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Das Wort und die Verantwortung für den Menschen

Welche Rolle spielen die Intellektuellen heute? Wo gibt es für sie einen Handlungsraum und welche Verantwortung tragen sie? Diese Fragen interessierten die Redaktion der in Polen erscheinenden englischsprachigen Zeitschrift „New Eastern Europe” (NEE). Iwona Reichardt, Redakteurin der Zeitschrift, führte Ende 2018 im Schloss Wojnowice, dem Sitz des Herausgebers von NEE – des Jan-Nowak-JeziorańskiKollegiums Osteuropa in Wrocław, ein Gespräch mit Basil Kerski über Intellektuelle im 21. Jahrhundert. Das Gespräch ist bisher nur in englischer Sprache im Heft „New Eastern Europe” zum Thema „Public intellectuals. What is their place, role and responsibility today?” erschienen. (NEE, Nr. 1/2019)

 

Das Wort und die Verantwortung für den Menschen. Die Rolle der Intellektuellen im 21. Jahrhundert

 

Iwona Reichardt: Zu unserem Treffen hast du ein Buch des bereits verstorbenen Ralf Dahrendorf mitgebracht…

 

Basil Kerski: Ja, zu unserem Gespräch über Intellektuelle habe ich ein in Polen unbekanntes Buch des bedeutenden deutsch-britischen Soziologen Sir Ralf Dahrendorf aus dem Jahr 2006 mitgebracht: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung. Dahrendorf schreibt darin nicht nur abstrakt über die Rolle der Intellektuellen, sondern auch über die Umbrüche des 20. Jahrhunderts, an denen sie teilgenommen haben, und über die Herausforderungen, die wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts erfahren. Zu den wichtigsten Umbrüchen der neuesten Geschichte gehören nach Dahrendorf das Ende des Zweiten Weltkriegs 1945, die Kulturrevolution von 1968, der Fall des Kommunismus 1989 und der Angriff auf das World Trade Centre in New York am 11.9.2001. Besonders interessant ist in seinem Buch das Kapitel, in dem Dahrendorf die uns noch bevorstehenden Herausforderungen analysiert. Wenn wir es heute lesen, sehen wir, wie sehr sich seine Voraussagen bestätigt haben. So schrieb Dahrendorf beispielsweise, dass uns, obwohl sich der Faschismus oder Kommunismus des 20. Jahrhunderts nicht wiederholen würden, trotzdem die Faszination für eine Gesellschaft erwarte, die sich auf das Modell des „Wohlstands ohne aktive Bürgergesellschaft” stützt. Der in Hamburg geborene Dahrendorf, Deutscher und Wahlbrite, langjähriger Prorektor der Universität Oxford, ehemaliger Bundestagsabgeordneter und Mitglied des House of Lords, war nämlich der Meinung, dass es nicht nur ein einziges Modell von Demokratie gibt, so wie es nicht nur ein einziges Modell des Autoritarismus gibt.

 

Und der zweite Teil des Titels? Das heißt die Intellektuellen….

 

In seinem Buch definiert Dahrendorf Umbrüche als den Bezugspunkt für seine Frage nach der Rolle des Intellektuellen im neuen Jahrhundert. Dahrendorf ist der Meinung, dass es nicht ausreicht, ein Bildungsbürger, Akademiker oder Intellektueller zu sein. Es reicht nicht, ein Mann der Feder zu sein. Laut Dahrendorf ist ein Intellektueller jemand, der die Werte, die universellen Menschenrechte verteidigt. Jemand, der an die Kraft des geschriebenen und gesprochenen Wortes glaubt. Für Dahrendorf ist der Intellektuelle jemand, der den Ehrgeiz besitzt, die Gesellschaft positiv zu verändern, indem er sich nach dem Ideal der offenen Gesellschaft richtet. Mir steht diese Definition sehr nahe, trotzdem aber denke ich darüber nach, ob sie heute ein vollständiges Bild der Rolle und der Wirkung der Intellektuellen wiedergibt.

 

Heute können wir Veränderungen beobachten, kreiert von Intellektuellen, die ebenfalls an die Wirkungskraft des Wortes glauben. Jedoch wünschen sich diese Intellektuellen neue autoritäre, reaktionäre Formen, sie fördern gar Ideen des Sich-Verschließens der Gesellschaften, und berufen sich dabei auch auf Werte, zum Beispiel auf christliche Werte.

 

Würde man sie, um Karl Popper zu zitieren, als „Feinde der Demokratie” bezeichnen? Vielleicht sollten wir diese Dichotomie annehmen: Public Intellectuals versus Feinde der Demokratie?

 

Ein Denken in Form von Dichotomien entfernt uns eher von einer präzisen Analyse der Realität. Ich würde da etwas anders herangehen. Heute sind die Intellektuellen, die die offene Gesellschaft, die Demokratie und universelle Werte verteidigen, leider sehr schwach. Nur wenige Menschen hören ihnen zur Zeit zu. Deshalb ist ihre Rolle jetzt geradezu heroisch.

 

Oft wird Intellektuellen heute vorgeworfen, dass die von ihnen verkündeten universellen Werte eben zu allgemein klingen und für den heutigen Empfänger zu theoretisch sein würden?

 

Die Autorität eines Menschen oder eines Künstlers ist nicht nur eine Folge dessen, was er sagt, sondern auch dessen, ob die Werte, von denen er spricht, von ihm persönlich auch realisiert werden – sein öffentlicher Lebensweg bestimmt seine Autorität. Und da ist für mich bis heute Albert Camus das aussagekräftigste Beispiel eines Intellektuellen. Er stammte aus einer armen Familie, musste sich seine höhere Bildung schwer erkämpfen. Seine soziale Sensibilität war authentisch. Als ein Mensch der Mittelmeerkultur war er weit vom französischen Nationalismus oder Imperialismus entfernt. Auch sein universeller Humanismus war authentisch. In der Kriegszeit stellte er sich auf die Seite der antifaschistischen Widerstandsbewegung und nicht der Kollaborateure. Und als ein Mann der Linken begriff er die Gefahr des roten Totalitarismus. In seiner Nobelpreisrede, die er 1957 an der Universität Uppsala hielt, stellte Camus den Intellektuellen als einen Widerstandskämpfer dar.  Dabei meinte er natürlich keinen Widerstandskämpfer im bewaffneten Sinne, sondern jemanden, der unabhängig ist. Unabhängig von politischen Systemen. Aber auch jemanden, der all die von den Machthabern Verlassenen in Schutz nimmt. Eine schöne Metapher. Camus war der Meinung, dass eigentlich jeder Schriftsteller diese Verantwortung trage – nicht nur für das Wort, sondern auch für das Schicksal der Menschen. Die Rolle des Schriftstellers, des Künstlers, Intellektuellen ist also weit vom Narzissmus entfernt.

 

Wir sollten noch den Kontext beachten: als Camus den Nobelpreis erhielt, war er vollkommen isoliert. Wegen „L’home révolté” (Der Mensch in der Revolte) wurde er von den marxistischen Publizisten vernichtend kritisiert, wegen seiner angeblichen Naivität, sich nicht den historischen Hauptströmungen angeschlossen zu haben, die die Welt doch positiv verändert hätten. Der Konflikt zwischen Camus und Sartre war jedoch etwas mehr als die Debatte über das Thema Stalinismus. Camus hat doch diejenigen, die an den Ereignissen des Jahres 1956 teilgenommen haben, sowohl in Ungarn als auch in Posen, sehr unterstützt. Er erklärte seine Sympathie ihnen gegenüber.

 

Was aber noch wichtiger war: Camus’ Autorität hatte eine doppelte Dimension. Erstens kam sie in seiner aktiven Rolle in der Resistance zum Ausdruck. Heute würde ich noch sagen, dass er ein Franzose war, der aus der Kulturperipherie stammte und in der französischen Sprache den Ton angab. Dabei geht es nicht nur darum, dass Camus in Algerien geboren wurde, sondern – was ebenso wichtig ist – dass er sich zu den Ausgeschlossenen bekannte. Sein letzter, nach seinem Tod herausgegebener, unvollendeter Roman „Der erste Mensch” ist unter anderem das Porträt seiner Mutter, die Analphabetin war. Bezeichnend ist, dass Camus in dieser Arbeit seinen Respekt für Menschen zeigt, die aus der Perspektive der dominierenden französischen Kultur keinerlei Rolle spielten. Indem er über sie schreibt, sagt Camus: Dort, wo das Wort ist, die Philosophie, die Reflexion, da gibt es die Verantwortung für den Menschen.

 

Albert Camus war ein Intellektueller, dem die gesellschaftlichen Konsequenzen seiner Taten und Gedanken bewusst waren. Camus, der Intellektuelle, übernahm für sie die Verantwortung. Das ist eine sehr idealistische Herangehensweise, doch die gar nicht so weit zurückliegenden Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts haben uns gezeigt, dass die Form unseres Lebens oder unsere Sicherheit trotz industrieller Revolution und materiellen Wohlstands von den Vorstellungen über die Realität beeinflusst werden. Alle bisherigen Krisen waren doch die Realisierung von Konstrukten in menschlichen Köpfen.

 

Wer sind also die Public Intellectuals?

 

Das sind Personen des geschriebenen oder gesprochenen Wortes, die die Würde des Menschen verteidigen. Und diese Würde wird von offenen Gesellschaften, von demokratischen politischen Systemen garantiert, die sich auf universelle Menschenrechte stützen. Die höchste Autorität als Public Intellectuals hatten und haben für mich die Personen, die Totalitarismen, despotische politische Systeme oder geschlossene Gesellschaften direkt erfahren haben und imstande waren oder sind, uns vor autoritären Versuchungen zu warnen. Als Beispiele würde ich hier Primo Levi, Czesław Miłosz, Józef Czapski oder Vaclav Havel nennen.

 

Aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass es noch einen zweiten Aspekt des Begriffes „Intellektueller” gibt, der dessen negative Konnotationen aufzeigt. Ich war selbst überrascht, als ich letztens zur Debatte um die Dreyfus-Affäre zurückkehrte, wo der Begriff „Intellektueller” als Vorwurf von der Anti-Dreyfus-Partei, der antisemitischen Seite, auftauchte. Es war nicht so, dass Clemenceau als Herausgeber des Textes „J’Accuse…!” Zola einen Intellektuellen genannt hatte, und dass der Begriff von Anfang an eine positive Konnotation gehabt hätte. Es war die autoritäre Seite, die Clemenceau und Zola vorwarf, dass sie Intellektuelle seien. Somit wurde der Begriff des Intellektuellen von Anfang an auch von den nationalistischen Populisten gegen die Demokraten verwendet. Er wurde und wird benutzt, um kritische und aufklärerische Stimmen auszuschließen, um emanzipatorische Prozesse anzuhalten. Heute beobachten wir in Europa einen Anstieg ähnlicher Haltungen, die Prozesse kultureller Veränderungen anhalten wollen – die Migration, den Aufstieg von Migranten, die weitere Emanzipation der Frauen, die Gleichberechtigung.

 

Um zu Dahrendorf zurückzukommen: Er benutzt den Begriff der „Anti-Aufklärung” als etwas, was uns noch im 21. Jahrhundert erwartet. Ich denke, dass wir gerade so eine neue Welle der Anti-Aufklärung in Europa und der Welt beobachten können. Das ist natürlich nichts Neues. Schon immer gab es hin und wieder das Problem der Emanzipation von Minderheiten, die zu Verbindungsgliedern zwischen neuen Gesellschaftsschichten wurden. So war es im Fall der preußischen, österreichischen und französischen Juden. Es kamen neue Eliten auf, die die Ordnung in Frage stellten, wie vor einhundert Jahren in Frankreich zur Zeit der Dreyfus-Affäre.

 

© Zygmunt Januszewski

Wenn man das heutige Europa aus dieser Perspektive betrachtet, so würde ich sagen, dass wir es mit einer Negation des Prozesses zu tun haben, den man als Multikulti bezeichnet. Und es geht hier nicht um die Kultur, um ihre Veränderungen – weil Kulturen immer dynamisch, fließend sind und aus anderen Quellen schöpfen –, sondern es geht einfach um Menschen. Um Menschen, die nicht dazu passen, um neue Eliten mit einem anderen ethnischen Hintergrund, einer anderen Hautfarbe, einem anderen Kollektivgedächtnis, die in gesellschaftliche und kulturelle Schlüsselpositionen kommen, was automatisch Veränderungen hervorruft. Ich beobachte diesen Prozess ganz deutlich in Deutschland. Heute werden die deutsche Literatur, der Film oder die Kunst im hohen Maße von Deutschen mit Migrantenbiografien geformt. Sie sind die interessantesten Stimmen der deutschen Kultur, weil sie universelle, manchmal außereuropäische Erfahrungen in die deutsche Kultur einbringen, diese bereichern. Sie sind anders, ehrgeizig. Sie erwecken Bewunderung, aber bei manchen auch Irritation. Manchmal ist das Multikulti nicht nur eine Begegnung der europäischen mit der außerkontinentalen Identität. Multikulti ist in Deutschland beispielsweise auch die Begegnung der postkommunistischen Kultur Ostdeutschlands mit der westdeutschen, rheinischen, katholischen – das ruft ebenfalls Veränderungen hervor, lässt Spannungen und Konflikte entstehen und animiert dazu, uns abzuschotten.

 

Die Multikulti-Gegner legen nahe, dass wir es mit etwas Neuem zu tun hätten, dabei war Multikulturalität schon immer in Europa und nicht nur hier präsent…

 

Heute leben die großen Intellektuellen außerhalb von Europa oder sie sind außerhalb von Europa geboren. Zumindest, wenn es um das kosmopolitische Modell eines Intellektuellen geht, über das wir sprechen. Im selben Buch schrieb Dahrendorf, dass Arthur Koestler für ihn ein Intellektueller gewesen sei. Letztens war ich bei einer Ausstellung von Ai Weiwei in Marseille und meiner Meinung nach ist er ein Intellektueller, der die besten Traditionen des 20. Jahrhunderts fortsetzt, die wir in Europa bisher kannten. Er ist natürlich ein chinesischer Künstler, aber auch ein universeller. Deshalb spielen seine Arbeiten eine wichtige Rolle in Europa, bilden für uns einen Bezugspunkt, verteidigen die Individualität in China und auch unsere Freiheit. Weiwei zeigt, dass das Bewusstsein des Kreierens von Bildern heute eines der Instrumente ist, um Worte zum Ausdruck zu bringen. Heute ist das Bild auch Wort. Hier würde ich es sogar wagen, das als eine positive Erscheinung zu bezeichnen. Andrzej Wajda war ebenfalls ein Intellektueller des 20. Jahrhunderts. Er benutzte die Sprache des Bildes, war aber ein Intellektueller, der Werte verteidigte. Interessant ist die Tatsache, dass er ausgerechnet geschriebene Literatur als Vorlage für seine Filme nahm und mit Hilfe des Films deren Botschaft sogar noch verstärkte.

 

Diese Anknüpfung an Wajda lässt sofort die Frage aufkommen, wo heute die polnischen Intellektuellen sind.

 

Vielleicht sollte man die Frage besser auf folgende Weise formulieren: Waren oder sind nicht die Filmemacher die letzten polnischen Intellektuellen? Dabei fallen mir gleich Krzysztof Kieślowski, Agnieszka Holland, Paweł Pawlikowski oder Małgorzata Szumowska ein. Mir scheint, dass eine neue Generation von Intellektuellen in Polen noch kommen wird, doch es werden Menschen sein, die alle heutigen im Kulturbereich dominierenden Strömungen in Frage stellen werden. Heute sehen wir vor allem den Narzissmus, der Kunst auf ein Spiel reduziert. Es ist eine Anti-Camus-Kunst, denn sie bringt ein sehr negatives Verhältnis zur Politik und zum Staat zum Ausdruck sowie ein Unverständnis dafür, dass es einige Fragen gibt, bei denen man vor der Politik nicht fliehen kann.

 

Ist dieser Narzissmus nicht etwa weiterhin eine Reaktion darauf, was früher der sozialistische Realismus anbot?

 

Der Narzissmus der Künstler wurde schon immer von totalitären und autoritären Machthabern ausgenutzt. Vielleicht ist das auch in Polen der Fall. Die Frage lautet: Wo sind die Menschen, die gegen die Mehrheit sagen werden, dass es keine Freiheit ohne den Schutz der Minderheit gibt? Das genau ist unsere Herausforderung heute.

 

Vielleicht wird so eine Stimme von irgendwoher aus der Peripherie kommen? Zum Beispiel von einem Vertreter der ukrainischen Migranten?

 

Hier taucht eine andere Frage auf, und zwar: Jedes Land hat seine Hausaufgaben zu machen und braucht deswegen Intellektuelle auf seinem Gebiet. Wenn wir uns Deutschland anschauen, sieht man, dass da Intellektuelle gebraucht werden, die den Osten mit dem Westen verbinden können. Der Osten Deutschlands ähnelt Polen sehr, im Sinne von „Wohlstand, aber ohne Fremde”. Der Westen Deutschlands ist durch die Wellen von vier Migrantengenerationen eher kosmopolitisch geprägt.

 

Um noch einmal auf die Ukraine zurückzukommen: Es ist doch ein multikultureller und multireligiöser Staat. Vielleicht könnten wir heute tatsächlich erwarten, dass von dort eine neue Generation europäischer Public Intellectuals kommt?

 

Die starke Stimme ukrainischer Intellektueller ist heute in Europa sehr wichtig – die von Andruchowytsch, Sabuschko, Schadan, Kurkow, Rjabtschuk. Es ist die prodemokratische, proeuropäische Stimme, die sich gegen den Autoritarismus und den Neoimperialismus von Putins Russlands richtet. Die ukrainischen Intellektuellen sind eine wichtige Stimme zur Verteidigung der europäischen Anti-Jalta-Ordnung, die nach den demokratischen Revolutionen der Jahre 1989-1991 entstanden ist. Die Ukraine hat den Vorsprung, dass sie mehrsprachige, Englisch, Deutsch, Polnisch und auch Russisch sprechende Intellektuelle hat, die wir nicht haben. Sie sind heute wichtige Verbindungsglieder zwischen dem Osten und dem Westen; zwischen dem Europa der Europäischen Union und dem östlichen, postkommunistischen Teil des Kontinents. Als Fürsprecher der prodemokratischen Entwicklung der Staaten der ehemaligen Sowjetunion sind sie für Putins Regime besonders gefährlich.

 

Es wäre gut für Polen, wenn die ukrainischen Intellektuellen die Debatte über Europa und die Zukunft mitgestalten würden…

 

Aber ich beobachte leider, dass sie sich politisch jetzt von Polen gewissermaßen abgewandt haben. Die bei uns starken antiwestlichen, gar nationalistischen Stimmen haben Polens internationale Autorität geschwächt. Polen befindet sich heute aus eigener Entscheidung in der politischen Peripherie Europas. Hinzu kommt, dass wir sehr auf uns selbst konzentrierte historische und politische Debatten führen, vor den Herausforderungen der Welt fliehen, dass uns die Perspektive unserer Nachbarn auch nicht interessiert. Wir haben uns von ihnen mental abgewandt, trotz der Träume von der führenden Rolle in der Region im Rahmen der Drei-Meere-Initiative. Unser öffentliches und intellektuelles Leben ist für unsere Nachbarn leider nicht mehr attraktiv. Ich hoffe, dass sich das ändern wird. Die polnisch-ukrainischen Beziehungen werden diese schwierigen Jahre überstehen, in den letzten drei Jahrzehnten sind sehr starke intellektuelle Verbindungen mit der Ukraine entstanden. Es gibt natürlich eine ganze Masse von polnischen Verlagen und Kulturmilieus, die ständig mit Partnern aus der Ukraine zusammenarbeiten, aber das überträgt sich zurzeit leider auf keinerlei Gewicht, nicht nur kein politisches, sondern auch kein mediales. Sie haben ihre Freunde, sind präsent, können aber nicht viel tun. Die polnischen Regierungseliten flirten eher mit nationalistischen Kreisen, sie wollen kein politisches Kapital auf der Versöhnung mit den Ukrainern aufbauen. Ähnlich ist es mit dem Balkan. Die polnische Politik nimmt diese Region gar nicht wahr, obwohl die Verbindungen im Bereich Kultur immer intensiver werden. Dabei sind es doch heute die Balkanländer, die eine wahre Fundgrube an Intellektuellen sind, das heißt Menschen des Wortes, die uns Europäern etwas wichtiges über unsere Gegenwart zu sagen haben. Es sind die Balkanländer, in denen Künstler jetzt wichtige Werke schaffen. Sie haben auch ganz andere Biografien als die Dreißig- oder Vierzigjährigen in Mittel- oder Westeuropa. Es sind Menschen, die den Krieg erlebt haben, die ethnische Kriege erlebt haben, die unter Druck gezwungen wurden, sich zu entscheiden, die eine Wahl zugunsten dessen getroffen haben, was komplizierter und nicht selbstverständlich ist – des Schutzes der menschlichen Würde. Das sieht man in solchen Bereichen wie der Literatur sehr deutlich.

 

Ist es nicht so, dass die Ukrainer und die Einwohner der Balkanstaaten dem Eindruck erliegen, sie seien die Peripherien Europas, und sich deshalb mehr auf die Probleme der eigenen Gesellschaften konzentrieren und gewissermaßen weniger in den europäischen Diskurs engagieren?

 

Das Aufeinanderstoßen der Dynamik in der Peripherie und der Politik des Zentrums bedeutet immer eine große Veränderung in der Weltpolitik. So veränderte Vietnam Amerika, obwohl die Amerikaner in einem gewissen Sinne zu einem Ersatzkrieg dorthin gezogen waren, indirekt gegen die Sowjets. Ähnlich war es beim Krieg in Afghanistan. Eine vergleichbare Rolle der Peripherie, die die Dynamik im Zentrum verstärkte, spielte Danzig in den 1980er Jahren. Vielleicht sollten wir überhaupt darüber nachdenken – wenn wir schon von Moral sprechen –, ob der Intellektuelle nicht jemand ist, der die Werte, die Schwachen, und die Perspektive der Peripherie verteidigt. Aber ist das nicht auch so, dass ein positiver Intellektueller jemand ist, der keine Angst davor hat, sehr unterschiedliche kulturelle Quellen, verschiedene Standpunkte, ich meine hier gesellschaftlich und geografisch, miteinander zu verbinden? Ist ein Intellektueller nicht einer, dessen Aufgabe es ist, die Menschen nicht autoritär anzuführen, sondern ihnen zu zeigen, dass Leben ständige Veränderung bedeutet? Und um aufzuzeigen, dass der Mensch als Individuum schwach ist, Angst hat und Angst haben sollte, aber es andererseits auch keine Erlösung in der Aggression gibt, in der totalen Kontrolle des Lebens. Und man muss mit der Veränderung mitschwimmen und diese so ausnutzen, dass sie für den Menschen günstig und gut wird. Mir scheint, dass Intellektuelle große Künstler und Praktiker in der Formung menschlichen Zusammenlebens sind.

 

Es gibt noch einen sehr schönen Text über die Rolle des Intellektuellen, der leider nicht so viel gelesen worden ist. Es handelt sich um eine Vortragsreihe von Ryszard Kapuściński über die Begegnung mit dem Anderen, vom Anfang des 21. Jahrhunderts. Bei Kapuściński war die Idee sehr einfach: Der Mensch hat, wenn er den metaphorischen Anderen trifft, sowohl Angst, potenzielle Ablehnung, Aggressivität als auch Neugierde in sich. Und wir müssen dann eine Wahl treffen, ob wir uns dem Fremden gegenüber öffnen oder ihn ablehnen. Hier bin ich mit Kapuściński einverstanden: Es gibt keine guten und schlechten Menschen in dem Moment, wo man das Andere trifft. In uns gibt es sowohl den guten, friedlichen Weg als auch den bösen. Die Rolle der Kultur, aber auch der Religion, besteht darin, den Menschen dabei zu helfen, die richtige Wahl zu treffen. Natürlich ist es immer besser, sich für die Mühe der Begegnung mit dem Anderen zu entscheiden, weil das Nutzen bringt. Also ist ein Intellektueller vielleicht jemand, der zeigt, dass auf dem Wege der Begegnung mit dem Anderen – und hier meine ich auch die metaphorische Begegnung der Peripherie mit dem Zentrum – etwas Gutes entsteht.

 

Mir scheint auch, dass die Rolle und die Macht des Intellektuellen weiter nicht näher bestimmt ist. Das bedeutet, dass ein Intellektueller natürlich jemand ohne Macht ist, aber gleichzeitig auch jemand, der die kollektive Vorstellungskraft beeinflussen will. Es ist jemand, der bestimmte Modelle des Zusammenlebens verteidigt, aber auch jemand, der keine politische Macht hat und diese nicht beansprucht…

 

Kann also ein Politiker ein Intellektueller sein?

 

Nein. Ein Politiker ist kein Intellektueller. Sogar einem Intellektuellen, der zum Politiker wird, fällt es aus einem praktischen Grund schwer, ein Intellektueller zu bleiben – er muss Handlungsinstrumente benutzen, die anders sind als diejenigen, die er bisher benutzt hat. Zum Beispiel darf ein Politiker aus strategischer Hinsicht oft das, was er denkt, nicht offen sagen, weil er über andere Instrumente der Gestaltung der Realität als nur das Wort verfügt. Ein Intellektueller ist also jemand, der keine politische Macht hat, aber auch über eine größere Ausdrucksfreiheit als ein Politiker verfügt. Infolgedessen kann ein Intellektueller sogar einen größeren Einfluss darauf haben, wie die Menschen die Welt begreifen, als die Politiker. Deshalb ist die Stimme des Intellektuellen wichtig und kann aus der Perspektive von Politikern einflussreich sein.

 

Was für eine Art von Macht ist das?

 

Am einfachsten ist es natürlich, ein (Pseudo-)Intellektueller mit einer destruktiven Macht zu sein, ein politischer Angehöriger der Intelligenzja. Alle bösen Dinge sind in den Köpfen von Menschen geboren, und viele autoritäre Anführer begannen als Menschen des charismatischen gesprochenen oder geschriebenen Wortes – Lenin, Joseph Goebbels oder Pol Pot. Natürlich passen diese Menschen nicht in den normativen Ansatz Dahrendorfs.

 

Viel schwieriger ist es, die konstruktive Kraft der Intellektuellen zu beweisen, die – nennen wir es so – offene demokratische Formen verteidigen. Hier gibt es immer zwei Methoden: eine biographische, ein wenig wie im Falle von Politikern, bei denen man nach einem intellektuellen Kontext sucht. Doch vielleicht ist diese konstruktive Kraft der Intellektuellen am besten in gesellschaftlichen Bewegungen zu sehen. Hinter jeder Frage nach gesellschaftlichen Bewegungen steckt nämlich die Frage nach den Ideen, die ihre politische Kraft bilden.

 

Ich denke, dass zu den größten polnischen Intellektuellen, die die größte Macht hatten, jedoch später, als Politiker, bereits mit der allerschwächsten Macht ausgestattet waren, solche Menschen wie Jacek Kuroń gehörten, aber auch katholische Intellektuelle wie Mazowiecki oder Stomma, und die von ihnen geförderte Idee der Versöhnung mit den Nachbarn. Es hätte doch keine friedliche Transformation in Mitteleuropa ohne die Versöhnungskultur gegeben.

 

Um noch einmal auf die destruktive Macht der Intellektuellen zurückzukommen, heute tauchen abgesehen von Public Intellectuals sog. Influencer auf. Ihre Rolle ist in den Social Media besonders gut zu sehen…

 

Die heutigen technologischen Veränderungen bringen genau all das mit sich, was der Fortschritt immer brachte. Sie können ein sehr wirksames Instrument für Intellektuelle sein, sie können aber auch von Menschen des Wortes benutzt werden, die sich nicht für universelle Werte interessieren, sondern nur für ihre Eigeninteressen, und von diesen gibt es immer am meisten. Mir scheint, dass wir sehr viele selbsternannte Public Intellectuals oder Influencers haben, die ein Teil des gesellschaftlichen Spektakels sind, und die nur kommentieren, auf sich aufmerksam machen wollen. Sie wollen keine Werte verteidigen, Lösungen vorschlagen, keine Politik positiv mitgestalten. Das ist eine Lebensweise. Das ist kein Vorwurf, denn Intellektueller zu sein bedeutet, Verantwortung zu übernehmen, riskieren, mutig sein. Nicht jedem wird das gegeben.

 

Heißt das, dass sie einfach auf zynische Weise spielen?

 

Nein. Vielleicht fange ich mit der einfachsten Frage an: wo sind heute die Intellektuellen? Vor dem heutigen Gespräch mit Euch habe ich darüber nachgedacht, ob ich ein Intellektueller bin, und ich würde Folgendes sagen: als öffentliche Person, die für eine Kulturinstitution verantwortlich ist, aber auch als ein Mensch des Wortes, stehe ich jeden Tag vor der einfachen Wahl, ob ich in den Spiegel schauen kann. Habe ich meine Unabhängigkeit bewahrt, war ich ehrlich, mutig, war ich, bin ich meinen Werten treu? Oder habe ich eher an der öffentlichen Debatte teilgenommen, um mich zu profilieren, um zu sein? Für öffentliche Personen gibt es eine sehr fließende Grenze zwischen Narzissmus, Eitelkeit, Engagement, zielgerichteten Kompromissen, und Opportunismus. Es gibt noch eine andere Wahl – sich zu sagen: „Nein, ich gehe nicht in diese Richtung, ich werde diese Grenze nicht überschreiten, ich will den Kompromiss nicht”.

 

Heute scheint es mehr vom Narzissmus zu geben. Aber alle narzisstischen Individuen sind doch vor allem auf einseitige Botschaften eingestellt – Monologe. Ein Public Intellectual zu sein, bedeutet eher, ein Gesprächspartner zu sein…

 

Mit diesem Begriff des Public Intellectual ist es ein bisschen wie mit Liberal Democracy. Ich verstehe, dass jemand den Ausdruck Public Intellectual benutzt, um diese öffentliche Rolle nochmals zu unterstreichen. Das ist so eine Art rhetorisches Mittel. So wie die Demokratie Demokratie ist und es keine andere gibt, so gibt es keinen anderen Intellektuellen als einen Public Intellectual.

 

Vielleicht würde es sich lohnen, die Frage nach dem Intellekt selbst stellen. Wir dürfen nicht vergessen, dass mit Hilfe des Intellekts auch negative politische Systeme geschaffen werden. Und ein Intellektueller ist ein moderner Begriff, der eine Folge von Entscheidungen in Zeiten sehr tiefgehender Veränderungen war. Diese Veränderungen hat es schon immer gegeben, nur reicht unser Gedächtnis vielleicht nur zweihundert Jahre zurück. Gab es etwa in der Antike keine Intellektuellen? Es gab sie. Gab es in der Zeit des frühen Islam keine Intellektuellen? Es gab sie ebenfalls.

 

Mir scheint, dass auch der moderne Begriff des Intellektuellen aus der antikosmopolitischen Strömung erwachsen ist, die in der Zeit der Globalisiserung am Ende des 19. Jahrhunderts aufgetaucht ist. Es kam ausgerechnet so, dass sich in Europa die Kritik der Intellektuellen damals auf die Juden konzentriert hatte, doch ich würde das Auftauchen dieses Begriffs nicht nur in den Kategorien der Geschichte des Antisemitismus betrachten. Interessant ist sicherlich die Tatsache, dass wir es am Ende des 19. – zu Anfang des 20. Jahrhunderts, aber auch heute, mit einer Zeit der Globalisierung und der Kapitalismuskrise zu tun haben. Der Streit um Dreyfus war auch ein Streit um den Kapitalismus, und auch um den Einfluss neuer Gesellschaftsschichten in der Welt.

 

Heute wiederum beobachten wir noch verschiedene ideologische Hybriden, die zum Beispiel die imperialistischen Visionen eines Alexander Dugin mit fortschrittlichen Konzepten von Thomas Piketti verbinden…

 

Aber das ist bereits beschrieben worden. Wisst Ihr, was am wenigsten beschrieben ist? Gleichgültigkeit. Und die Tatsache, dass wir in Zeiten des Intellekts leben, und dass heute der vorgestellte Wert den größten Wert darstellt. Das ist die tiefste Revolution und etwas, was ich auch nicht verstehe – dass der Wert heute nichts materiell Produziertes mehr ist. Aber das ist wichtig. Heute lohnt es sich für Konzerne, die Milliarden an den Börsen verdienen, nicht, in den Menschen zu investieren. Das ist eine sehr tiefgehende Revolution, die der Intellekt geschaffen hat. Die ganze Welt, alles, was einen Wert hat, geschieht im hohen Maße in unserer Vorstellungskraft. Sogar unser Verbraucherverhalten bezieht sich auf unsere Vorstellungskraft. Und interessant ist auch, dass sich der Intellekt von der Erinnerung losgelöst hat.

 

Wichtig ist vor allem die erste Sache, die ich erwähnt hatte: schaut doch, wieviele Menschen es gibt, die über unglaubliche intellektuelle Fähigkeiten verfügen, aber gleichgültig sind? Mit anderen Worten: wie sehr hat sich unsere Vorstellungskraft trotz wachsender Fähigkeiten eingeschränkt? Das ähnelt ein wenig der Revolution des wissenschaftlichen Fortschritts zu Anfang des 20. Jahrhunderts, der auch unser Wissen und unsere intellektuellen Möglichkeiten erweitert, uns humanitär aber eingeschränkt hat.

 

 

Basil Kerski ist Chefredakteur des deutsch-polnischen Magazins DIALOG und Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig.

 

 

 

Das Gespräch erschien auf Englisch im Magazin New Eastern Europe, Ausgabe 1/2019

Interview: New Eastern Europe

Interview: New Eastern Europe

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