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Der traurige Gast in Berlin: Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Matthias Nawrat

Natalia Staszczak-Prüfer: Wir treffen uns im Berliner Viertel Schöneberg, das in Deinem jüngsten Buch „Der traurige Gast“ eine ziemlich wichtige Rolle spielt. Eine der Heldinnen des Buches – eine Architektin – wohnt unweit von hier. Sie fürchtet sich, ihre Wohnung zu verlassen, findet sich nicht mehr in der Umgebung zurecht. Warum scheint gerade Schöneberg und nicht ein anderes Viertel ein Stadtteil zu sein, in dem es schwerfällt sich einzuleben?

Matthias Nawrat: Eines der Themen im ersten Teil des Buches ist der Niedergang des Bürgertums. Die von Dir angesprochene Heldin ist auch in ihrer Wohnung verloren, die an ein Klaustrophobie verursachendes Labyrinth erinnert. Ihre ganze Situation ist für mich eine Metapher für die Krise des Bürgertums. Wir leben in Zeiten, in denen zum Beispiel die traditionellen Zeitungen im Niedergang begriffen sind und sich Stimmen immer stärker über das Internet zu Wort melden. Alle Strukturen sind im Wandel. Die historische Erinnerung, besonders an den zweiten Weltkrieg, an den Holocaust, an Galizien, ist im Begriff zu verblassen. Für mich ist Schöneberg, dieses unzweifelhaft großbürgerliche Viertel, eine Metapher. Die Architektin – Heldin des ersten Buchteils – wohnt irgendwo hier, und ich wollte die Atmosphäre dieses Stadtteils zeigen.

 

Schöneberg in Berlin © Dirk Ingo Franke, Schoeneberg albertstrasse winter 16.02.2009 15-26-30, Bearbeitung von Redaktion, CC BY-SA 2.0

 

Ein wichtiger Held des ganzen Buches ist Berlin.

Ja, die verschiedenen Viertel. Ebenso die verschiedenen Mikrokosmen Berlins, zum Beispiel die Mikrokosmen verschiedener Migrant*innengruppen. Wichtig für das Buch ist auch der Anschlag in Berlin, der nicht das Hauptthema ist, aber der zeigt, dass einige Prozesse in der Geschichte zu keinem Ende kommen und dass die europäische Geschichte weiterhin in die Weltgeschichte eingebettet ist.

 

Auf das Anschlagsthema kommen wir noch später zurück. Das in Deinem Buch gezeigte Berlin ist keine schöne Stadt, in der sich Träume erfüllen. Es leben in ihm Migranten aus der ganzen Welt, die sich aber nicht besonders glücklich fühlen.

Das stimmt. Die von mir beschriebenen Personen fühlen sich verloren. Aber dies betrifft nicht nur die Stadt, sondern ihr ganzes Leben. Nicht immer ist ihre Migration dabei ausschlaggebend, es verbergen sich dahinter eher tiefere Probleme. Kürzlich hat mich jemand gefragt: „Gibt es denn keine glücklichen Migranten?“ Mit Sicherheit gibt es sie. Aber mit lauter glücklichen Biografien würde sich wahrscheinlich kein Buch schreiben lassen.

 

Berlin ist ein Zuhause, das vielen Obdach bietet, aber ein wichtiger Aspekt von „Der traurige Gast“ ist auch die Heimatlosigkeit in Berlin.

Diese Stadt wird häufig als Partyzentrum dargestellt, mit Bars, Touristen, Kreativen, jungen Leuten. Ich wollte ihre andere Seite zeigen. Als ich hierher umgezogen bin, war es mir wichtig, die Kultur in der Stadt zu entdecken, allmählich bemerkte ich jedoch auch andere Gesichter der Stadt. Diese interessieren mich mehr. Denn sie erzählen vom Zustand Europas.

 

Sprechen wir kurz über den Haupthelden – den Erzähler. Er ist eine geheimnisvolle, melancholische Gestalt, eher in sich verschlossen. Die übrigen Helden vertrauen sich ihm sehr häufig mit ihren Problemen an, erzählen die Geschichten ihres Lebens. Er hört ihnen zu. Warum?

Beginnen wir damit, dass er Schriftsteller ist. Er ist auf der Suche nach Geschichten, und zugleich besitzt er auch Empathie. Er ist geradezu eine Metapher für Empathie. Er trifft Menschen und kann sich häufig nicht ihrer Geschichten erwehren, sie werden ihm gewissermaßen aufgeladen. Eigentlich will er sie gar nicht hören, fürchtet sich vor ihnen. Aber er hat Empathie in sich, liebt die Menschen. Für mich war wichtig, dass er keine „normale“ Arbeit im Büro hat, und außerdem ist er eine undurchschaubare Person, er interessiert sich nicht für sich selbst, wir erfahren nicht viel über ihn.

 

Ist dies nicht sehr passiv?

Er wirkt vielleicht wie eine passive Person, da es ihm nicht um das eigene Leben geht, sondern nur um das Leben anderer Personen. Er ist wie diese anderen Personen eine etwas verlorene, nicht allzu sehr in seinem Leben verwurzelte Gestalt. Eines der Themen, die sein Leben durchziehen, ist die Frage: Will er ein Kind oder nicht? Er hat eine Frau, aber wir wissen nicht viel über sein privates Leben. Hauptsächlich interessiert er sich für andere Menschen. Manchmal denke ich, dass Schriftsteller zu sein bedeutet, für andere Menschen offen zu sein. Ein Schriftsteller ist so etwas wie ein „Krug“ für die Erzählungen der anderen. In gewissem Sinne ist das letztlich ein Spiel. Der Erzähler ähnelt mir. Ich wollte, dass der Leser darüber nachdenkt, ob dieses Buch autobiografisch ist, dass bis zum Ende um diese Gestalt ein Geheimnis bleibt. Ich habe auch nach einer anderen Sprache als in meinen vorherigen Büchern gesucht. Ich wollte, dass diese Erzählung realistisch scheint, daher auch die Anspielungen auf mein privates Leben.

 

In Interviews hast Du darauf hingewiesen, dass „Der traurige Gast“ auf Deinem privaten Tagebuch beruht – handelt es sich also um eine Autobiografie?

Ich denke, dass ein Tagebuch keine reine Autobiografie ist. In dem Moment, in dem wir beginnen etwas aus unserem Leben zu beschreiben, schaffen wir bereits etwas Nichtrealistisches, verwandeln wir die Realität. Ich habe bemerkt, dass die realistische Sprache des Tagebuches immerzu in die Sphäre der Fiktion übergeht. Ab einem bestimmten Zeitpunkt habe ich beschlossen, dies auszunutzen und ausgehend vom Stil des Tagebuchs ganz bewusst Fiktion zu schaffen. Wo aber liegt die Grenze zwischen Realität und Fiktion in diesem Buch? Auch ich selbst kann schon nicht mehr in jedem Fall auf diese Frage antworten. Die Biografien meiner Helden sind bis zu einem gewissen Grad „echt“. Ich kenne Leute, die mir Geschichten erzählt haben, die den von mir beschriebenen ähneln. Ich habe begonnen, das alles miteinander zu vermischen: Realität und Fiktion.

 

Haben sich daher Personen, die Dir von ihrem Leben erzählt haben, in Deinem Buch wiedererkannt?

Bis zu einem gewissen Grad. Einigen habe ich erzählt, dass ich über sie ein Buch schreibe – aber hinzugefügt, dass dies auf ihrem Leben basierende Geschichten sind, abgewandelte. Ich habe mich vor ihrer Reaktion gefürchtet, aber bis jetzt hat es allen gefallen.

 

Viele Rezensenten Deines Buches haben die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass es sich um die Geschichte eines durch Berlin spazierenden Erzählers handelt. Liebt es Matthias Nawrat, sich auf diese Art durch die Stadt zu bewegen? Inspirieren Dich Spaziergänge?

Als ich 2012 nach Berlin gezogen bin, habe ich die Stadt hauptsächlich so kennengelernt. Ich bin nicht nur spazieren gegangen, sondern auch gefahren, habe andere Viertel kennengelernt. Im Buch habe ich daraus ein Instrument gemacht, um die Geschichte zu erzählen.

 

Kehren wir zum Terroranschlag zurück. Wenn man den Klappentext auf der Rückseite Deines Buches liest, erfährt man, dass diese Geschichte mit dem tragischen Ereignis vom 19. Dezember 2016 auf dem Breitscheidplatz in Berlin verbunden ist. Tatsächlich hast Du ihm einen Abschnitt Deiner Erzählung gewidmet, aber mir scheint, diese Kurzbeschreibung könnte potentielle Leser in die Irre führen.

Einer der Rezensenten hat dies auch thematisiert. Ich hatte Einfluss darauf, aber habe kein allzu großes Talent dafür, solche Zusammenfassungen zu schreiben. Daher habe ich mich auf den Verlag verlassen. Zu einem gewissen Anteil ist das ein Marketinggriff. Darüber hinaus ist der Anschlag jedoch eine Metapher für die zeitgenössische globale und europäische Situation, eine Fortsetzung der Geschichte. Bis ungefähr 2014 haben wir – die Europäer – gedacht, wir würden inzwischen in einem sehr friedlichen, schönen Paradies leben, aber dann zeigte sich, dass es plötzlich Krieg in der Ukraine gibt, dass Millionen Menschen vor den Kriegen in Syrien und Afrika fliehend in Europa Asyl suchen, dass wir Anteil am globalen Leben haben und die Konflikte nicht so weit von uns weg sind, wie wir gedacht hatten. In diesem Sinne ist dies ein zentraler Moment des Buches. Wer aber erwartet, dass das ganze Buch vom Anschlag in Berlin handelt, wird enttäuscht sein.

 

Wenn man bedenkt, dass einer der Helden des Buches Berlin ist, wäre es verwunderlich, wenn Du dieses Ereignis der Stadtgeschichte übergehen würdest. Stimmst Du eventuell zu, wenn ich den Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt als Zäsur in der Geschichte dieser Stadt wahrnehme?

So sehe ich das auch. Nach dem Anschlag habe ich die Stadt ganz anders wahrgenommen. Allerdings hat das nicht lange angehalten. Schnell hat man das im Alltagsleben vergessen. Während der ersten Wochen schien es mir jedoch so, als ob jeder jeden beobachten würde.

 

Wir haben bisher über Dein neuestes Buch gesprochen, jetzt möchte ich einige Fragen zu Dir stellen. In allen Artikeln und Sendungen betonen die Journalisten Deine polnische Herkunft, der zum Beispiel Einfluss auf die von Dir benutzte Sprache zugeschrieben wird. Ist dies nach so vielen Jahren Schreibens auf Deutsch für Dich noch ein Kompliment oder hast Du dieses Erkennungszeichen langsam satt?

Sehr häufig rege ich mich darüber auf. Es verdeutlicht jedoch einen bestimmten Diskurs im deutschsprachigen und sicher auch im europäischen Umfeld. „Woher kommst Du?“, ist heute eine äußerst wichtige Frage. Bei Lesungen werde ich auch häufig gefragt, als was ich mich eher fühle: als Pole oder Deutscher? Ich beginne dann die ganze komplexe Geschichte meiner Familie zu erzählen und habe keine eindeutige Antwort darauf. Für mich ist das nicht so wichtig. Ich beschreibe die Schicksale von Menschen, die häufig Emigranten sind, oder auch bestimmte Motive aus der polnischen Geschichte, aber für mich ist dies europäische Geschichte. Die Frage ist: Aus welchem Europa stamme ich eigentlich? Die Geschichte der Teilung Europas während des 20. Jahrhunderts ist bis heute wichtig. Vielleicht erscheint das deshalb den Rezensenten so wesentlich. Ich weiß es nicht.

 

Eine wichtige Strömung in der deutschen Gegenwartsliteratur bilden Werke von Schriftstellern und Schriftstellerinnen mit Migrationshintergrund.

Ja, oft wurde ich zu Lesungen nur aufgrund meiner Herkunft und Biografie eingeladen, nicht wegen der von mir geschriebenen Bücher. Man wollte mit mir über solche Themen wie Migration und Flüchtlinge reden, nicht über meine Literatur.

 

Wenn man über Deine Biografie redet, lässt sich die Herkunft nicht übergehen, aber ebenso wenig die Ausbildung. Du hast Biologie studiert, erst danach Literatur. Was ist geschehen, dass Du den Beruf eines Schriftstellers gewählt hast?

Als ich Biologie studiert habe, interessierte mich daran am meisten der Mensch. Anfangs wollte ich Psychologie studieren, aber ich wollte mich dem Thema naturwissenschaftlich nähern, daher diese Wahl der Studienrichtung. Während des Studiums bemerkte ich jedoch, dass dieser Zugang den Menschen nicht in allen seinen Aspekten erfasst. Die Literatur befasst sich mit dem Individuum. Während des Studiums begann ich zu schreiben, weil ich es brauchte. Ich studierte auch Philosophie und Soziologie. Ich verstand, dass ich nicht als Wissenschaftler arbeiten möchte. Die Sicht auf die Menschheit aus der Perspektive der Literatur interessiert mich viel mehr. Ich habe eine andere Sprache anstelle der wissenschaftlichen gesucht. Dennoch spielt die Biologie in meinem Leben weiter eine gewisse Rolle. Einer der Helden von „Der traurige Gast“ ist Biologe. In dem Buch „Unternehmer“ ist die Sprache der Chemie wichtig. Das lebt weiter in mir fort.

 

Dich interessiert der Mensch als Individuum. Und die Gesellschaft? Hast Du bei Deinen häufigen Besuchen in Polen während der vergangenen drei bis vier Jahre Veränderungen der polnischen Gesellschaft bemerkt?

Ja, eindeutig. Nicht nur durch den Regierungswechsel. Die Spaltung, die es seit langem in der polnischen Gesellschaft gibt, hat sich stark vertieft. Es scheint mir manchmal so, als ob es zwei Länder Polen gäbe. Wenn man Nachrichtenprogramme unterschiedlicher Sender ansieht, sieht man zwei Welten. Ich habe die Hoffnung, dass es noch irgendeine Verständigung zwischen ihnen gibt. Das alles ist für mich äußerst schockierend. Viele Personen aus Künstlerkreisen erzählen mir davon, was geschieht, zum Beispiel über die Veränderungen in staatlichen Institutionen. Mir ist jedoch klar, dass der Zustand vor dem Regierungswechsel auch nicht der beste war. Das hängt stark mit der ökonomischen und politischen Situation in einer sich immer stärker globalisierenden Welt zusammen.

 

Die von Dir in „Der traurige Gast“ beschriebenen Polen gehören eher zur älteren, konservativen Generation. Sie gehen zur polnischen Kirche, essen Piroggen, fragen den Erzähler, ob er schon Kinder hat. Sie sind vor vielen Jahren nach Berlin gekommen. Ist dies Dein Bild von den Polen in Berlin?

Natürlich nicht. Dies ist nur ein gewisser Teil. Du hast Recht, dies ist eher die Generation meiner Eltern. Ich kenne auch andere Polen. Es gibt eine neue Emigration. Die neuen Emigrierenden fliehen nicht aus dem östlichen Teil Europas, sondern sie sind hier aus wirtschaftlichen Gründen oder interessieren sich einfach für das Leben in Berlin. Das ist ein anderer Emigrantentypus. Es gibt auch viele Leute, deren Geschichte meiner ähnelt: Sie sind als Kinder hierher umgezogen oder schon in Deutschland geboren, aber in polnischen Familien. Der Erzähler ist ein Beispiel für diese neue Generation.

 

Matthias Nawrat © Lorena Simmel

Was denkst Du über die Polonia, die polnische Diaspora, in Berlin?

Es gibt verschiedene Polonias. Sie treffen sich zwar, aber es sind zugleich unterschiedliche Welten. Die Leute, die den Club der Polnischen Versager besuchen, sind andere als diejenigen, die zu den Gemeindetreffen der polnischen Kirche am Südstern gehen. Ich selbst bin in einer noch ganz anderen Situation. Das interessiert mich zwar alles sehr, aber ich gehöre vielleicht gar nicht zur Polonia.

 

In einem Interview hast Du gesagt, dass Deine Sympathie für die Religion für einen Deutschen etwas Besonderes ist. Gibt es Deiner Meinung nach noch weitere Eigenschaften, die Dich eher mit Polen als mit Deutschen verbinden.

Ich habe einen etwas anderen Humor. Ost- oder Mitteleuropa interessieren mich mehr als einen durchschnittlichen Deutschen. Russland ist für mich spannend. In Berlin beschäftigen mich die Mikrokosmen der Polen und der Menschen aus anderen Ländern Ost- oder Mitteleuropas. Man kann aber nicht von den Deutschen als homogener Gruppe sprechen. Ich werde häufig zu Treffen polnisch-deutscher Vereinigungen eingeladen. Deren Mitglieder sind auch Deutsche, die sich stark für Polen interessieren.

 

Ich danke Dir für das Gespräch.

 

 

Matthias Nawrat wurde 1979 in Oppeln geboren und ist Schriftsteller polnischer Herkunft. Im Alter von 10 Jahren zog er mit seiner Familie nach Bamberg um. Er studierte Biologie in Heidelberg sowie Literatur in dem Schweizer Ort Biel. Als Romane erschienen von ihm „Wir zwei allein“ (2012), „Unternehmer“ (2014), „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“ (2015) und zuletzt „Der traurige Gast“ (2019), der für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik nominiert war. Außerdem ist er vielfacher Preisträger, unter anderem vom MDR-Literaturpreis, Literaturpreis des Kantons Bern und Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis.  Wichtige Themen in den Werken Nawrats sind Migration sowie die Geschichte Polens und Europas.

 

 

Aus dem Polnischen von Karsten Holste

Gespräch

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