Im Spätherbst 1945 machte sich Jerzy Stempowski von der Schweiz aus, wo er während des Krieges gelebt hatte, über Österreich nach Norden auf, nach Deutschland. Am 13. November war er in Innsbruck, dann fuhr er weiter nach Süddeutschland, nach München und Frankfurt. Seine Tour hatte sicher einige Ziele, aber eines scheint klar zu sein: Stempowski wollte Deutschland nach der Kapitulation mit eigenen Augen sehen, um danach Bericht zu erstatten, wie eine Welt aussieht, die aus den Fugen geraten ist, gezeichnet von der Niederlage und einer schwer zu verstehenden Völkerwanderung – von Ost nach West und von West nach Ost. So entstand sein Tagebuch einer Reise durch Österreich und Deutschland, das das „Instytut Literacki“ 1946 veröffentlichte. Gleichfalls im Herbst, aber viele Jahre später, nämlich im Jahre 2017, schlug die Redaktion des „Przegląd Polityczny“ Jacek Hajduk vor, den Weg zu wiederholen, auf den sich Jerzy Stempowski 1945 begeben hatte. Das Ziel der Tour war ebenfalls klar. Hajduk sollte die Welt nach der großen Völkerwanderung aus dem Nahen Osten sehen, deren Zeugen wir vor drei Jahren geworden sind. Er sollte an dieselben Orte gelangen, die Stempowski besucht hatte, und – ähnlich wie dieser – darüber berichten, was er sieht. Die Ergebnisse dieser Expedition veröffentlichen wir im Folgenden. Sein Tagebuch ist also sowohl Zeugnis dieser Reise als auch eine große Huldigung an Jerzy Stempowski. Wir laden zur Lektüre des erstmalig ins Deutsche Übersetzten Textes ein.
Teil I: Tagebuch einer Reise nach Österreich und Deutschland
Alle Staaten sind einander ähnlich, jedes Land ist auf seine Weise eine Heimat.
Die Spezifik der deutschen und der polnischen Debatten lässt schon auf den ersten Blick keine Zweifel in Bezug auf die Unterschiede zu, die sie trennen. Presseüberschriften wie „Deutsche Kopfschmerzen wegen der Flüchtlinge“ oder „Die Deutschen sind in einer ihrer größten Städte zur Minderheit geworden“ sind eine Spezialität von Wochenzeitungen in Polen, aber nicht der Presse der Interessenten selbst. Für unsere westlichen Nachbarn ist der Satz „es gibt kein Deutschland ohne den Islam“ nicht so sehr eine ungeheuerliche und haarsträubende Provokation, als vielmehr eine akzeptable These, mit der Gespräche über die für das Land und den Kontinent wichtigsten Dinge beginnen können.
Ich komme genau zu einer Zeit, als die Temperatur dieser Gespräche sichtbar zunimmt. Emotionen wecken nicht mehr nur die Äußerungen von Politikern der an Stärke gewinnenden „Alternative für Deutschland“, sondern auch von Vertretern der Regierungskoalition, besonders der bayerischen CSU, auf die die einen Deutschen mit Entrüstung reagieren, die anderen genau entgegengesetzt: „Sie sagen, was wir wirklich denken!“.
Salzburg
Salzburg, Hauptstadt des gleichnamigen Bundeslands, das an Deutschland, Oberösterreich, die Steiermark, Kärnten, Tirol und Italien grenzt, sah ich erst am Tag nach meiner Ankunft dort. Als erster Punkt und Ort meines Übernachtungsaufenthalts stellte sich unerwarteter Weise ein stadtnahes Hotel oder vielleicht Gästehaus heraus, das gleichzeitig, wie sich zeigte, die Funktion eines geheimnisvollen Meditationszentrums erfüllte, das zwischen verschiedenen religiösen Strömungen nicht ganz eindeutig hin und her driftete. Interessanterweise, in jedem Fall für einen Ankömmling aus Polen, standen die Häuser in dieser stadtnahen Gemeinde (obwohl es Nacht war) offen, und ihre höflichen, lächelnden Bewohner, die dabei auf eine schwer zu beschreibende Weise irgendwie abwesend waren, wunderten sich überhaupt nicht, als sie sahen, dass Fremde hereinkamen. Überall verhielten sie sich so, als ob die Person, die die Schwelle ihres Hauses überschritt, jemand lang Erwartetes war.
Ältere keltische Siedlungen verbindend schufen im Grunde die Römer diesen Ort, wie dies oft der Fall war. Sie nannten ihn Iuvavum. Das geschah zu Zeiten von Kaiser Claudius. Die Stadt wurde mit der Zeit ein wichtiges Zentrum der Provinz Noricum und diese Konjunktur dauerte einige Jahrhunderte an. Seinen heutigen Namen verdankt es, ähnlich wie der hier verlaufende Fluss Salzach, dem Salz, dessen Transport mit Schiffen eine wichtige Säule der lokalen Wirtschaft darstellte: Salzburg oder auf Latein Salis Burgium, altpolnisch Solnogród. Man muss aber wissen, dass Salzburg erst seit dem 8. Jahrhundert so heißt, als ihm der hl. Rupert, ein Missionar und späterer hiesiger Bischof, diesen Namen offiziell verlieh.
Ende 1945, also nicht lange nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs, kam Jerzy Stempowski, ein Reisender wider Willen, nach Salzburg, nicht zum ersten Mal mein Führer durch Europa. Die Stadt kam ihm, trotz der geringen Anzahl an Ruinen, traurig vor. Inmitten der blattlosen Bäume – schrieb er – an einem kalten Herbstnachmittag sieht sie aus wie ein armer Mensch, der sich am helllichten Tage schlecht in seinen Lumpen fühlt (Tagebuch einer Reise nach Österreich und Deutschland, 20. November 1945). Wenn man aber so viele Jahrzehnte später durch diese Stadt geht, teilt man mit Stempowski eher einen anderen Eindruck: wir machen uns die Rolle alter Gebäude bewusst. Die Geschichte Salzburgs lehrt, dass jede Stadt mit alten, schönen Gebäuden eine bekannte oder noch unentdeckte Kraft besitzt, die ihren Einwohnern nicht nur Brot und Wein bieten kann, sondern auch neues Leben, weil es sie mit den großen Strömungen des Denkens und der Kunst verbindet (20. November). Beim Besichtigen sind wir es gewöhnt, Denkmäler und Ruinen als etwas vom lebendigen Gewebe der Stadt Getrenntes zu betrachten. Wenn wir eine Eintrittskarte kaufen, kaufen wir Ersatz für eine Welt, die vergangen ist. Das Salzburg von heute ist dagegen zugleich das seiner früheren Bewohner. Genotypisch erinnert die Stadt Mozarts an ein Philharmoniegebäude, in dem ein zeitloses, ideal dirigiertes symphonisches Konzert stattfindet. Wenn wir von nah zuhören, spielt von der einen oder anderen Straße aus eine Gruppe der Geigen lauter, wenn wir aber auf den angenehm schattigen kleinen Weg zum Kapuzinerberg abbiegen und uns dort auf eine Bank setzen, um das Panorama zu erfassen, trifft uns die urbanistische Harmonie des ganzen Orchesters.
Natürlich ist solch ein musikalischer Vergleich, wenngleich er sich den Ankommenden spontan und gleichsam intuitiv aufdrängt, im Grunde nichts Neues. Es ist klar – schrieb Stempowski – dass wir diesen ganzen neuen Ruhm Mozarts und Salzburgs uns nicht ohne den Residenzplatz und den ihn umgebenden Komplex der bischöflichen Rokoko-Architektur vorstellen können. Ja, mehr noch: die Reise nach Salzburg war unabdingbar für das Verständnis Mozarts (20. November).
Wolfgang Amadeus Mozart, der hier 1756 geboren wurde und einen bedeutenden Teil seines nicht allzu langen Lebens hier wohnte, ist stärker mit Salzburg verwachsen als irgendein anderer Mensch mit irgendeiner anderen Stadt. Mozart und Salzburg sind eine Einheit. Gewohnheitsmäßig durch die Straßen der Stadt flanierend, versucht Stempowski in den Gesichtern der Einwohner Züge ihrer großen Vorfahren zu erblicken, hier sucht er also um sich herum Mozarts von heute. Er findet sie genauso wie ich, der sich viele Jahre später auf seine Spuren begibt, eher in den Andenkenläden, in den Vitrinen der Geschäfte oder auf Plakaten. Mozart lebt natürlich nicht so sehr in den Menschen, sondern in den Mauern dieser Stadt, ihren Gärten, im Rauschen der Bäume und im Gesang der Vögel. Er ist ihr Schutzengel und Patron.
Im frühen Mittelalter – schrieb Stempowski – schützten wundersame Reliquien von Heiligen mitunter Städte vor Krieg und Seuchen. Sie zogen zugleich Ströme von Pilgern an, die für die Belebung des Handels unentbehrlich waren. Ein solch wundertätiger Schutzherr Salzburgs ist in unseren Tagen Mozart geworden. Die Stadt verwahrt seine Reliquien in drei Häusern, die zum Glück alle erhalten sind (20. November). Heute sind zwei dieser Häuser für Besucher zugänglich. Beide Museen ergänzen sich ausgezeichnet – das „echte“, wo wir uns wie am Drehort von Miloš Formans „Amadeus“ fühlen können, und das Haus, in dem der Komponist seine Kinderjahre verbrachte und wo sich nicht nur eine Locke seiner Haare, sondern auch seine erste Geige erhalten haben.
In Salzburg muss sich Stempowski, der ein echter Städteliebhaber war, sehr gut gefühlt haben, falls er sich überhaupt irgendwo wohlgefühlt hat. Er schrieb einmal, dass das Gebiet, welches viel edler sei als die Literatur, mit der er sich beinahe ungern beschäftige, die klassische Musik sei. In einem anderen Leben sah er sich als Musik- oder Theaterkritiker. Mit Leichtigkeit stelle ich mir hier, auf einer Bank, diesen Gentleman mit Hut, hellem Anzug und Fliege vor, diesen Herrn mit seinem klaren, intelligenten Blick, der zugleich voller Bitterkeit und Resignation ist, mit seiner runden Brille und der erlöschenden Zigarette am Rande seiner Lippen. Er hält ein Konzertprogramm in der Hand, wartet auf jemanden, vielleicht aber auch nur auf einen günstigen Moment, um allein in die Oper oder die Philharmonie zu gehen.
Obersalzberg
In einem gewissen Sinn kann man sagen, dass hier der Zweite Weltkrieg begonnen und auch geendet hat.
Als Adolf Hitler im Mai 1924 zum ersten Mal den Obersalzberg besuchte, war es, nach den Erinnerungen von Zeitzeugen, ein reizvolles idyllisches Alpendorf. Alles sah hier so aus wie hundert oder tausend Jahre vorher. Die Zeit stand still. Das einzige, was sich änderte, waren die Jahres- und Tageszeiten. Die Menschen lebten und starben, ohne andere Sorgen zu kennen als die gewöhnlichen des Alltags.
Die Anwesenheit eines neuen Mieters löste anfänglich keine größeren Emotionen aus: es war ein lächelnder Herr aus München, der lange Spaziergänge liebte, Hunde und Kinder streichelte, herzlich mit den Nachbarn plauderte; meistens war er aber nicht da. Erst nach 1925 begann sich Hitler öfter hier aufzuhalten, als er nach dem misslungenen Putsch einen Teil seiner Strafe abgesessen hatte. Hier schloss er „Mein Kampf“ ab und hier liebte er es, seine Träume von der Macht zu spinnen. Seit dem Jahr 1933, als er zum Reichskanzler gewählt wurde, begann sich der Obersalzberg in ein wahres Mekka des Nationalsozialismus zu verwandeln. Immer zahlreicher fuhren nicht nur die engsten Mitarbeiter, sondern auch fanatische Anhänger Hitlers hierher. Sie standen stundenlang an den Wegen, die er, ihrem Wissen nach, an diesem Tag entlangfahren würde. Um in Euphorie zu verfallen, reichte den Versammelten ein Blick des Führers, der, sei es nur flüchtig, in Richtung des Ortes geworfen wurde, wo sie geduldig auf ihn gewartet hatten. Mit der Zeit aber wurde dies sowohl für die Bewohner als auch die auf dem Obersalzberg untergebrachte Nazi-Elite mit Hitler selbst an der Spitze sehr mühsam. Es war klar, dass es zu eng geworden war. Man musste die Sache lösen und das tat man: man siedelte die Einwohner aus, schickte die Fanatiker weg und konnte nun ruhig, im Kreise von Vertrauten, die leuchtende Zukunft entwerfen.
Den 23. August 1939 verbrachte hier Albert Speer, einer der engsten Mitarbeiter und der Hofarchitekt des Dritten Reichs, mit dem Führer. An diesem Tag wurde im Kreml der Ribbentrop-Molotov-Pakt unterzeichnet. In seinen Erinnerungen schrieb Speer: In der Nacht standen wir mit Hitler auf der Terrasse des Berghofes und bestaunten ein seltsames Naturschauspiel. Ein überaus starkes Polarlicht überflutete den gegenüberliegenden, sagenumwobenen Untersberg für eine lange Stunde mit rotem Licht, während der Himmel darüber in den verschiedensten Regenbogenfarben spielte. Der Schlussakt der „Götterdämmerung“ hätte nicht effektvoller inszeniert werden können. Gesichter und Hände eines jeden von uns waren unnatürlich rot gefärbt. Das Schauspiel rief eine eigentümlich nachdenkliche Stimmung hervor. Unvermittelt sagte Hitler zu einem seiner militärischen Adjutanten gewandt: Das sieht nach viel Blut aus. Dieses Mal wird es nicht ohne Gewalt abgehen.
Diese schwere Luft, die etwas Unabwendbares ankündigt, hing schon früher über den Alpengipfeln. Als am 4. Januar des gleichen Jahres der polnische Außenminister Józef Beck auf dem Obersalzberg zu Gast war, hörte er von Hitler: Gebt mir Danzig, denn das ist eine Frage meiner Ehre. Der polnische Außenminister, vom Führer zum Tee gebeten, antwortete: Danzig ist eine Frage der Ehre meines Volkes. Seinem Sekretär warf er noch kurz zu: das ist der Krieg (Michał Łubieński, Refleksje i reminiscencje, 2012).
Die Karriere des Obersalzbergs als Wohnsitz Hitlers dauerte genauso lang wie der Führer und sein Drittes Reich selbst, bis zum 25. April 1945. Die Alliierten führten einen spektakulären Luftangriff durch. An einem klaren Morgen, zwischen 9 und 11 Uhr flogen fast 500 Flugzeuge hierhin, um „Hitlers Horst“ zu zerstören. Das geschah eigentlich schon nach dem Krieg, die Aktion hatte also eher den Charakter einer Besiegelung der Niederlage des schon in den letzten Zügen liegenden Feindes. Trotz der alliierten Erfolgspropaganda war der Angriff der Royal Air Force nicht so erfolgreich. Es gelang zum Beispiel nicht, das gewaltige Bunkernetz zu zerstören, und die Zahl der Getöteten war für das Ausmaß der Bombardierungen eher klein.
Und dennoch veränderte der Luftangriff die alpine Landschaft bis zur Unkenntlichkeit. Die Explosionen organisierten diese Welt vollkommen neu: dort, wo sich zuvor Anhöhen aufgetürmt hatten, entstanden Krater; anderswo bildeten sich neue Hügel. Wege veränderten ihren Lauf oder wurden komplett unpassierbar. Von den Villen der Nazioffiziere, darunter denen Görings und Bormanns, blieben nur Ruinen.
Nach dem Krieg wurde der Ort ein touristischer Leckerbissen. Auf der Besucherliste gab es zwei stabile Punkte: den Berghof, also Hitlers Haus, und den „Adlerhorst“. Die Residenz oder auch nur Fragmente der Mauern, die von ihr geblieben waren, gibt es heute nicht mehr. Amerikanische Soldaten, die im Berghof ein Zeichen ihrer Wut und ihres Triumphes hinterlassen wollten, überzogen ihn angeblich mit ihren Unterschriften, schrieben ihre Namen, den ihrer Einheit und den Herkunftsort dazu. Der Adlerhorst bzw. das Teehaus auf dem Kehlstein, von wo man zuvor die Hitlerbüste entfernt hatte, ist für Besucher in der Sommersaison zugänglich und dient jetzt als Restaurant, Aussichts- und Informationspunkt.
Auf dem Obersalzberg befindet sich heute ein Dokumentationszentrum und Museum, in das Ausländer und Deutsche gerne zu historischen Vorträgen kommen. Es lohnt sich, dort auf gewundenen Alpenwegen hinaufzufahren, um sich das breite Panorama des neu entworfenen Europas anzusehen, das die Führer des Dritten Reichs vor Augen hatten, aber auch des realen, heutigen, wo die alliierten Bomber und günstige Winde historischer Veränderungen das Dritte Reich ausgelöscht haben.
Aus dem Polnischen von Markus Krzoska