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Deutschland, Frankreich und der Vertrag von Aachen: Jubiläumsmüdigkeit oder Schaffung Kerneuropas?

Aachen – seine Lage und seine Geschichte – als Sinnbild der Einheit Europas. Der Geist Kaiser Karls des Großen als Omen der Überwindung von Teilungen in einem zusammenwachsenden Kontinent. Diese sinnstiftende Rolle spielt die Stadt als – idealisierter – lieu de mémoire (Erinnerungsort) für das sonst weiterhin ziemlich symbolarme und emotional nüchterne Projekt der Europäischen Union jüngst des Öfteren. Die Zeit der Gründungsväter der einstigen Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und später der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft liegt schon etwa drei Generationen zurück, verflogen ist der im Trauma des Zweiten Weltkriegs gediegene, erlebte und gelebte Wille zur friedensstiftenden Zusammenarbeit zwischen europäischen Nachbarn.

 

Den heutigen Europäern fällt es immer schwerer, das damalige Gefühl für das Schicksalhafte des europäischen Nachkriegsprojekts nachzuempfinden, ja bei manchen jüngeren Bürgern sogar schlicht nachzuvollziehen. Und nun verbindet sich der Topos Aachen schon zum zweiten Mal innerhalb von nur knapp neun Monaten mit dem Stichwort Europa, ja mit Europa als Wille und Vorstellung möchte man beinahe hinzufügen, verkörpert durch einen der entschiedensten (wenn auch mittlerweile innenpolitisch geschwächten) Befürworter und Verfechter des heutigen EU-Projekts – den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron.

 

Während Macron im Mai 2018 in Aachen offiziell den Karlspreis erhielt und zu diesem Anlass in der Verleihungsrede erneut sein Engagement für die Causa Europa nicht ohne Pathos, aufgrund damaliger deutscher Zurückhaltung jedoch etwas hilflos zum Ausdruck brachte, wurde die einstige Hauptstadt des Karolingischen Reichs von ihm und Bundeskanzlerin Angela Merkel nun zum Schauplatz für die Unterzeichnung eines neuen deutsch-französischen Vertrags erkoren. Diese fand – jubiläumsgerecht – am 22. Januar 2019 statt.

 

In der Wahl des Ortes und der Durchführung dieser Neugründung des besonderen deutsch-französischen Verhältnisses war der Wille, in und für Europa Sinn zu stiften, Traditionen zu pflegen, aber auch neue Wege zu weisen, unübersehbar. Es galt, nur wenige Monate vor den Europawahlen Kontinuität und Stabilität hervorzuheben in einem europäischen Kontext, der sich eher durch Unsicherheit und Brüche auszeichnet: Brexit, Erfolge populistischer EU-Skepsis u.a. in Ungarn, Polen und Italien, Untergrabung der euroatlantischen Sicherheitsgemeinschaft, Herausforderungen Russlands an die EU…

 

Insofern zeugte das zuvor öffentlich und politisch kaum diskutierte Zustandekommen des Vertrags von Aachen auch angesichts des nicht gerade runden 56. Jahrestages der historisch bahnbrechenden Unterzeichnung des sogenannten Élysée-Vertrags sowohl von einer gewissen bilateralen Jubiläumsmüdigkeit als auch von europapolitischem, teilweise vom EU-Kalender aufgezwungenem Tatendrang.

 

Man wird der Kanzlerin und dem Präsidenten zwar keineswegs abstreiten, dass die bilateralen Projekte, die in Aachen in die Wege geleitet bzw. beiderseits offiziell befürwortet worden sind, für die Zukunft der deutsch-französischen Zusammenarbeit und die weitere Integration Europas von Bedeutung sein werden. Immerhin haben sich Frankreich und Deutschland beispielsweise darauf geeinigt, in ihrem gemeinsamen Grenzbereich mehr transnationale Kooperation und grenzübergreifenden Regionalismus zu fördern. Dieses Vorhaben besitzt neben dem tatsächlichen Nutzen natürlich symbolische Stärke – gerade angesichts der noch frischen Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag des Waffenstillstands von 1918.

 

© Picture Alliance

Auch die im Vertrag vereinbarte Stärkung der bilateralen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich im Gebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik innerhalb der EU zeugen vom politischen Willen beider Regierungen, aufgrund der sich zunehmend und immer klarer abzeichnenden Tendenz der Vereinigten Staaten, ihre Rolle als Garant für die Sicherheit des europäischen Wohlstands aufzugeben oder zumindest stark einzuschränken, sich für einen selbstständigen, integrierten Schutz der EU gegen militärische Bedrohungen einzusetzen.

 

Ob es eines neuen Vertrags bedurfte, um den auf beiden Seiten des Rheins empfundenen Bedarf an weiterer deutsch-französischer Integration in Europa über Sonntagsreden hinaus tatsächlich auch in die Praxis umzusetzen, bleibt dahingestellt. Die meisten Initiativen, die Berlin und Paris nun zusammen darlegen, hätten auch ohne den Vertrag von Aachen initiiert werden können – so etwa der jüngste gemeinsame Vorschlag, ein neues Haushaltsinstrument für die Eurozone zu schaffen, oder der immerhin 1,7 Milliarde schwere Plan zur Unterstützung der europäischen Produktion von Batteriezellen für Elektrofahrzeuge gegen (vor allem) die asiatische Konkurrenz.

 

Selbstverständlich trägt jedoch die Unterzeichnung des neuen Vertrags dazu bei, entsprechenden, bereits reifen, sowie auch noch keimenden deutsch-französischen Projekten das Rückgrat politisch zu stärken. Aachen sollte bestimmt auch als klares Signal an die EU-Partner fungieren: Als Einladung an diejenigen, die sich vom deutsch-französischen Integrationsschub angetan fühlen und mitmachen möchten; als Mahnung an die Skeptiker bzw. souveränistisch motivierten Bremser wiederum, Integration sei nicht aufzuhalten und könne unter Umständen auch mit verschiedenen Geschwindigkeiten erfolgen.

 

Ob durch das Arbeitstreffen zwischen dem französischen Finanzminister Bruno Le Maire und seinem deutschen Amtskollegen Olaf Scholz oder Angela Merkels jüngsten Besuch im Élysée-Palast (am 27. Februar 2019) – Deutschland und Frankreich möchten klare Zeichen setzen und handeln. Dass dies nicht ohne Reibungen erfolgen kann, ist offenliegend: Unterschiedliche Interessenlagen wurden bereits in Sachen Energiepolitik um das Projekt Nordstream 2 deutlich, auch in Sachen Waffenexport sind sich Paris und Berlin nicht einig. Wichtig ist, dass beide Seiten kompromissbereit bleiben.

 

Nach Jahren vor sich hin torkelnder deutsch-französischer, politischer Zusammenarbeit unter dem Zeichen wohlwollender Gleichgültigkeit – trotz unverändert starker Verflechtung beider Volkswirtschaften – muss dieser gegenseitig erwartete Neubeginn bei den EU-Skeptikern natürlich Bedenken hervorrufen, gar Ängste auslösen. Deutlich zu vernehmen waren u.a. Stimmen aus der Visegrád-Gruppe, doch auch die französischen Rechtsradikalen der Front National wurden hellhörig, wobei sie gleich versuchten, alte Ängste aufzuwärmen (z.B. vor einer vermeintlichen „Germanisierung des Elsasses”…).

 

Eigentlich sind jedoch gerade die Franzosen sehr bemüht, der besonders im Osten und im Süden der EU bestehenden Sorge, ein exklusives Kerneuropa sei gerade im Entstehen, zu entschärfen. Das liest sich besonders an der jüngsten Wiederannäherung zwischen Paris und Warschau ab. Nach den dicht aufeinander folgenden Besuchen der französischen Staatssekretärin für europäische Angelegenheiten, Nathalie Loiseau am 29. Januar und des französischen Finanzministers Bruno Le Maire am 22. Februar 2019, könnte aller Wahrscheinlichkeit nach noch im Frühling 2019 Emmanuel Macron höchstpersönlich in Warschau auftreten.

 

Dass sich der deutsch-französische europapolitische Vorstoß auch wie eine Charmeoffensive auswirken kann, zeigt beispielsweise die Tatsache, dass Polen schon Ende Februar sein Interesse zum Ausdruck gebracht hat, in das von Deutschland und Frankreich getragene Unterstützungsprojekt für die Herstellung von Batteriezellen einzusteigen.

 

Man kann jedenfalls nur hoffen, dass auch das untote Weimarer Dreieck durch den deutsch-französischen Neustart bald wieder in Schwung gebracht wird.

Pierre-Frédéric Weber

Pierre-Frédéric Weber

Dr. habil. Pierre-Frédéric Weber ist Historiker und Politikwissenschaftler und lehrt als Dozent an der Universität zu Szczecin (Polen). In seinem jüngsten Buch befasst er sich mit dem Phänomen der Angst vor Deutschland in Europa seit 1945 ("Timor Teutonorum", Schöningh, Paderborn 2015).

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