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Die EU sollte Belarus endlich ernstnehmen

Gespräch mit Balázs Jarábik, Gastwissenschaftler an der Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden, geführt von Iwona Reichhardt und Daniel Gleichgewicht für New Eastern Europe und DIALOG FORUM.

 

Unlängst waren Sie beim hochrangig besetzten Minsker Dialog-Forum dabei. Auch der belarussische Präsident Aljaksandr Lukaschenka hielt dort einen Vortrag. Wie sehen Sie seine Teilnahme an einer solchen Veranstaltung, die internationale Experten und Vertreter des Dritten Sektors zusammenbringt? Welche Botschaft wollte er damit in die weite Welt schicken?

 

Balázs Jarábik

Balázs Jarábik: Am wichtigsten war, dass er überhaupt an einer von der Zivilgesellschaft veranstalteten Konferenz teilnahm. Soweit mir bekannt ist, war dies das erste Mal. Man kann das sicherlich als einen Hinweis deuten, wie sich die Haltung des Regimes zur Zivilgesellschaft in Belarus allmählich ändert. Gegenwärtig gibt es mehrere interessante Felder, auf denen die Zusammenarbeit vorankommt und die Regierung anfängt, den Wert der Zivilgesellschaft zu verstehen. Andererseits beginnt auch die Zivilgesellschaft, die Regierung als interessierte Partei zu sehen und für die eigenen Zwecke zu nutzen. Das kontrastiert deutlich mit der Konstellation der letzten zwanzig Jahre, in der sie die Regierung nur als Feind sah, der geschlagen werden musste. Ich denke, diese Veränderung ist zu begrüßen. Wichtig war auch, dass die Konferenz in Lukaschenkas Heimatland Belarus stattfand. Daher war sie praktisch überall im öffentlichen Raum präsent. Die Veranstalter teilten mit, dass die Regierung sogar für Plakatierung und Konferenzwerbung bezahlte, weil Lukaschenka daran teilnahm. Es handelt sich um eine nichtregistrierte Bürgerinitiative, darin offenbarte sich also eine ganze Reihe interessanter Zusammenhänge.

 

Welchen Einfluss hat die Situation in der Ukraine auf diese neue Öffnung des belarussischen Regimes?

Was die Sicherheit der Region betrifft, so nutzt Belarus die ukrainische Krise geschickt, um sein eigenes Image im Verhältnis zu Europa zu verbessern. Das stößt jedoch an seine Grenzen. Dieser Imagewechsel wird zwar im Westen positiv aufgenommen, ist jedoch sehr zurückhaltend und berührt nicht die Weise, wie im Innern regiert wird – weiterhin rückwärtsgewandt und repressiv. Ganz offenbar brauchen diese Reformen mehr Zeit. Die belarussische Regierung hat erkannt, dass die Situation in der Ukraine die Chance bietet, ihr eigenes Ansehen zu verbessern. Ich möchte damit nicht sagen, dass es dabei nur um Imagepflege geht, denn wenn Handelspartner Nr. 1 (Russland) und Nr. 3 (die Ukraine) von Belarus gegeneinander Krieg führen, hat das sehr negative Auswirkungen auf die Wirtschaft. Und das Regime setzt die Wirtschaft immer an erste Stelle. Der Gesellschaftsvertrag beruht auf sozialen und ökonomischen Faktoren und darauf, dass der Staat eine kompetente Wirtschaftspolitik betreibt. Daher ist es wirklich im Interesse der nationalen Sicherheit, die Sicherheit der Region zu erhöhen.

 

Es gibt immer mehr Signale aus Belarus, dass die NATO dort nicht mehr als Bedrohung für die eigene Sicherheit wahrgenommen wird. Wie sieht zur Zeit die belarussische Sicherheitspolitik aus und wie fügt sie sich ein zwischen dem Westen und Russland?

 

Was die NATO angeht, war die Konferenz sehr aufschlussreich. Lukaschenka saß in einem Panel zusammen mit dem vormaligen Chef der OVKS (der unter russischer Kontrolle stehenden Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit), dem stellvertretenden Generalsekretär der NATO und dem Generalsekretär der Organisation für Sicherzeit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Nach den Ereignissen in der Ukraine änderte Belarus seine Militärdoktrin, um sich auf einen hybriden Krieg vorzubereiten. Die belarussische Verfassung verbietet die Teilnahme eigener Truppen an Auslandseinsätzen abseits von Friedenswahrungsmissionen mit UN-Mandat, an denen sie tatsächlich auch teilnehmen. Und die belarussische Militärdoktrin wurde auf den neusten Stand gebracht, indem die Gefahr eines hybriden Krieges aufgenommen wurde. Das bedeutet nicht, dass dies ausschließlich auf Russland verweist, schließlich sind die Russen Verbündete und Mitglied in der OVKS. Aus belarussischer Sicht ist es genauso wahrscheinlich, dass eine hybride Kriegführung vom Westen her betrieben werden könnte. Belarus betrachtete die Revolution in der Ukraine als eine fünfzehn Jahre lang vom Westen vorbereitete Verschwörung.

 

Allerdings spielt der Russlandfaktor schon eine Zeitlang eine gewisse Rolle. Vielleicht erinnern Sie sich an die Kampagne von 2009, als der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedew eine Videobotschaft gegen Präsident Lukaschenka veröffentlichte, oder daran, dass der erste russische Gaskrieg sich 2014 gegen Belarus richtete. Minsk hält also an seinen Beziehungen zu Russland fest, während es zugleich stillschweigend schon seit Jahren eine weiche Belarussifizierung von Sprache und nationaler Identität betreibt. Russland beobachtet das mit einigem Unbehagen. Die belarussischen Spezialkräfte halten regelmäßig Manöver nicht nur nahe der Westgrenze, sondern auch nahe der russischen Grenze ab. Während des Militärmanövers „Sapad 2017“ (wörtlich: Westen 2017) war das unterschiedliche Vorgehen von Russland und Belarus bezeichnend. Die belarussische Seite war transparenter und hielt sich an internationale Standards, die Russen dagegen nicht. Das ist ein anderes Anzeichen dafür, dass Mink seine Haltung ändert. Im Rahmen seiner Möglichkeiten versucht Belarus, so neutral wie möglich zu sein.

 

Sie sprachen von einem veränderten Umgang von Belarus mit Russland. aber wirkt sich das auch auf Europas Haltung gegenüber Belarus aus? Sehen Sie hier eine Veränderung? Einer der Konferenzvortragenden war Andrew Wilson, Autor von „Europe’s Last Dictatorship“. Würden Sie zustimmen, dass der Westen Belarus immer noch mit den alten Etiketten versieht, trotz der Veränderungen im Land?

 

© istock/200mm

Belarus ist die letzte Diktatur in Europa, aber in letzter Zeit war das nicht mehr so häufig zu hören. Belarus hat unbezweifelbar ein stark autoritäres Regime, und das hat sich nicht verändert. Es gibt keine freien, geschweige denn faire Wahlen. Nach wie vor wird Druck auf die Zivilgesellschaft und jede Art von Opposition ausgeübt, auch wenn er etwas nachgelassen hat. Es werden mehr Geld‑ als Gefängnisstrafen verhängt, und zur Zeit gibt es keine international anerkannten politischen Gefangenen. Die Willkür der Strafverfolgungsbehörden und ihre Taktik, Geschäftsleute ins Gefängnis zu werfen, ist eine andere Form von Druckausübung, über die alle im Land sprechen. Obwohl Menschenrechtler vor Ort behaupten, es gebe örtlich anerkannte politische Gefangene, gibt es keine international anerkannten – was für den Westen die nicht zu überschreitende Linie darstellt. Insgesamt werden sich der Westen und Belarus besser kennenlernen, wenn sie ihren vorsichtigen Dialog aufrechterhalten, und das trägt dazu bei, dass weniger rhetorisches Geschütz aufgefahren und mehr miteinander gearbeitet wird.

 

Ist dies eine neue Chance für die Beziehungen?

 

Der Dialog hält an, ist aber von einem Durchbruch noch weit entfernt. Ein Durchbruch würde voraussetzen, dass Belarus die Fragen von freien Wahlen, Menschenrechten und andere Kritikpunkte angeht, etwa die besonders enge Kontrolle der Rechtsprechung durch die Strafverfolgungsbehörden oder die Dezentralisierung der Macht. Vor einigen Monaten gab der belarussische Präsident offen zu, diese Maßnahmen seien notwendig, allerdings am Ende der Transformation, nicht am Anfang. Das ähnelt dem Übergang von Diktatur zu Demokratie in Spanien. Anders gesagt, ich glaube gewiss nicht, Lukaschenka wird einem seiner Söhne die Macht vererben, sondern die Leute werden sich eher für eine politische Transformation nach spanischem Muster entscheiden. Lukaschenka wird für seinen Rückzug aus der Politik für sich eine Stellung als eine Art „Monarch“ finden. Zugleich wird es vielleicht zu einer Demokratisierung kommen, und die Macht sollte dezentralisiert werden. Während es also Veränderungen in der Haltung und dem Verhältnis zum Westen gibt, bleibt der Durchbruch aus, weil es keine Systemänderung gibt.

Das sollte aber die Europäische Union nicht daran hindern, sich mehr für das Verhältnis zu engagieren. Besonders da Belarus das einzige Nachbarland im Osten ist, das keinen gesetzlichen Rahmen für Außenbeziehungen besitzt, aber auch das einzige, dass seine territoriale Integrität hat wahren können. Die Vereinbarung über Partnerschaft und Zusammenarbeit wurde 1996 ausgesetzt. Trotz sich hinziehender Gespräche sind beide Seiten nicht in der Lage, sich auf einen Rahmen für ihre Wechselbeziehungen oder auch nur technische Fragen zu einigen, wie zum Beispiel belarussische Diplomatenpässe anzuerkennen. Ich denke, der Ball liegt jetzt bei den Europäern, weil Belarus sich an die Minimalvereinbarungen hält. Es erwartet für jeden weiteren Schritt jedoch eine Gegenleistung. Die EU sollte anfangen, Belarus ernst zu nehmen. Wenn wir uns die bereitgestellten Mittel anschauen – jährlich gehen 28 Millionen Euro nach Belarus – kommt einem das Wort Peanuts in den Sinn.

 

Es könnte viel mehr getan werden, aber die EU ist anscheinend vollauf mit der Ukraine beschäftigt und zeigt keinerlei Neigung, eine aktivere Belarus-Politik zu betreiben. Ich führe das teilweise darauf zurück, dass das Land sich gegen die Integration in die EU entschieden hat und das Lukaschenka-Regime fest im Sattel sitzt. Daher sehen weder die EU noch Belarus, welchen Nutzen sie aus einer weiteren Annäherung ziehen könnten, und das ist wahrscheinlich der größte Hinderungsgrund. Die Gespräche gehen weiter, doch bleibt es schwierig, sich auf gemeinsame Inhalte zu verständigen, eine gemeinsame Basis zu finden. Die Belarussen denken, „wir haben so viel für euch getan“, während europäische Länder, darunter Deutschland, immer noch offizielle belarussische Pässe nicht anerkennen. Das ist eigentlich bei den Ländern der Östlichen Partnerschaft nicht die Norm, also kann Belarus wieder behaupten, die EU messe mit zweierlei Maß.

 

Es ist länger als ein Jahr her, seit das Dekret über visafreie Kurzbesuche für EU-Bürger in Belarus in Kraft getreten ist. Hat das aus Ihrer Sicht echte Veränderungen gebracht oder handelt es sich um einen anderen Schachzug in dem Spiel, das Lukaschenka spielt?

 

Wenn es überhaupt einen Durchbruch gegeben hat, dann diesen. Die Belarussen haben da etwas getan, ohne eine Gegenleistung von der EU zu erhalten. Und nicht allein die EU kam in den Genuss dieser Maßnahme. Sie taten das, um dem Tourismus einen Schub zu geben. Für Belarus war das ein wichtiger Schritt, um seine Isolation zu durchbrechen. Ein erstes Anzeichen gab es 2012, als Belarus Gastgeber der Eishockeyweltmeisterschaft war, eine für das Land sehr erfolgreiche Veranstaltung. Das zweite Anzeichen war, dass Minsk erkannt hatte, der Westen verfolgt keine Strategie des Regimewechsels mehr. Diese war alles in allem bereits 2006 aufgegeben worden, aber das besänftigte nicht die Befürchtungen in Minsk, vor allem im Hinblick auf die Rechtfertigung und Stellung der Silowiki [russische Bezeichnung für die aus Militär oder Geheimdienst stammenden Führungspolitiker in den Nachfolgestaaten der UdSSR; A.d.Ü.] Nach den Erfahrungen mit der Orangenen Revolution in der Ukraine hat die EU verstanden, es sei besser, Kontakte mit der Regierung zu pflegen, anstatt etwas zu unterstützen, das möglicherweise nicht die Änderung brachte, wie wir sie uns wünschten. Nach dem Euromajdan und der Ukrainekrise hat sich der Kontext von all dem sehr stark verändert, seit Russland mit harten Bandagen spielt.

 

Ist Belarus dabei, seine Selbstisolierung zu beenden? Streckt es seine Hand aus?

 

Der Imagewechsel, die Frage der regionalen Sicherheit und die Beschlüsse zur Ukrainekrise stecken alle als motivierende Faktoren dahinter. Auch ist zu erkennen, dass sich ein reformiertes Außenministerium an die Spitze dieser Öffnungsbewegung gestellt hat, aber es ist auch offenkundig, dass die Strafverfolgungsbehörden darin keine Priorität sehen. Außerdem ist die Regierung gewohnt, bei sich zuhause alles sofort zu bekommen, was sie will, aber Investoren und Touristen anzulocken, ist vielleicht nicht ganz so einfach. Die Regierung könnte frustriert sein, dass es so viel Zeit braucht, um das Image zu verbessern, um Touristen anzulocken und ein günstigeres Geschäftsklima zu schaffen. Die Regierung ist immer noch überall stark präsent, aber es gibt Anzeichen einer Lockerung. Aber wie lange können sie auf diese Art weitermachen?

 

Die EU hat es mit einem autoritären Partner zu tun, aber doch mit einem Partner, der sein Land gut im Griff hat, besonders im Vergleich zur Ukraine oder Moldawien. Es ist schwierig, mit der belarussischen Regierung auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, aber wenn das einmal geschafft ist, hält der Staat seine Verpflichtungen auch ein. Das Hauptziel der Östlichen Partnerschaft ist, die Region zu stabilisieren. Also gibt es ein stabiles und autoritäres Belarus und eine demokratische, aber immer noch instabile Ukraine. Die EU beschließt, die Ukraine finanziell, materiell und mit politischem Engagement zu unterstützen. Niemand in der EU, mich eingeschlossen, sollte sich irgendwelche Illusionen darüber machen, die Regierung in Belarus werde die Kontrolle aufgeben. Aber der Regierung wird es schwerer fallen, Repressionen gegen die eigenen Bürger zu rechtfertigen, besonders da es Reformen gibt, um den Bürgern direkt mehr Kosten aufzubürden. Der Grund für die jüngsten Veränderungen ist der, dass der Gesellschaftsvertrag, der gewiss in Belarus besteht, von den Bürgern gewollte Leistungen garantiert, selbst wenn es keine Demokratie gibt. Der Niedergang der russischen Wirtschaft hat auch Belarus in Mitleidenschaft gezogen, weil die Märkte voneinander abhängen und Russland keine Subsidien mehr zahlt wie zuvor. Die Regierung hat schließlich mehr Freiheit gewährt im Austausch für weniger ökonomische Vorteile und ist sehr empfindlich gegenüber der öffentlichen Meinung geworden. Was meiner Ansicht nach möglicherweise weiterhin passieren wird, ist eine langsame, allmähliche Veränderung in Richtung marktwirtschaftliche Denkweise, Regeln und Management. Eine Langzeittherapie ohne Schock.

 

Balázs Jarábik ist Gastwissenschaftler bei der Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden, er forscht über Ost‑ und Mitteleuropa und insbesondere die Ukraine.

 

Iwona Reichhardt ist stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift „New Eastern Europe“. Daniel Gleichgewicht ist Redaktionsassistent bei „New Eastern Europe“.

 

Aus dem Englischen von Andreas R. Hofmann

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Interview: New Eastern Europe

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