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“Wozu brauchen wir Freiheit?” Gespräch über Jacek Kuroń

Jan Jakub Wygnański, ein Aktivist und Mitbegründer des Sektors der Nichtregierungsorganisationen, im Gespräch mit Anna Mateja.

 

Anna Mateja: Sie waren von der Idee, über das Erbe von Jacek Kuroń zu reden, nicht begeistert. Warum?

Jan Jakub Wygnański: Weil ich den Eindruck habe, dass es zu einer gewissen Verschwendung des Kapitals von Jacek kam, sowohl im Sinne des intellektuellen Nachlasses als auch im Sinne der von ihm ins Leben gerufenen Institutionen. Und egal, wie ich darüber reden würde, könnten meine Überlegungen wie eine Anklage wahrgenommen werden. Das ist aber nicht meine Absicht.

 

Zählen wir doch auf: Die Stiftung Soziale Hilfe SOS wurde 1990 von Jacek Kuroń gegründet, als er Arbeits- und Sozialminister war. Es war eine der ersten polnischen Nichtregierungsorganisationen, sie stellte ihre Arbeit 2005 ein, nachdem der letzte Bericht veröffentlicht wurde. Die Jan-Józef-Lipski-Universität [eine Art Volkshochschule – Anm. der Übersetzerin], die er in Teremiski in der Nähe von Białystok im Osten Polens mitgründete, führte in den Jahren 2002-2007 einen neunmonatigen Kurs für Jugendliche aus Familien durch, die in Folge der Transformation benachteiligt waren. Das Programm unterstützte die Jugendlichen dabei, ihre Barrieren, und zwar nicht nur die intellektuellen, auf dem Weg zu einem Bildungsabschluss und selbständigen Leben zu überwinden. Die Veranstalter halfen hundert jungen Menschen, aber 2008 musste das Programm mangels stabiler Finanzierung eingestellt werden. Daraufhin wurde der Schwerpunkt auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aus dem Gebiet von Białystok gelegt und auf Aktivitäten, die mit der Kultur und Geschichte der Region verbunden sind. Die Schriften von Jacek Kuroń wurden vom Verlag Wydawnictwo Krytyki Politycznej gesammelt und in den Jahren 2009-2011 in aufeinander folgenden Bänden veröffentlicht.

Als noch das genannte Programm durchgeführt wurde, habe ich einige Male in Teremiski unterrichtet. Die Studienbücher waren beeindruckend, dort waren Eintragungen der bekanntesten polnischen Intellektuellen zu finden, allen voran von Prof. Zygmunt Bauman, der nach dem Tod von Jacek Rektor der Universität wurde. Die Idee, so eine Universität zu gründen war wie ein Stoßgebet und Ausdruck des Glaubens an die Notwendigkeit der Rückkehr zu Gründung von Volksuniversitäten bzw. offenen Universitäten und der für Jacek Kuroń selbstverständlichen Überzeugung, dass Bildung das wichtigste sei. Eigentlich schrieb er sein ganzes Leben lang darüber. Es war kein Zufall, dass er zu sagen pflegte, er sei von Beruf Erzieher.

 

Jacek war von diesem Weg überzeugt: die Entwicklung der öffentlichen Bildung für Kinder und Erwachsene, die eine Gewohnheit des lebenslangen Lernens erzeugt. Er hatte Recht damit. Heute sehen wir immer deutlicher, dass die Demokratie sich in dem Maße bewährt, in dem die Teilnehmenden für das Leben in einer bestimmten Realität bereit sind, d.h. Zugang zu Informationen haben und fähig sind, die Glaubwürdigkeit dieser Informationen zu verifizieren. Nur dass die Idee, die in Teremiski umgesetzt wurde, sich nicht dermaßen ausgebreitet hat, um die Wirklichkeit verändern zu können. Obwohl die Universität sehr effektiv war, war ihr Einflussbereich eingeschränkt, weil keine Nachahmungsprojekte ins Leben gerufen wurden. Das hat sie unvermeidlich und entgegen der Absicht der Gründer, zu einer im gewissen Sinne elitären Einrichtung werden lassen.

 

Dieser Traum ist nicht in Erfüllung gegangen, aber es gibt keinen Grund zu klagen, dass Jacek seiner Zeit voraus war und es deshalb keine Chance für eine Umsetzung gab. Konzentrieren wir uns darauf, dass die vor gut 20 Jahren von Jacek geschriebenen Ausführungen bezüglich der Schlüsselfunktion der Bildung in der Entwicklung der modernen Gesellschaft prophetisch waren. Er hat es eher geahnt, er konnte es nicht so genau wie wir heute wissen, dass die Zukunft so unspezifisch sein wird und von den Teilnehmenden besondere Kompetenzen erfordern. Nur über Wissen zu verfügen, ist zu wenig. Wichtig ist der Charakter und ein spezifisch zu verstehendes Durchhaltevermögen.

 

Wie könnte man das konkret werden lassen, was sollte in der Schule unterrichtet werden?

Wenn man sich auf das Gedankengut von Kuroń beruft, geht es darum, jungen Menschen nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern vor allem an der Bildung ihrer Persönlichkeit zu arbeiten und zivilgesellschaftliche Tugenden auszubilden: Tapferkeit, Widerstandskraft bei Schwierigkeiten, Selbstständigkeit des Denkens, Empathie, die Fähigkeit zu einer intellektuellen Selbstverteidigung, Wahrhaftigkeit, Fleiß.

 

Jacek legte dieses Denken bereits Anfang der 50er Jahre an den Tag, als er hauptamtlicher Leiter der Pfadfinder wurde und später den Walterstamm mitorganisierte. Nebenbei, wie tief der „hegelianische Biss” in dieser Zeit bei Jacek war, habe ich erst jetzt erfahren, als ich seine Biografie von Anna Bikont und Helena Łuczywo gelesen habe. Ich gebe zu, er hat mich mit seiner aufdringlichen Lehrerhaftigkeit, die darauf abzielte, einen „neuen Menschen” zu erschaffen, erschreckt. Ich kann jedoch nicht der Frage ausweichen, wo ich selbst wäre, wenn ich in der Zeit damals gelebt hätte. Jacek hat die damalige Einstellung gründlich aufgearbeitet, er ging einen Weg von der Einflussnahme durch Zwang und Gewalt, die für die kommunistischen Jugendorganisationen bezeichnend war, zu der Arbeit im Komitee für die Verteidigung der Arbeiter und der damit zusammenhängenden persönlichen Begegnungen mit Jugendlichen in den 80er und 90er Jahren, als man nichts mehr programmieren und niemanden mehr dressieren konnte. Doch die Überzeugung, dass man jungen Menschen nicht nur Wissen, sondern auch ein Paket von Kompetenzen vermitteln muss, die es ihnen ermöglichen, Bürger und Patrioten zu sein, vertrat er beständig weiter. Man muss den Menschen allerdings so formen, dass er eigenständig wählen kann.

 

1. Mai 1989 Demonstration mit Opposition und Jacek Kuroń © AAndrzej Iwański (Scanned by Europeana 1989), 1 Maja Jacek Kuroń, Bearbeitung von Redaktion, CC BY-SA 3.0

 

Jacek Kuroń sagte über sich selbst, dass er aus der Nähe der Weichsel ist und unterstrich dadurch, dass er vor allem auf das Einfluss haben will, was in Polen geschieht. Bezugnehmend auf das, was Sie sagen, war es ihm wichtig, Menschen so zu formen, dass sie ihm ähnlich seien, d.h. dass sie Verantwortung für ihr Leben und die Welt übernehmen, in der sie leben und sei es auch nur das lokale Umfeld.

Es gibt verschiedene Bezeichnungen dafür. Man kann vom sozialen Unternehmertum reden, das nicht den materiellen Gewinn als Ziel hat, sondern in dessen Fokus die persönliche Entschiedenheit steht, gegenüber dem Umfeld wirksam zu sein. Jacek war genau so. Das wollte er weitergeben allerdings mit dem feinen Unterschied, dass es ihm dabei nicht so sehr um das eigene Überdauern ging, sondern um die Entstehung von Gemeinschaft.

 

Heute hat diese Einstellung eine viel größere Bedeutung als in der Zeit, als Jacek Kuroń jungen Menschen in Uniformen und mit roten Halstüchern vom „neuen Menschen” erzählte. Heute sind die Menschen freie Subjekte und man kann sie nur ermutigen, sich für andere einzusetzen. Eine Pädagogik, die auf Zwang basiert, kommt nicht in Frage, wenn man sich auf die Würde des Menschen berufen und die Frage stellen will, die sich wohl jede Generation stellt: Wozu brauchen wir Freiheit?

 

In Polen hatten wir schon einige für unsere Zeit wesentliche Wahlen getroffen, woran die nacheinander folgenden Gedenktage für die Ereignisse des Jahres 1989 erinnern: vom Beginn der Beratungen am Runden Tisch am 5. Februar bis zum 4. Juni, an dem die teilweise freien Wahlen zum Sejm und vollständig freien Wahlen zu dem neu gegründeten Senat stattfanden. Es ist eine gute Zeit, um den Dreiklang Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit näher zu betrachten. Wie haben wir ihn in den vergangen 30 Jahren umgesetzt? Was haben wir mit unserer Freiheit gemacht? Wie setzen wir Gleichheit um? Was bedeutet für uns Brüderlichkeit, die ich als eine zwischenmenschliche Solidarität verstehe und nicht als eine Gewerkschaft oder eine politische Bewegung.

 

Es bringt nichts zu leugnen, dass wir hier viel verloren haben, aber es lohnt sich weiterhin, um diese Werte zu kämpfen: um die Solidarität, obwohl sie für viele Menschen als nicht übertragbar auf das tägliche Leben gilt; um die Gleichheit, denn obwohl wir vor 1989 in einem gesellschaftlichen System lebten, in dem sie als Dogma galt, haben wir nicht viel von ihr verstanden. Und schließlich um diese „unselige Gabe der Freiheit“, wie es Pfarrer Józef Tischner nannte, die uns dazu diente, ein auf Freiheit gründendes System aufzubauen, doch in einer sehr liberalen Auslegung dieses Wortes.

 

Das ist eine Freiheit, die größtenteils davon abhängig ist, wie viel man besitzt. Je höher der materielle Status, umso größer das Gefühl der Freiheit, schon allein deshalb, weil Geld einen Zugang zu Bildung und Wissen ermöglicht. Der pädagogische Ansatz von Jacek Kuroń war jedoch ein anderer: Die Menschen müssen einen Zugang zum Wissen haben, weil sie ansonsten anfällig für Manipulation sein werden und es nicht schaffen, eine Demokratie aufzubauen.

Die Brücke über die Ungleichheiten, die immer zwischen den Menschen entstehen werden, sollte die Solidarität bilden. Der Staat kann so eine Brücke bauen, aber nicht auf die Art und Weise, wie er es seit 2015 tut, in dem die Regierung Steuergelder verteilt, um eigene politische Interessen zu erreichen. Es ist eine Politik der Machtgewinnung und des Machterhalts, keine vernünftige Sorge um das Allgemeinwohl. Das Handeln der Regierung entbindet uns allerdings nicht vom Praktizieren der Solidarität im Rahmen unsere Möglichkeiten. Nur, dass man niemanden dazu zwingen oder überreden kann, weil die Voraussetzung für Solidarität eben Freiheit ist, also eine Wahl. Ohnehin ist Freiheit, um es mit Tischner zu sagen, eine Grundbedingung, sie verleiht allen unseren Entscheidungen Bedeutung. Es ist ein Paradoxon: Vor 1989 riefen wir auf den Straßen „Es gibt keine Freiheit ohne Solidarität!“. Jetzt haben wir Freiheit, aber haben wir auch Solidarität?

 

Man sollte nicht verschweigen, dass die Pädagogik von Kuroń schwer ist, weil sie auf die persönliche Wahl des Empfängers der Worte und Handlungen setzt. Und Jacek, wie wir alle ihn in Erinnerung behalten haben, war ziemlich eigen, schon allein auf Grund seiner natürlichen Direktheit. Er schaffte es beinahe mit jedem, der ihn ansprach, eine persönliche Beziehung herzustellen. Das war schon immer so. Ich konnte es beobachten, weil meine Frau und damalige Verlobte eine Nachbarin von den Kurońs war. Die Tür ihrer Wohnung im Erdgeschoss des Blocks der Wohnungsgenossenschaft an der Mickiewicz Straße war immer offen. Jeder durfte reingehen. Und es ging jeder rein. Man hat sich dort reingequetscht wie heute in eine Hipster-Kneipe. Jacek störte es meistens nicht. Außerhalb des Hauses war es ähnlich: Die Menschen hingen an ihm und er fürchtete die spontan entstandene Nähe nicht. In der gleichen Weise hielt er seine Fernsehansprachen. Er war zwar Minister, doch vom Bildschirm sprach er genauso direkt wie zu den Menschen, die ihn auf der Straße ansprachen. Er war derjenige, der zum großen Teil die wirtschaftlichen Änderungen in Folge der „Schocktherapie“ von Balcerowicz abfederte.

 

Jacek war einzigartig darin, Politik zu erzählen. Er erklärte komplexe Sachverhalte verständlich, nannte Dinge beim Namen, es war keine Lüge darin. Er schaffte es, obwohl er in einer Zeit Minister war, in der die Menschen auf unheimlich viel verzichten mussten. Doch Jacek lernte schnell, dass schwierige und echte Vollblutpolitik immer eine Politik der Wahl ist. Sie erfordert es, den Menschen die Wahrheit zu sagen. Und dafür bezahlte er auch den Preis.

 

Das, was ich jetzt sagen werde, ist banal es fehlt an solchen Menschen.

Diese banale Aussage stimmt, weil die heutige Politik darauf gegründet ist, den Menschen das zu sagen, was sie hören wollen und nicht das, was sie hören müssen. Mehr noch, so handelnde Politiker gewinnen die Wahlen. Dabei, und das ist keine originelle Aussage, wartet auf uns doch eine Welt, die den Verzicht auf vieles erfordert.

 

Wer sagt es uns? Die Influencer auf Instagram?

Eine Person, die soweit authentisch und glaubwürdig ist, dass sie Menschen zu einer Änderung des Lebensstils in Richtung mehr Offenheit bewegen kann und zu einer Bereitschaft, die Ressourcen miteinander zu teilen. Aber zuerst muss sie Fragen stellen: Wozu das alles? Welche Welt wollen wir haben? Ich denke, dass Jacek das alles gut durchdacht hat. Er hatte das Risiko des Verlustes des gesellschaftlichen Zusammenhaltes vorhergesehen, sofern man nicht anfängt, dem sich Einschließen in mehr oder weniger glücklichen Enklaven entgegenzuwirken. Die Welt kann sich nicht in Stücke teilen. Es ist wohl das zentrale Dilemma der modernen Zivilisation: Ist Offenheit eine Bedrohung oder eine Quelle der Kraft und Sicherheit? Bisher überwiegt in Polen die erste Überzeugung. Wie weit der Prozess der gegenseitigen Abgrenzung fortgeschritten ist, zeigt der Mikrokosmos der Wohnungsgenossenschaft, die ich erwähnte, als ich von dem offenen Haus Kurońs sprach. Heute ist die Siedlung, in der Jacek wohnte, eingezäunt. Ohne den Eingangscode zu kennen, kann man noch nicht mal den Hof betreten. Es gibt dort keine Bänke, es erinnert an eine betonierte Rinne.

 

Als vor einigen Jahren die ersten Stadtinitiativen gegründet wurden, die daran erinnerten, dass „die Stadt uns gehört”, also die Einwohner das Recht auf den Raum haben, in dem sie leben, erblickte ich darin das Denken von Jacek Kuroń über das Eigentum, das gemeinsame Wohl, aber auch über Selbstorganisation. Jacek war schon in den frühen 90er Jahren ein großer Befürworter von spontanen Aktivitäten „von unten“.

 

Das ist eine andere Form der Umsetzung seines berühmten Spruches Zündet die Parteikomitees nicht an, gründet eigene.

Was auch zu diesem Ergebnis führte, dass Jacek, basierend auf den eigenen Erfahrungen aus der Zeit seines Wirkens in der demokratischen Opposition, sich vorstellte, dass die nach 1989 aus eigenen Antrieb und als Antwort auf ganz konkrete Bedürfnisse entstehenden Nichtregierungsorganisationen, fast ohne Sauerstoff leben könnten.

 

Das bedeutet?

Ohne Geld, ohne Strukturen, ohne Leitung, die für alles verantwortlich ist. Ein Teil der Organisationen, die z.B. dazu da sind, Selbsthilfegruppen zu bilden, benötigt das alles nicht. Aber wenn eine Organisation entsteht, um eine Schule oder ein Obdachlosenheim zu betreiben, die also de facto die Aufgaben von öffentlichen Trägern übernimmt, muss sie Zugang zum Geld haben. Und sie muss, gemäß der geltenden gesetzlichen Vorgaben, dieses Geld abrechnen. Eine Nichtregierungsorganisation wird in Folge der natürlichen Entwicklung zu einem Betrieb, der von kompetenten Personen geführt werden muss. Ich vermute, dass Jacek die Notwendigkeit der Institutionalisierung verstand, aber er fürchtete sie, weil er der Meinung war, dass die Papiere jede gute Idee ersticken werden.

 

Wenn ich aber die heutige „Uberisierung“ der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten beobachte – damit meine ich jede Situation, wenn z.B. eine Gruppe Jugendliche eine Demo für Klimaschutz oder gegen die Zensur im Internet via Facebook organisiert – sehe ich darin einen Splitter aus dem Denken von Kuroń. Für diese jungen Menschen, ähnlich wie für Kuroń, scheint eine Institution überflüssig zu sein. So nach dem Motto, wenn irgendetwas falsch läuft, dann können wir uns zusammenraufen, um zu protestieren oder Geld zu sammeln. Nur, dass bei so einer Einstellung kein Raum für ein regelmäßiges Handeln entsteht.

 

Ein paar Wochen vor dem landesweiten Streik im Bildungswesen initiierte eine Gruppe von Lehrern die Aktion Bürgerberatung zum Thema Bildung. Sie stellten fest, dass die Aufmerksamkeit, die der Streik um Lohnerhöhungen auf sich zog, ein guter Moment war, um die seit langem überfällige Diskussion über polnische Schulen zu starten. Die Vorgehensweise war so, als ob Jacek Kuroń das Drehbuch dazu geschrieben hätte.

Die Aktion, die spontan auf Facebook entstand (die Initiative erreichte schnell über 30.000 Lehrer aus unterschiedlichen Gewerkschaften), meldete sich bei der Werkstatt für soziale Forschung und Innovation „Stocznia” mit einem Angebot der Zusammenarbeit. Ihre Energie wurde in handfestes und langfristig angelegtes Vorgehen umgewandelt. Dank der Initiative fanden im April in ganz Polen fast 90 regionale Beratungen zum Thema Bildung statt. Es war eine gänzlich spontane Initiative „von unten“. Jacek hätte es wohl gemocht… Umso mehr, weil es eine Art ist, die bei ihm abgeguckt wurde. Immerhin hatte er viel Kraft und Gesundheit für seine Arbeit im Vermittlungsausschuss zwischen Staat, Arbeitgeber und Arbeitnehmer geopfert, und zwar in der Zeit, in der der höchste Preis für die Transformation von den Arbeitern der großen Industriebetriebe gezahlt wurde, die das vorherige System gestürzt hatten.

 

Dieser Vermittlungsausschuss konnte ab einem gewissen Zeitpunkt nur bedingt verhandeln, weil er die Interessen derjenigen, die nicht am Tisch saßen, nicht beachtete, also z.B. der Verbraucher, Arbeitslosen, Umweltschützer. Ihre Anliegen wurden beispielsweise durch die Vertreter der Nichtregierungsorganisationen thematisiert und der soziale Dialog wandelte sich zum zivilgesellschaftlichen Diskurs. Jacek hat es unterstützt. Doch jetzt wird es noch anders werden, weil genauso wichtig wie die Institutionen sind auch die Initiativen, die auf den modernen Kommunikationsmitteln basieren. Die Ansichten von vielen Menschen können durch einen Internetalgorithmus oder den bereits erwähnten (Instagram-)Influencern beeinflusst und geändert werden. In der Politik beginnt es an Bedeutung zu gewinnen, es ist nicht mehr das System der direkten Vertretung, bei dem man sich mit den Wählern verständigen muss, um ein Mandat zu gewinnen, sondern es sind außerdemokratische Wege der Einflussnahme. Doch bisher hat noch niemand eine Grammatik einer solchen Einflussnahme geschrieben.

 

Vielleicht befindet sich in dem Nachlass von Jacek Kuroń ein Rezept?

Eher weniger – solche Amorphie der Strukturen und der Leitung hat selbst er nicht vorhergesehen. Aber vielleicht hätte er es geschafft, sich unter diesen Umständen zurechtzufinden, weil es ihm auch bewusst war (er starb vor gerade mal 15 Jahren), dass die politischen Parteien keine Volksparteien mehr seien. Das bedeutet, dass es außerhalb der bekannten Strukturen irgendwelche Menschen gibt, denen man zuhören und mit denen man reden muss. Jacek verfügte über ein seltenes Talent – er hörte seine innere Stimme und Dank dessen hatte er in vielen Momenten die richtige Ahnung. Ich muss allerdings zugeben, dass ich nicht ausreichend Kraft und Mut hatte, alle seine Bücher zu lesen. Manche seiner Ausführungen erinnern an Bewusstseinsströme, sie sind schwer zugänglich, kryptisch.

 

Das könnte der Grund dafür sein, dass sie nicht immer ernst genommen wurden.

Es ist jetzt eine große Kunst, dieses Werk ernst zu nehmen. Man muss lernen, es zu lesen, die wichtigsten Themen raussuchen und darüber zu diskutieren. Anderenfalls bleiben hauptsächlich Anekdoten über Jacek übrig wie die, in der er versichert, „Whisky würde mit Eis verkauft werden, wenn man ihn so hätte trinken sollen”. Insofern ein großes Lob für die Aktivisten von Krytyka Polityczna dafür, dass sie die Texte von Jacek ausfindig machten und in einer kompakten Form herausgegeben haben. Es gibt immer weniger Autoritäten, deshalb hat die Art und Weise, wie man mit deren Nachlass umgeht, eine umso größere Bedeutung. Zum einem muss man sie verstehen und sich möglichst viel davon merken (dafür sind die Gesamtausgaben förderlich). Zum anderen ist eine Neuinterpretation der Gedanken erforderlich, damit die Autorität nicht zu einer Gestalt aus dem Archiv wird, sondern neu gelesen werden kann.

 

Jacek beginnt, wie eine Ikone wahrgenommen zu werden – etwa wie ein Foto, auf dem er auf seine besondere Art die Zigarette hält. Doch seine Ideen sind noch am Leben, ich finde sie in verschiedenen Initiativen. Die Frage lautet allerdings, ob alle? Was ist veraltet? Behandeln wir seinen Nachlass nicht zu einseitig, in dem wir uns nur das rauspicken, was wir gerade brauchen? Die gleiche Frage müsste eigentlich auch den Erben der Ideen von z.B. Władysław Bartoszewski, Bronisław Geremek, Pf. Józef Tischner, Jerzy Turowicz, Pf. Jan Zieja und anderen Personen, die 1989 begannen Polen einzurichten, gestellt werden.

 

Was ist aus dem Werk von Jacek bestimmt nicht veraltet?

Dass er ein Mensch des Dialogs war. Er war fähig, mit jedem zu reden, unabhängig von dem Wissensstand und dem Platz der Person in den politischen Lagern. Jacek war dazu in der Lage, auch mit seinen Peinigern aus der Staatssicherheit zu reden (nicht zu kollaborieren!) und er wurde einige Jahrzehnte überwacht. Es geht nicht nur darum, dass Jacek zugänglich war und die Unterschiede verwischte. Er hatte ein tiefes Bedürfnis nach Gespräch. Insbesondere nach Gesprächen bei Massenveranstaltungen oder Versammlungen – dann war er in seinem Element, das er beherrschte und das ihm Kraft gab.

 

Er glaubte fest an den Dialog und zwar nicht nur zwischen den Klassen oder in der Politik, sondern auch an den Dialog zwischen den Kulturen und Nationalitäten. Daher kommt sein Engagement für die Angelegenheiten unsere östlichen Nachbarn, der Ukraine und Weißrussland. Es hat mich nicht überrascht, dass Wiktor Juschtschenko, der nach der „Orangenen Revolution” Präsident der Ukraine wurde, bei der Beerdigung von Jacek im Juni 2004 anwesend war. Ein halbes Jahr später entstand der erste Majdan in Kiew. Viele Menschen aus der damaligen Generation, die nach Freiheit und Unabhängigkeit strebten, nahmen auf natürliche Weise Bezug auf ihn und suchten Kontakt zu ihn.

 

 

Jan Jakub Wygnański (geb. 1964 in Warschau) gehörte zu den jüngsten Teilnehmern der Beratungen am Runden Tisch. Er war viele Jahre Assistent von Henryk Wujec. Nach 1989 arbeitete er im Bereich der Nichtregierungsorganisationen. Er ist Soziologe und Vorsitzender der Stiftung Werkstatt für soziale Forschung und Innovation „Stocznia”.

 

 

Aus dem Polnischen von Bożena Meske

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