dass 99,9 Prozent der Frauen sich nicht für feministische Projekte engagieren, sondern Ehefrauen, Mütter, Töchter, Schwestern sind, die alle unter verschiedenen Umständen leben, mal bessere, mal schlechtere Ehemänner haben, bessere oder schlechtere Angehörige, Familien und Freunde“, sagt der Philosoph und Theologe Pjotr Rudkouski. Er befürchtet, im Falle der Abschaffung der Liste der verbotenen Berufe würden die Frauen dem Druck ausgesetzt sein, ihre unterbezahlten Jobs aufzugeben, um besser bezahlte, aber auch anspruchsvollere Laufbahnen einzuschlagen. Allerdings übersieht er, dass auch im Feminismus engagierte Frauen jemandes Tochter, Schwester und vielleicht gar Mutter oder Ehefrau sind und es eine grobe Simplifizierung und Meinungsmanipulation ist, die Liste der 181 Erwerbstätigkeiten auf den Kohlebergbau zu reduzieren.
Zwischen Wahrheit und Fälschung
Panik bricht aus, wenn peinliche Fälle von Diskriminierung öffentlich werden. Symptomatisch war, wie die belarussische Regierung auf eine Aktion des Vereinigten Königreichs reagierte. Am 17. Mai, dem Internationalen Tag gegen Homophobie, Transphobie und Biphobie, hisste die britische Botschaft vor ihrem Gebäude die Regenbogenfahne. Damit solidarisierte sie sich mit den LGBT-Menschen auf der ganzen Welt und in Belarus und demonstrierte die Werte des Vereinigten Königreichs. Botschafterin Fiona Gibb erklärte: „Unser Ziel ist es, Diskriminierung in Frage zu stellen.“ In Reaktion auf die britische Geste erschien auf der Website des belarussischen Innenministeriums ein anonymer Kommentar: „Vertreter von gleichgeschlechtlichen Beziehungen tragen ihre Position aggressiv vor, trotz der in der Gesellschaft geltenden Prinzipien und Traditionen. Was immer man auch sagt, gleichgeschlechtliche Beziehungen sind eine Erfindung. Und der Zweck einer Erfindung ist immer derselbe, nämlich die Wahrheit zu entwerten. Die LGBT-Menschen und ihr ganzer Kampf um ‚ihre Rechte‘ und der LGBT-Tag – das ist alles nur eine Erfindung! […] Wir treten für wirkliche Dinge ein und lassen sie damit nicht davonkommen!“
Wie soll man wohl die Feststellung „wir lassen sie damit nicht davonkommen“ verstehen, geäußert auf der Seite eines Ministeriums, das doch die Bürger schützen soll? Bedeutet diese homophobe Äußerung, dass mit einem Gesetz gegen „Propaganda“ zu rechnen ist, ähnlich dem, das 2013 in der Russländischen Föderation verabschiedet wurde? Handelt es sich um eine offen Gewaltandrohung? Oder um einen Aufruf zu Gewalt? In jedem Fall bringen solche Äußerungen verschiedene soziale Gruppen gegeneinander in Stellung und schüren Hass. Wenn ein Staatsbeamter seine Homophobie bekundet, macht er die Dinge umso schlimmer, weil er damit nicht nur seine private Meinung formuliert, sondern eine offizielle Regierungsposition.
Wenige Tage nach dem Vorfall erschien die Aktivistin Wika Bara vor dem Innenministerium mit einem Schild mit der Aufschrift „Ihr seid selbst eine Fälschung“. Später online gestellte Fotos von dieser Aktion dienten als Beweismittel für ein Strafverfahren gegen sie wegen der Organisation eines nicht genehmigten Protestes (eines Eine-Frau-Protestes).
Zwei Wochen nach dem Vorfall mit der Regenbogenfahne gab der belarussische Innenminister Igor Schunewitsch eine Erklärung zu der auf der Ministeriumswebsite veröffentlichten Äußerung ab: „Dies war eine Reifeprüfung für unsere Zivilgesellschaft. Unsere Zivilgesellschaft hat diesen Test noch nicht ganz bestanden. Keine einzige Nichtregierungsorganisation, kein Verein hat sich darüber beschwert oder verlangt, das Ding zu entfernen, das in Verletzung der Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen gezeigt wurde. Leider haben weder religiöse noch öffentliche Organisationen auf diesen Akt reagiert.“
Zugleich behauptete Schunewitsch, es gebe in Belarus keine Diskriminierung. Doch soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Hassrede gegen die LGBT-Menschen sehr wohl wahrgenommen wurde. Infolge von Wika Barans Protest gab es eine Petition, die Schunewitsch‘ Entlassung verlangte. Auf diese folgte eine kurze und absehbare Antwort: Ernennung und Entlassung des Innenministers lägen nicht in der Kompetenz der Staatsanwaltschaft.
Den Hass verstehen
Für Menschenrechtler und Journalisten geht es regelmäßig darum, welche Sprache zulässig ist, wenn von sozialen Randgruppen die Rede ist. Dabei steht im Mittelpunkt, welchen Einfluss Hassrede darauf hat, durch Hass motivierte Verbrechen gegen solche Gruppen zu begehen. Konstante Überprüfung der Mediensprache, Zusammenarbeit mit den Medien und Gespräche am runden Tisch können ein Bewusstsein dafür wecken, dass es sich hier um ein Diskursproblem handelt, und Lösungsvorschläge entwickeln. Gesetze gegen Diskriminierung, gemeinsame und freiwillige Regulierung können allesamt zur Lösung beitragen. Katie Morris, Leiterin der Abteilung Europa und Zentralasien der britischen Menschenrechtsgruppe „Article 19“, stellt fest, Selbstregulierung sei im Falle der Medien das Mittel der Wahl, da sie helfe, Einmischung von außen gering zu halten sowie ethische und professionelle Standards im Journalismus zu verbessern. Sie verweist darauf, Selbstregulierung sei insbesondere für Belarus so wichtig, weil sie vermeide, die Gesetzgebung als Hebel für Eingriffe der Zensur gegen unabhängige Medien einzusetzen.
Diese Auffassung wird von Anna Baranowskaja geteilt, Mitglied der Menschenrechtsorganisation „Human Constanta“. Allerdings gibt es im internationalen Recht keine allgemein verbindliche Definition von „Hassrede“. In der belarussischen Gesetzgebung taucht der Begriff „Hass“ nur zur Charakterisierung von kriminellen Handlungen auf, worin Andrej Bastunez, Vorsitzender des Belarussischen Journalistenverbandes, einen Teil des Problems sieht.
Nach meiner Auffassung hat Diskriminierung in Belarus gewisse Besonderheiten und Abstufungen. Allgemein gesprochen, geht sie aber in ihren Grundzügen immer noch auf eine patriarchal organisierte Gesellschaft zurück, in der Menschen in Mehrheit und Minderheiten sortiert und Probleme in wichtige und solche, die warten können, aufgeteilt werden. Wir sollten nie vergessen, dass nicht allein Staat und Regierung Macht besitzen. Macht ist auch das Verhältnis zwischen den Menschen und der anhaltenden Praxis, nichttraditionelle Lebensstile zu marginalisieren. Anders gesagt, Macht besteht in den Entscheidungen und Handlungen eines jeden einzelnen. Die Vorgänge auf Ebene der Gesetzgebung haben starken Einfluss auf die Diskurse zu bestimmten Themen, aber Diskriminierung lässt sich nicht nach der Kluft zwischen den Mächtigen und den einfachen Leuten trennen.
Mit der Exklusion verhält es sich schwieriger; sie wird sichtbar, wenn gewisse Privilegien (zum Beispiel die Möglichkeit, seine Wohnung barrierefrei zu verlassen und sich ungehindert im öffentlichen Raum zu bewegen) an die Verletzung von Grundrechten rühren. Exklusion geschieht, wenn Menschen, statt Empathie zu zeigen, so reagieren, dass jede Form von Kommunikation ausgeschlossen ist. Statt der anderen Seite zuzuhören, verteidigen wir unseren Standpunkt um jeden Preis. Aber vor wem haben wir eigentlich Angst? Vielleicht vor uns selbst?
Aus dem Englischen von Andreas R. Hofmann