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Bis ins Innerste

DIALOG-Gespräch mit Professor Paweł Śpiewak, Direktor des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau

 

Paweł Śpiewak wuchs auf in einer …

Zweizimmerwohnung im Warschauer Stadtteil Ochota. Ein Zimmer gehörte den Eltern, in dem anderen tobte ich mit meinem älteren Bruder Janek herum. Es gab so viele Bücher, dass sie in zwei Reihen auf den Regalen und sonst noch überall standen. Davon konnte ich viele nicht lesen, weil sie auf Bulgarisch, Ukrainisch, Serbisch oder Kroatisch waren. Einige Bücher waren versteckt, davon machte auf mich George Orwells „1984“ den größten Eindruck. Auf einem Regal standen volkstümliche Schnitzereien und Bilder. Viele Leute waren von unserer Wohnung geradezu schockiert. Erstens, so viele Bücher… Zweitens, es gab keinen Fernseher oder andere Anzeichen von Zivilisation, die zu besitzen die Leute so stolz waren. Stattdessen gab es zwei Schreibtische, einen für den Vater, einen für die Mutter.

 

Jan Śpiewak und Anna Kamieńska. Dichter und Übersetzer. Sie übersetzten gemeinsam russische Lyrik und Dramen und gaben Bücher heraus.

Der Schreibtisch meines Vaters war so groß wie ein Flugzeugträger. Darauf gab es unter anderem ein Vergrößerungsglas, darunter lag ein Stadtplan von Lemberg. Das war seine Heimatstadt, obwohl er dort nicht geboren war und nur ein paar Jahre lang gelebt hatte, während des Studiums an der Johann-Kasimir-Universität. Jahre später kehrte er immer wieder in die Stadt zurück, indem er mit dem Finger über die Karte fuhr.

 

Dort schloss er Freundschaften, die für ihn wichtig blieben, zum Beispiel mit linksgerichteten Dichtern, die in den Zeitschriften „Sygnały“ (Signale) und „Lewy Tor“ (Linkes Gleis) veröffentlichten. Darunter war damals auch Stanisław Jerzy Lec, der Dichter und Aphoristiker. Lec war nicht einfach nur ein Freund. Er gehörte zum Inventar. Jeder Tag begann entweder mit einem Anruf an Lec oder mit einem Anruf von Lec. Sie sprachen miteinander und verabredeten sich zum Beispiel für drei Stunden später im Café. Fast wie Brüder… Das war, als Lec aus Israel zurückgekommen war, 1952, wohin er zwei Jahre zuvor ausgewandert war. Er konnte nirgends bleiben und quartierte sich daher natürlich bei uns ein, zusammen mit seinem Sohn Janek. Genauer gesagt, hinter dem Tisch, auf einem Klappbett, das von der internationalen Hilfsorganisation UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) gestiftet worden war.

 

Viele ganz unterschiedliche Leute schauten bei uns einfach mal so für einen Augenblick vorbei. Mama setzte ihnen dann immer etwas Gutes zum Essen vor, wenn aus heutiger Sicht auch nichts Besonderes: Gebratene Pfannkuchen, die aus kleingehackten hartgekochten Eiern und gewürztem Gemüse bestanden. Ich erinnere mich, wie sie nach Dill schmeckten…

 

Sie hat nicht nur gekocht. Ich habe in der Nationalbibliothek nachgeschaut – ihr Werkverzeichnis umfasst an die hundert Bücher.

Und noch dazu veranstaltete sie tolle Heiligabendfeste. Unsere Eltern waren einander auf verschiedene Weise verbunden und füreinander wichtig. Was nicht bedeutet, dass sie eine harmonische Ehe führten – auf keinen Fall. Sie lasen einander Gedichte vor und sprachen darüber. Sie machten alles zusammen. Ich hing sehr an diesem Elternhaus. Selbst, wenn ich mich vor anderen manchmal dafür schämte.

 

Weil ihr keinen Fernseher hattet?

Das auch, aber eher, weil unser Zuhause und seine Bewohner doch etwas merkwürdig waren. Mein Vater trug immer eine Baskenmütze so, dass sie sein Gesicht verdeckte. Die Hände hielt er hinter dem Rücken verschränkt und murmelte vor sich hin. Er ging nicht wie alle um acht zur Arbeit. Er hatte nicht viel Geld. Er sprach laut und war in Gesellschaft manchmal nicht in Gedanken dabei. Ich war noch keine sechzehn, als er starb, dennoch er war für mich schon viel früher sehr schwierig im Umgang. Er litt an einem Tumor, dadurch wurde er noch nervöser, einzelgängerischer und zudem cholerisch. Ich sah ihn mit Bewunderung, gemischt mit Schuldgefühlen.

 

Paweł Śpiewak

Von wem haben Sie die Geschichte der Eltern ihres Vaters erfahren?

Von ihm selbst. Zu jener Zeit war das Wort Holocaust noch unbekannt. Mein Vater erzählte außerdem, woran er sich über die bolschewistische Revolution in Cherson erinnerte und über den Hunger im Ersten Weltkrieg. Er war ganz in der Nähe, als seine Eltern umkamen, Klara und Leon. Sie wurden 1942 im Ghetto erschossen. Ich habe oft darüber nachgedacht: Was geht in Menschen vor, die vor den Gewehrmündungen stehen und wissen, dass sie in wenigen Augenblicken tot sein werden? Das ist ein zerstörerischer Schmerz… Kann man einen solchen Augenblick überhaupt mit dem Verstand erfassen? Gibt es dabei überhaupt etwas zu verstehen?

 

Ich werde nie an die Generation heranreichen, die den Krieg bewusst erlebt hat. Im Vergleich zu dem, was sie erlebt haben, sind unsere Angelegenheiten ganz nebensächlich. Sie haben nicht die Bedeutung, von der ich in der Lyrik meines Vaters lese, wenn er davon schreibt, wie die Nerven blank liegen. Der Krieg nahm dem Menschen alles, was er geschaffen hatte. Ich würde das mit der Erfahrung der Futuristen vergleichen, die die Sprache in ihre Einzelbestandteile aufbrachen, um etwas Neues zu schaffen. Der Vater versetzte sich mit ungeheurer Intensität und Einfühlungsgabe in die Empfindungswelt des russischen Futurismus (nicht des polnischen, den er für unauthentisch hielt), denn er behandelte den Krieg so, wie sie die Sprache. Der Krieg legte die Nerven bloß. Wer überlebte, strengte sich an, die Welt neu zusammenzusetzen. Dass ich bei dieser Generation in der Schuld stehe, wurde mir am stärksten bewusst, als der Vater im Sterben lag.

 

Wie sah bei Ihnen das jugendliche Aufbegehren aus?

An so etwas erinnere ich mich gar nicht, genauso wenig wie an Gespräche über Grundsatzfragen, die hätten bestimmen können, wie ich denke, oder Probleme im Leben lösen. Vielleicht war das gar nicht nötig? Bereits in der Schule faszinierte mich Søren Kierkegaards Buch „Furcht und Zittern“ in der schönen Übersetzung von Jarosław Iwaszkiewicz. Kierkegaard hatte von mir ganz Besitz ergriffen, bis ins tiefste Innere. Das war mein Lebenselixier. Mit den Eltern habe ich allerdings nicht darüber gesprochen.

 

Woran ich mich noch aus dem Elternhaus erinnere, obwohl ich das selbst überhaupt nicht gepflegt habe, das ist die Sensibilität für Musik. Es gab immer viel Musik. Die Eltern kauften Schallplatten, zum Beispiel Aufnahmen mit dem Moskauer Kammerorchester unter Rudolf Barschai oder mit Dawid Oistrach-Konzerten oder dessen Sohn Igor. Als ich dann zur Jugend mit den langen Haaren gehörte und Beat hörte, habe ich plötzlich angefangen nachzudenken, wieso ich mir das eigentlich anhörte. Wo ich doch viel interessantere Musik kannte. Mir ist ebenso die Erinnerung an Bilder geblieben, weil meine Eltern nämlich Bildbände sammelten, vor allem aber an Bücher, die ich gelesen habe. Zwar eher an die Buchtitel, weniger die Inhalte, weil ich mich an die Einzelheiten meist nicht mehr erinnere, vielleicht war ich sogar zu jung, um sie zu verstehen. Immerhin habe ich dank dieser Lektüren meine eigene Sprache entwickelt, und das ist an und für sich schon etwas wert.

 

Über das Jahr 1968 wurde bei Ihnen zuhause auch nicht gesprochen?

Als das anfing, war der erste Gedanke, der mir kam: „Gut, dass mein Vater das nicht mehr erlebt.“ Er war knapp drei Monate zuvor gestorben, im Dezember 1967. Über Volkspolen machte er sich keinen Illusionen. Immer wenn er mit Gästen über Politik zu sprechen begann, legte er ein Kissen auf das Telefon, was ich ganz lächerlich fand… Aber an seiner Angst – vor den Deutschen, vor den Kommunisten, schließlich vor dem Antisemitismus, besonders, wenn der so aggressiv war – war nichts Lächerliches. Die antisemitische Kampagne von 1968 war so heftig, dass sie in ihm alte Erinnerungen und immer noch vorhandene Ängste hätte wecken können.

 

Ich ging noch zum Lyzeum, nichtsdestotrotz rannte ich ein ums andere Mal zum Krakowskie Przedmieście (Straße im Zentrum von Warschau; Anm. d. Übers.), um aus der Nähe zu sehen, was los war. Ich stand mehrere Stunden auf dem heutigen plac Politechniki (ehemals plac Jedności Robotniczej, Platz der Einheit der Arbeiter) während des Studentenstreiks und beobachtete, wie zwei Welten aufeinanderprallten – die Studenten und die Miliz. Ich verstand nicht, wie sich Menschen derartig manipulieren lassen konnten. Andererseits erkannte ich auch die Hilflosigkeit von Menschen, die Opfer von Rassentheorien waren und um ihre polnische Identität gebracht wurden. Ich fing an zu überlegen, was das Wort „Nation“ bedeutet. Woher der Hass in der Gesellschaft kommt. Ein toller Beginn meiner soziologischen Studien.

 

 

Das Interview erschien unter dem Titel „Die Rhetorik von der Schaffung einer starken Nation ist destruktiv“ im Magazin DIALOG 126. Lesen Sie das gesamte Interview sowie viele weitere Artikel in der aktuellen Ausgabe des Magazins DIALOG (hier bestellen).

 

Mit Paweł Śpiewak sprach Anna Mateja.

Paweł Śpiewak, geboren 1951 in Warschau, Soziologe und Ideenhistoriker, Universitätsdozent, Publizist, Mitarbeit unter anderem bei den Zeitschriften „Przegląd Polityczny“ und „Tygodnik Powszechny“, wo er eine Rubrik zur Lektüre der hebräischen Bibel hat. Übersetzungen aus dem Englischen, zum Beispiel der Werke von Isaac Bashevis Singer. Seit 2011 Leiter des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau. In jüngster Zeit unter anderem Herausgabe von: „Pięć ksiąg Tory. Komentarze“ (Die fünf Bücher der Tora. Kommentare, 2012), „Wieczny Hiob“ (Ewiger Hiob, 2018) sowie „Żydokomuna. Interpretacje historyczne“ (Die Judenkommune. Historische Interpretationen, 2012).

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 

DIALOG Gespräch

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