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„Wir müssen reden“: Macron im Gespräch mit Frankreich

Die „Große nationale Debatte“ (Grand débat national), die Präsident Emmanuel Macron Frankreich verordnet hatte, ging am 15. März nach zwei Monaten zu Ende. Zwischen 400.000 und 500.000 Personen nahmen an etwa 10.300 lokalen Veranstaltungen in ganz Frankreich teil; 1,4 Millionen Beiträge wurden auf der eigens eingerichteten Website geteilt. Das Ziel der partizipatorischen Übung: Die gesellschaftlichen Spannungen rund um die Bewegung der „Gelbwesten“ seit November 2018 abzubauen, und, wie Macron bei der Ankündigung der Debatte schreibt, „mehr Klarheit für das nationale und europäische Projekt Frankreichs, neue Wege um die Zukunft anzugehen und neue Ideen“ zu erlangen.

 

Angesichts dieser Zielsetzung kann kaum entlang der Kategorien „Erfolg“ oder „Misserfolg“ Bilanz gezogen werden. Drei Beobachtungen können dennoch bereits jetzt gemacht werden, auch wenn sie selbstverständlich nicht ausschließlich die Konsequenz des „Grand débat“ sein mögen und die gründliche Auswertung der Beiträge hunderttausender Franzosen nun erst beginnt. Erstens konnte sich Macron in den vergangenen Wochen politisch wieder stabilisieren, nachdem ihm das Regieren unter stetig fallenden Beliebtheitswerten, den Gelbwesten-Protesten und anderen außenpolitischen Baustellen wie der gebremsten Europapolitik zu entgleiten drohte. Die Debatte konnte größere Aufmerksamkeit auf sich ziehen als die Gelbwesten. Zweitens sank die breite Unterstützung aus der Gesellschaft, die der Protestbewegung trotz eher geringer Teilnahmezahlen so große Kraft gegeben hatte, deutlich ab. Mit den bisherigen Maßnahmen und der angestoßenen Debatte scheint Macron also für viele glaubhaft ein „Verstanden!“ signalisiert zu haben. Doch all dies genügt offensichtlich nicht, um – drittens – eine Radikalisierung der Bewegung zu verhindern. Der Protestsamstag direkt nach dem Ende des „Grand débat“ markierte nach mehreren überwiegend friedlich verlaufenen Protesten in Paris ein Wiedererstarken gewalttätiger Protestteilnehmer. Obwohl in der Minderheit, überschatten die Ausschreitungen einerseits die zeitgleich stattfindenden, weit größeren Demonstrationen für den Klimaschutz, zu denen sich auch viele Gelbwesten gesellten, als auch die wichtigen und positiven Impulse, die der „Grand débat“ durchaus gesetzt hat.

 

Misstrauen und Unzufriedenheit mit der Demokratie sind verbreitet

Die Proteste der Gelbwesten weiteten sich rasch vom ursprünglichen Widerstand gegen die steigende Kraftstoffsteuer zu viel umfassenderen Forderungen nach mehr Kaufkraft und Steuergerechtigkeit aus, hin zur Einführung direktdemokratischer Instrumente und Reformen der politischen Institutionen Frankreichs. Die Forderungen sind heterogen und entziehen sich einer Einordnung in bestimmte politische Lager. Sie drücken vielmehr ein verbreitetes Gefühl aus, dass etwas „nicht richtig läuft“: Steigende Lebenshaltungskosten belasten die Haushaltsbudgets gerade unterer und mittlerer Einkommen; der Rückbau von Industrie und Infrastruktur in bestimmten Regionen abseits der Großstädte als Wirtschaftszentren führt zu einem Gefühl der Vernachlässigung und des Übersehenwerdens durch die in Paris zentralisierte Politik. Das Vertrauen in Frankreichs politisches Personal ist in den letzten Jahren immer weiter gesunken; politisch bemerkbar macht es sich an dem Erstarken jeglicher Partei oder Bewegung, die einen Wechsel verspricht: Das waren 2017 bei den Präsidentschaftswahlen Emmanuel Macron mit „En marche!“, der Linke Jean-Luc Mélenchon mit „La France insoumise“ oder Marine Le Pen mit ihrem rechtsradikalen „Front National“ (heute „Rassemblement National“). Zugleich waren die Wahlenthaltungen und bewusst ungültig gemachten Stimmen bei keiner Wahl so hoch wie 2017. Rund 70 Prozent der Franzosen sind unzufrieden mit der Funktionsweise ihrer Demokratie, so bescheinigt es eine im Januar vom Forschungszentrum CEVIPOF erhobene Studie. Diese Grundstimmung ist der Nährboden, auf  dem inmitten Macrons Reformeifer mit einer Vielzahl umstrittener Sozial- und Wirtschaftsreformen eine eigentlich kleine Reform der Erhöhung der Kraftstoffsteuer genügte, um die Bewegung der Gelbwesten auszulösen. Macron reagierte erst zu einem Zeitpunkt auf die Proteste, als die einfache Rücknahme der besagten Reform und eine Ankündigung von weiteren Maßnahmen wie der Erhöhung des Mindestlohns nicht mehr genügten, da sich die Unzufriedenheit längst auf viel tieferliegende Fragen politischer und gesellschaftlicher Spielregeln richtete.

 

Debatten im ganzen Land als demokratischer Moment

Seit jeher stark in symbolischen Gesten, unterbreitete Macron den Franzosen zu Beginn des Jahres in einem Brief, der allen Haushalten zugesendet wurde, das Angebot von Debatten und Foren des Austauschs, die von gewählten Amtsträgern, Institutionen oder Vereinen auf allen politischen Ebenen organisiert werden konnten. Die Idee knüpft an Macrons Wahlkampf an, als er als Kandidat und seine Mitstreiter mit einer „Grande marche“ durch das Land reisten, um in Tür-zu-Tür-Gesprächen, auf Marktplätzen und in Gemeindesälen mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und ihre Belange besser zu verstehen.

© istock/jfollby

Galt er als Kandidat noch als nahbar, interessiert und offen, kehrte sich sein Auftreten als Präsident ins Gegenteil und er vermittelte fortan den Eindruck eines abgehobenen Vertreters der so oft angeklagten Pariser „Elite“. Wieder an seine Erfolge in Wahlkampfzeiten anzuknüpfen, schien also zunächst eine vielversprechende Methode zu sein. Doch dieses Vorgehen brachte Macron auch den Vorwurf der Opposition ein, bereits Wahlkampf für die Europawahlen zu betreiben; die dafür zuständige Behörde prüft derzeit eine Anerkennung einiger Veranstaltungen unter Mitwirkung von Kandidatinnen und Kandidaten als Wahlkampf.

 

Entlang von vier großen Themen – ökologische Transition und Energiewende, Demokratie, öffentliche Ausgaben und Steuern, öffentlicher Dienst und Organisation des Staats – kristallisierten sich zuletzt mehrere Hauptforderungen heraus: Mehr Beteiligung der Bürger bei Entscheidungsprozessen, größere Präsenz der gewählten Vertreter vor Ort im Lebensumfeld der Franzosen und eine stärkere Besteuerung großer Vermögen. Der überwiegende Teil der beteiligten Personen und Institutionen zeigte sich trotz anfänglicher Zweifel positiv überrascht vom Ablauf der Begegnungen: Die große Resonanz auf die einzelnen Veranstaltungen zeugt von einem echten Bedürfnis zum Austausch und zu einer Wiederaneignung demokratischer Prozesse durch Personen, die zuvor eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen und der Politik empfunden haben. Die Debatte hat somit sowohl unter Politikern als auch unter ihren Wählern in Erinnerung gerufen, wie wichtig der Dialog als grundlegende Form gelebter Demokratie ist – eine einfache, aber bisweilen vergessene Erkenntnis.

 

Umsetzung konkreter Maßnahmen entscheiden über den Erfolg

Macrons Umfeld muss die Ergebnisse des Austauschs auf einer persönlichen und lokalen Ebene nun in konkrete politische Maßnahmen ableiten. Doch nur ein Drittel der Franzosen zeigt sich in Umfragen optimistisch, dass das geschieht. Ohne einen tatsächlichen Kurswechsel durch die Regierung, der über Symbolpolitik hinausgeht, ist die Gefahr groß, dass sich die Effekte des „Grand débat“ ins Gegenteil verkehren und noch mehr Frustration entsteht. Das Empfinden einer schlecht funktionierenden Demokratie würde noch weiter zunehmen.

 

Die Debatten boten vor allem jenen ein Sprachrohr, die mit den Gelbwesten sympathisieren, da sie in ihnen den Ausdruck einer berechtigten Wut sehen. Auch wenn die Bewegung weit von ihrer Auflösung entfernt ist, so zeichnet sich doch ein weiterer Verlust ihrer breiten Unterstützung ab. Das vorübergehend wiedererlangte Vertrauen bleibt jedoch sehr fragil. Eine neue Spaltung der Bewegung in einen resistenten, sehr gewaltbereiten Teil und eine friedliche neue Koalition von Umweltbewegung und Sozialbewegung fügt dem von der französischen Regierung zu lösenden Puzzle weitere Teile hinzu. Der „Grand débat national“ kann dabei nur ein kleiner Teil der Lösung sein.

Julie Hamann

Julie Hamann

Julie Hamann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Programm Frankreich/deutsch-französische Beziehungen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

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