Joanna Maria Stolarek im Gespräch mit dem Historiker Raphael Utz über das schwierige historische Erbe zwischen Deutschland und Polen, die Erinnerungskultur und das richtige Gedenken.
Joanna Stolarek: Herr Utz, die Geschichte des Zweiten Weltkrieges scheint die am meisten erforschte historische Zeit zu sein, vor allem im deutsch-polnischen Kontext. Sie sagen aber, es gibt viele weiße Flecken in der deutschen Wahrnehmung. Wo sehen Sie diese?
Raphael Utz: Man muss unterscheiden zwischen der Forschung einerseits und der öffentlichen Wahrnehmung andererseits. In einer idealen Welt würden die Forscher forschen und die interessierte Öffentlichkeit die Ergebnisse wahrnehmen und diskutieren. Dem ist aber leider nicht so. Nehmen wir die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht als Beispiel. Die Fakten waren erforscht und lange bekannt, aber die öffentliche Wirkung kam erst mit der Ausstellung. Da fingen die Diskussionen an – und sogar der Bundestag debattierte darüber.
Was müsste denn passieren, damit das Historikerwissen bei der breiten Öffentlichkeit ankommt? Wir reden doch viel darüber, der Geschichtsmarkt boomt mit all den Filmen, Serien, Büchern etc.
Ich bin mir nicht sicher, ob gerade Filme immer der richtige Weg sind. Die ZDF-Serie „Unsere Mütter, unsere Väter“ ist ein Beispiel dafür, wie es besser nicht gemacht werden sollte. Diese Serie zeichnet sich durch eine ungeheure Unsensibilität gegenüber Polen aus, abgesehen von allen dramaturgischen Schwächen, die der Film auch noch hat. Diese Fiktionalisierung, diese Fernsehserie hat nicht zum besseren deutsch-polnischen Verständnis beigetragen. Ganz im Gegenteil: Erneut prallten deutsche Unkenntnis und Desinteresse auf verletzten polnischen Stolz und ein nationales Opfernarrativ. Einen solchen Antagonismus zu überwinden, ist dann keine leichte Aufgabe.
Welche Unkenntnis meinen Sie konkret?
Die Darstellung der Heimatarmee als einer antisemitischen Räuberbande, die letztendlich aktiv am Holocaust beteiligt gewesen sei. In dieser Verkürzung und Radikalisierung ist das eindeutig falsch und ein Fall, in dem die Ergebnisse der Forschung keineswegs medial umgesetzt werden. Durch den Film wurde kein Problembewusstsein geschaffen, sondern die Verantwortung für den Holocaust externalisiert. Die Darstellung suggerierte nämlich, die Polen seien genauso beteiligt gewesen. Dass man dagegen in Polen auf die Barrikaden geht, ist mehr als verständlich.
Sie haben in einem viel beachteten Vortrag bemängelt, dass die Zeit der deutschen Besatzung in Polen und auch die Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung zwischen 1939 und 1945 in der deutschen Wahrnehmung nicht richtig präsent sind. Können Sie hier ein paar Beispiele nennen?
Ich kann hier zig Beispiele nennen. Angefangen bei dem ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog, der den Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 mit dem Warschauer Aufstand 1944 in einer öffentlichen Ansprache verwechselte. Wenn ihm das passierte, dann kann man davon ausgehen, dass dies den allermeisten Deutschen auch so gegangen wäre. Dass es zwei Aufstände in Warschau gegen die deutschen Besatzer gab, ist in Deutschland nicht allgemein bekannt.
Es geht dabei aber um ein ganz grundlegendes Problem, nämlich wie man den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust gemeinsam, aber doch getrennt diskutiert. In der Forschung ist völlig unstrittig, dass es ohne den Krieg die Shoah so nicht gegeben hätte, und dass die Besatzungsherrschaft gerade in Polen, aber auch in der Ukraine, in Weißrussland und im Baltikum, der entscheidende Faktor dafür war, wie auch das Umfeld, die Nachbarn, auf die Ermordung der jüdischen Bevölkerung reagiert haben. Insofern braucht es in der öffentlichen Debatte ein ganz neues Bewusstsein dafür, was diese deutsche Besatzungsherrschaft in Osteuropa war. Und dass sie etwas fundamental anderes war, als die deutsche Besatzung in Frankreich oder Dänemark oder auch in den Niederlanden. Das ist der Punkt, an dem man ansetzen muss, um Verständnis zu wecken für polnische Empfindlichkeiten, die eben nicht exaltiert und überkandidelt sind, sondern wohlbegründet in der historischen Erfahrung dieses Landes und dieses Volkes.
Wie sieht es eigentlich mit der Wissensvermittlung in den deutschen Geschichtsbüchern aus? Langzeituntersuchungen zeigen, dass der Stoff, was den Zweiten Weltkrieg und die Besatzung in Polen angeht, eher sparsam ist…
Das größte und schlimmste Defizit ist, dass die Stundenzahl für den Geschichtsunterricht immer weniger wird. Es ist nicht so, dass eine Gesellschaft einen bestimmten Stand an historischem Bewusstsein einmal erreicht hat und dass dies dann für immer so bleibt, sondern historisches Wissen muss immer wieder von neuen erarbeitet werden. Jede Generation schafft sich ihr eigenes historisches Bewusstsein. Das ist ein ständiger regenerativer Prozess. Wenn der Geschichtsunterricht von der Stundenzahl her reduziert wird, wird das massiv erschwert. Die Hauptinformationsquelle für Schüler und Studierende, was die Zeit des Nationalsozialismus angeht, ist nämlich nach wie vor der Geschichtsunterricht an der Schule. Wenn man also langfristig etwas tun möchte, dann muss man hier investieren.
Dann kommt das deutsch-polnische Geschichtsbuch wie gerufen…
Es ist ein wunderbares Projekt. Das deutsch-polnische Geschichtsbuch leistet zudem Großartiges, wenn es um die Geschichte des Judentums in Europa angeht, das findet man sonst in keinem Schulbuch.
Als Sie über die weißen Flecken in der geschichtlichen Wahrnehmung in Deutschland sprachen, führten Sie noch ein anderes Beispiel an. In der sehr populären Serie „Babylon Berlin“ überquert in einer Episode ein Goldzug die sowjetisch-deutsche Grenze in Tauroggen. Eine solche gab es aber 1929 nicht. Kaum jemanden fiel es auf. Welche Auswirkungen hat so ein Fehler? Welche Bilder werden da reproduziert?
Diese Episode ist eine Folge von Unwissen. Und zwar geht es nicht um einen sachlichen Fehler, sondern es geht um Indifferenz und um Gleichgültigkeit. Den Filmemachern war es egal. Es sind keine Alarmglocken angegangen bei dem Thema. Keiner fragte sich: Stimmt das, dass Deutschland und Sowjetunion eine gemeinsame Grenze 1929 hatten, worüber dieser Zug hätte fahren können? Das ist niemanden aufgefallen. Diese Gleichgültigkeit und das Unwissen sind vielleicht die tragischste Hinterlassenschaft des Kalten Krieges. Denn der Kalte Krieg, die Teilung des Kontinents war für die Westdeutschen die beste Ausrede, um sich gar nicht mit Osteuropa beschäftigen zu müssen. Und zwar weder mit Osteuropa sui generis noch mit den deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkrieges.
Das sind aber auch schon 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges…
Manchmal braucht es die Zeit. Es ist doch kein Zufall, dass zwischen dem Ende des Krieges und dem Beginn einer ernsthaften Holocaust-Forschung in Deutschland und einer öffentlichen Debatte eben auch 30 Jahre vergangen sind.
Sie äußern sich ziemlich kritisch, was die Erinnerungskultur in Deutschland angeht und sprechen empathisch auch von der polnischen Empfindlichkeit. Das hört man auch von der polnischen konservativen Regierung. Befürchten Sie nicht eine Instrumentalisierung? Der polnische Botschafter hat Sie bereits in einem Interview in einem konservativen polnischen Magazin erwähnt…
Ich bin nicht der einzige deutsche Historiker, der das sagt, und ich beziehe mich in erster Linie auf die Forschungen der polnischen Kollegen, die der jetzigen Regierung nicht immer wohl gesonnen sind. Interessant an der polnischen Situation ist doch: Was die Sicht auf die deutsche Besatzung angeht, gibt es zwischen Opposition und Regierung gar keine inhaltlichen Differenzen. Somit müsste ein Gespräch möglich sein. Es geht also es um etwas Anderes, aber das hat nichts mit Deutschland zu tun.
Wie würden Sie dann die Frage nach den Reparationen sehen?
Die Frage kommt ja nicht nur aus Polen, sondern auch aus Griechenland. Das Problem ist, dass die deutsche Antwort darauf immer eine rein juristische ist. Dass es auch anders geht, zeigte der deutsche Botschafter in Warschau, Rolf Nikel. Er sagte, juristisch sei die Angelegenheit zwar abgeschlossen – moralisch aber nicht. Das ist ein guter Anfang für ein Gespräch. Dieses darf sich eben nicht nur auf Rechtsfragen beschränken, sondern muss von Empathie und Respekt für die polnische Seite getragen sein.
Viele der deutschen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg wurden nicht richtig aufgearbeitet. Der Fall von Heinz Reinefarth, der militärisch verantwortlich war für das Massaker von Wola, machte eine glänzende Karriere im Nachkriegsdeutschland. Er wurde u.a. Bürgermeister von Westerland auf Sylt. Wie geht man damit um?
Die deutsche Justiz hat sich über viele Jahrzehnte sehr zurückgehalten mit Ermittlungen gegen Kriegsverbrecher. Auch im Rückblick ist das immer noch empörend. 2014 hat die Gemeinde Westerland aber eine Gedenktafel an ihrem Rathaus angebracht. Und eine Delegation nach Warschau entsandt, um ihre Scham und Reue zu zeigen, dass jemand wie Reinefarth eine solche Karriere machen konnte. Da sieht man, dass es geht. Wir dürfen nie sagen, es ist zu spät. Die Versuchung ist groß, dies zu tun. Aber es ist nie zu spät, die richtigen Worte zu finden und den richtigen Ton zu treffen.
Wo sehen Sie noch Nachholbedarf in der deutschen Erinnerungskultur und der Verantwortung für die Geschichte?
Die deutsche Besatzung hat in Polen zerstörte Städte, viele Millionen Tote, verwüstete Leben und tiefe Wunden hinterlassen. Aber auch ganz spezifische Orte, an denen die größten Verbrechen verübt worden sind, wie das Warschauer Ghetto, insbesondere aber die großen Tatorte der Shoah wie Auschwitz, Treblinka, Belzec, Sobibor, Stutthof, Groß-Rosen und viele mehr. Ganz Polen ist übersät von Kriegsgräbern. Und wer kümmert sich heute um diese Orte? Das ist der polnische Staat. Er übernimmt die Verantwortung für die Hinterlassenschaften der deutschen Besatzung in Polen, und zwar mit großem finanziellen Aufwand und moralischem Engagement. Deutschland könnte und sollte sich hier mehr engagieren. Der polnische Staat leistet hier Großes und verdient mehr Unterstützung. Denn das Land hat zwar die Verantwortung für die Orte übernommen, war aber nicht für die Verbrechen verantwortlich, die an diesen Orten begangen wurden. In all diesen Fragen gibt es ein fundamentales Missverständnis auf deutscher Seite: Man spricht immer von „polnischen Forderungen“ – dabei sind wir es uns doch selbst schuldig, uns hier stärker zu engagieren.
Was halten Sie von der Initiative für ein Denkmal für die polnischen Opfer der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkrieges?
Grundsätzlich ist das eine gute Idee. Am allerbesten an der Initiative ist jedoch, dass sie der Anfang eines Gesprächs ist. Dass über bestimmte Fragen des deutsch-polnischen Verhältnisses, über die man ungern redet, jetzt gesprochen wird. Je mehr darüber gesprochen wird, je größer das Interesse wird, desto besser: Schließlich sind wir Nachbarn. Der größte Erfolg des Holocaust-Denkmals in Berlin ist doch, dass darüber immer noch gesprochen und gestritten wird. Wenn wir ähnliches für Polen schaffen würden, wäre ich sehr glücklich.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier fährt zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen nach Wieluń. Wie beurteilen Sie diese Geste?
Der Besuch wird hoffentlich dazu beitragen, Interesse zu wecken, dafür was in Wieluń geschehen ist. Kaum jemand weiß, dass der Zweite Weltkrieg mit der Bombardierung dieser Stadt begann. Was allgemein bekannt ist, ist nach wie vor die Nazi-Version: der fingierte Überfall auf den Sender Gleiwitz, dann die berühmte Hitler-Rede: „Seit 5.45. wird zurückgeschossen“ und das gestellte Propaganda-Foto von Wehrmachtssoldaten, die den Schlagbaum einreißen. Das sind die Ikonen. Und nicht Wieluń. Über diese ganz unterschiedlichen Perspektiven müssen wir reden und diskutieren. Und es bedarf noch mehr solcher Gesten wie dieser geplante Besuch des Bundespräsidenten. Die deutsche Politik sollte an ganz bestimmten Tagen an ganz bestimmten Orten in Polen präsent sein. Ich wüsste zum Beispiel nicht, dass jemals ein ranghoher Politiker Belzec oder Sobibor besucht hätte. Es wäre auch denkbar, dass ein deutscher Minister am 1. August um 17 Uhr in Warschau ist, wenn des Warschauer Aufstandes gedacht wird. Es gibt sehr viele Möglichkeiten, guten Willen, Empathie und Respekt zu zeigen.
Sollen wir anders erinnern?
Auf keinen Fall sollten wir das Gespräch über unsere Geschichte vermeiden. Gleichzeitig aber muss uns allen bewusst sein, dass wir keine gemeinsame Geschichte konstruieren können werden und genau deshalb die Perspektive des anderen besser kennenlernen müssen. Da haben die Polen einen deutlichen Vorsprung vor den Deutschen. Sie wissen mehr über die deutsche Perspektive auf das 20. Jahrhundert als die Deutschen über die polnische. Praktisch würde dies zum Beispiel bedeuten: Wenn die polnische Seite ein Bedürfnis hat, an bestimmte Ereignisse zu erinnern, dann muss es auch ein deutsches Bedürfnis sein – und umgekehrt genauso.
Zur Person
Dr. Raphael Utz
Studium der Osteuropäischen Geschichte und Politikwissenschaft in Heidelberg und Oxford (M.Phil.), Promotion in Heidelberg mit der Arbeit „Rußlands unbrauchbare Vergangenheit: Nationalismus und Außenpolitik im Zarenreich.“ Zahlreiche Publikationen zur russischen Geschichte des 19. Jahrhunderts und zur post-sowjetischen Erinnerung an den Gulag im heutigen Russland.
Aktuelles Forschungsprojekt: „After the Germans: Sobibór and Shoah Memory since 1944“ zur Beziehungsgeschichte zwischen einem topographischen Ort und der Erinnerungsgeschichte der Shoah.
Seit 2010 Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Imre Kertész Kollegs an der Universität Jena und Mitherausgeber des Bandes „Orte der Shoah in Polen: Gedenkstätten zwischen Mahnmal und Museum“ (Böhlau 2016).
ja wir sollten uns mehr auf die polnische sicht einlassen
da haben wir wohl viel aufzuholen
aber auch ein ehrliches miteinander
und da haben beide seiten nachholbedarf
grüßle didi
Es ist sehr zu begrüßen, sich mit dieser Problematik zu befassen. Selber finde ich es befremdlich, dass der Geschichtsunterricht eher gekürzt als ausgebaut wird. Andererseits wird es nicht so sein, dass sich jede/r für geschichtliche Vorgänge interessiert. Gleichwohl wäre das wichtig, Zusammenhänge besser zu erkennen und entsprechend richtige Schlussfolgerungen zu ziehen.
Es stimmt, dass nicht alles nur unter juristischen Gesichtspunkten beurteilt werden sollte, aber leider ist das gang und gäbe – auch auf anderen Gebieten/Bereichen.
Der Film „Unsere Mütter – unsere Väter“ ist umstritten, doch finde ich ihn gut, weil halbwegs realististisch.
Bemerkenswert ist das Wirken der Deutsch-Polnischen Gesellschaften, die für einen Beitritt offen stehen!