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Protektionismus Made in Germany?

In Berlin fand am 18. März 2019 das Deutsch-Polnische Wirtschaftsforum statt, das den Themen „Digitalisierung – Energie – Mobilität“ gewidmet war. Auf dem Forum bekundeten Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier und die polnische Ministerin für Technologie und Unternehmertum Jadwiga Emilewicz ihre Absicht, gemeinsam mit Frankreich ein europäisches Konsortium zu gründen, das sich der Entwicklung und Fertigung von Batteriezellen für Elektroautos widmen soll. Peter Altmaier (CDU) ist enger Vertrauter Angela Merkels und hat vor kurzem mit der Veröffentlichung einer ambitionierten deutschen Industriestrategie von sich reden gemacht. Jadwiga Emilewicz ist stellvertretende Vorsitzende der wirtschaftsliberal-konservativen Partei „Porozumienie“ (Verständigung), die aus dem konservativen Flügel der Bürgerplattform (PO) um Jarosław Gowin hervorgegangen ist und seit 2015 mit der PiS die Regierung stellt.

 

Die harmonische Pressekonferenz zeigte, dass die engen wirtschaftlichen Beziehungen auch in Zeiten politischer Spannungen zwischen Deutschland und Polen ein stabiles Fundament bilden. In einem gemeinsamen Interview der beiden Minister für die Wirtschaftszeitung Dziennik Gazeta Prawna bestätigte Emilewicz, es sei „manchmal effektiver, auf wirtschaftlicher statt auf politischer Ebene zu arbeiten“. Sie dankte Altmaier auch für die Wiederbelebung des deutsch-französisch-polnischen Weimarer Dreiecks der Industrieminister. Im Mai seien gemeinsame „Weimar Tech Days“ in Krakau geplant. Deutscher und französischer Erfahrungsschatz gepaart mit polnischem Gründergeist könnten – so Emilewicz – Europa davor bewahren, als Museum zu enden. Doch die polnische Wirtschaftsministerin beschwor nicht nur das Potential von Kooperation und gemeinsamen Industrieprojekten, die deutsche Seite bekam auch Kritik zu hören: Deutschland schaffe Barrieren für polnische Exporteure und investiere in Polen vergleichsweise wenig in Forschung und Entwicklung.

 

Vermeintlicher deutscher Protektionismus wurde in den vergangenen Jahren zum beliebten Gesprächsthema unter polnischen Unternehmern und Politikern. Selten hält man sich damit auf, solche Thesen zu belegen. Oft handelt es sich dabei um eine Spielart bestehender Vorurteile, etwa von den raffinierten Deutschen, die zwar viel von Solidarität, Fairness, Freihandel und Regeln reden, doch vor allem, wenn es ihnen selbst diene. Am Ende verfolgten sie doch nur eigene Interessen.

 

Eine wissenschaftliche Grundlage für diese polnische Sicht auf die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen sollte nun eine Studie liefern, die am Rande des Wirtschaftsforums bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin sowie später in Warschau vorgestellt wurde. Sie trägt den Titel „Neue Interdependenz – Entwicklungsperspektiven für die deutsch-polnische Wirtschaftszusammenarbeit“ und wurde von drei Thinktanks erarbeitet: dem angesehenen staatlichen Zentrum für Oststudien (OSW), dem unabhängigen Zentrum für Analysen des konservativen Jagiellonen-Clubs sowie dem beim Ministerpräsidenten angesiedelten Polnischen Ökonomischen Institut (PIE). Das Vorwort stammt von Ministerin Emilewicz.

 

© istock/DNY59

Der Bericht ist ein Beispiel für das wachsende polnische Selbstbewusstsein. Emilewicz weist mit Recht darauf hin, dass Polen in der deutschen Außenhandelsstatistik bald an Großbritannien vorbeiziehen und mittelfristig vor Italien zum fünfwichtigsten Handelspartner Deutschlands aufsteigen dürfte. Deutschland, das seit langem die polnische Handelsstatistik anführt, handelt mittlerweile mit den vier Ländern der Visegrád-Gruppe mehr als mit China, den USA oder Frankreich. Die Konkurrenzfähigkeit deutscher Industrieunternehmen hängt damit auch an der weiterhin zunehmenden Verflechtung ihrer Wertschöpfungsketten mit den Volkswirtschaften Ostmitteleuropas, allen voran Polen. Zu diesen nahen, stabilen und effizienten Fertigungsstandorten gibt es für deutsche Produktionsunternehmen kaum Alternativen. Während in Deutschland diese „neue Interdependenz“ kaum zur Kenntnis genommen wird, sind die Polen ihrer Rolle als ewiger Juniorpartner leid. Sie wünschen sich – durchaus im Bewusstsein der unterschiedlichen Wirtschaftskraft – ein Verhältnis mit den Deutschen auf Augenhöhe.

 

Die in der Studie enthaltenen, detaillierten Analysen lesen sich entsprechend über weite Teile als ein selbstbewusstes Zurechtrücken deutscher Vorstellungen von den Wirtschaftsbeziehungen beider Länder. Dem nicht nur unterschwelligen, verletzenden Vorwurf, Polen sei oft undankbarer Empfänger europäischer Almosen, hält man die in der Tat großen direkten und indirekten Vorteile entgegen, die Deutschland aus der EU-Osterweiterung und der EU-Förderung für die Ostmitteleuropa für sich ziehen konnte. Die Rückschau erweckt jedoch den falschen Eindruck, dieser Nutzen sei genau kalkuliert gewesen. Es trifft zu, dass die EU-Osterweiterung und die umfangreiche EU-Förderung der Region ohne deutsche Fürsprache kaum möglich gewesen wären. Ob und wann dieser Vertrauensvorschuss Früchte tragen würde, war für die Deutschen aber nicht von Anfang an absehbar.

 

Der letzte Teil der Studie widmet sich nichttarifären Handelshemmnissen, denen polnische Firmen in Deutschland ausgesetzt seien. Diese „weichen Barrieren“ schließen ausländische Firmen zwar nicht vom Markt aus, legen ihnen aber z.B. durch unverhältnismäßige Bürokratie Steine in den Weg. Die Europäische Union strebt die Beseitigung solcher Hindernisse an, eine protektionistische Absicht ist jedoch nur selten nachweisbar.

 

Der Bericht nimmt Bezug auf verschiedene Indikatoren, die von der Europäischen Kommission gebildet werden, um die Umsetzung und die Integration des Binnenmarkts zu überwachen. Es stimmt zwar, dass Deutschland bis vor kurzem die meisten Vertragsverletzungsverfahren aller EU-Mitgliedstaaten aufwies. Auch zeichnet sich Deutschland nicht durch besondere Zügigkeit bei der Bearbeitung aus. Generell sind die jährlichen Schwankungen aber zu groß und die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten zu gering, als dass sich anhand dieser Daten eine gezielte Verschleppung durch die deutschen Behörden belegen ließe. So notierte Deutschland 2017 den höchsten Rückgang anhängiger Fälle aller EU-Staaten. Um belastbare Aussagen zu treffen, wäre eine eingehendere Analyse der einzelnen Verfahrensverläufe nötig. Anhaltspunkte gäbe es: Gegen Deutschland läuft die höchste Zahl an Verfahren in den Bereichen „Freier Warenverkehr und Marktaufsicht“ mit sieben Verfahren sowie beim „Straßen- und Schienenverkehr“ mit sechs Verfahren. Im letzteren Feld liegt Polen übrigens mit vier Verfahren auf Platz 2.

 

Gerade im Transportwesen sehen die Autoren der Studie in Deutschland protektionistische Tendenzen. Die Einführung eines Mindestlohns in Deutschland wird in erster Linie als Maßnahme zum Schutz vor Konkurrenz aus Ostmitteleuropa verstanden. In Wirklichkeit gehörte Deutschland 2015 zu den letzten EU-Staaten, die einen flächendeckenden Mindestlohn einführten. Druck übten nicht nur die mitregierenden Sozialdemokraten aus, sondern auch der Süden Europas, welcher deutsches Lohndumping anprangerte. Richtig ist, dass in den Gesellschaften der alten EU-Mitgliedstaaten Abstiegs- und Verlustängste bestehen, die ihren Ausdruck in der Idee eines „Europe qui protège“ finden. Richtig ist auch, dass in der deutschen Diskussion die Auswirkungen eigenen Handelns für Unternehmen in den Nachbarländern nicht ausreichend mitgedacht werden. Ein Beispiel ist die derzeitige Debatte um eine Rückkehr zur Meisterpflicht im Handwerk.

 

Ein weiterer Kritikpunkt ist das deutsche Zertifizierungswesen. Für die überwiegend kleinen und mittleren polnischen Unternehmen können zusätzliche deutsche Bescheinigungen, die über das rechtlich erforderliche europäische Mindestmaß hinausgehen, den Markteintritt erschweren. Es ist jedoch ein Missverständnis, wenn man alle „verzichtbaren“ Vorschriften und Regelungen als gezielte Barrieren für ausländische Unternehmen ansieht. In Deutschland ist das Wirtschaftsleben viel stärker reguliert, standardisiert und institutionalisiert als in Polen. So sind Unternehmen gesetzlich zur Mitgliedschaft in Industrie- und Handelskammern verpflichtet. Andere Regeln werden von den Unternehmen selbst gesetzt. Während Polen ein wirtschaftlich sehr liberales Land ist, beruht das deutsche Modell darauf, durch Verbandswesen, Urkunden und Gütesiegel Vertrauen zwischen den Wirtschaftsteilnehmern aufzubauen und so die Qualitätsstandards zu garantieren, die Grundlage deutscher Wettbewerbsfähigkeit sind.

 

Angesichts des zunehmenden Konsumpatriotismus in Polen, pauschaler Vorwürfe gegen ausländische Lebensmittelkonzerne, sie verkauften polnischen Kunden minderwertige Produkte, und politischer Diskussionen um eine „Repolonisierung“ von Medien, die im Besitz deutscher Verlage sind, wäre es naheliegend gewesen, auch die Offenheit des polnischen Marktes für deutsche Firmen zu untersuchen. So blieb die Studie leider ein Monolog. Analyse, Kritik und Vorschläge sind der polnischen Diskussion verhaftet. Die fehlende Anknüpfung an die deutsche Diskussion ist aber nur zum Teil den Autoren anzulasten. In Deutschland wurde der oft kritische Blick polnischer Konservativer auf die deutsch-polnischen Beziehungen lange Zeit entweder nicht ernst- oder gar nicht erst wahrgenommen. Während dies für die betroffene Hälfte der polnischen Öffentlichkeit frustrierend ist, ist es aus deutscher Sicht schlicht unklug, Kritik unwidersprochen stehen zu lassen. Den guten Willen, das Gespräch und die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Seite zu suchen, kann man den Autoren des Reports nicht absprechen.

 

Bundeswirtschaftsminister Altmaier liegt richtig, wenn er mehr deutsch-polnischen Austausch „zwischen Geschäftsleuten, Politikern und Journalisten“ fordert: Nach dem Zweiten Weltkrieg habe es auch zwischen Deutschland und Frankreich fast 30 Jahre gedauert, um das Verhältnis zu konsolidieren. An diesem Punkt sei man nun in den deutsch-polnischen Beziehungen. Angesprochen auf die Kritik reagierte Altmaier gelassen. Er wisse, dass es weiterhin Handelshemmnisse gebe und dass man gegen diese vorgehen müsse. Man werde den Bericht daher genau studieren. Als Saarländer kenne er solche Klagen von Unternehmern gut – auf beiden Seiten der deutsch-französischen Grenze.

Leo Mausbach

Leo Mausbach

Leo Mausbach lebt und arbeitet in Warschau. Er ist Mitgründer des Osteuropa-Netzwerks des Vereins der Altstipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

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