Zum Inhalt springen

Neue deutsche Härten

Der rasante Aufstieg der „Grünen“ hat viele Gründe. Er ist einer neuen Bereitschaft zur politischen Härte ebenso geschuldet wie spezieller deutscher Nationalpsychologie. Auch die gleichzeitige Etablierung der AfD als neuer Volkspartei im Osten zeigt: Angela Merkel ist bereits Geschichte. Die Drachensaat geht auf.

 

Die „Flüchtlingskrise“ war gestern, die „Klimakrise“ ist heute. Die deutsche Politik lädt nicht mehr zum „Flüchtlingsgipfel“, sondern zum „Klimadialog“. Unter dieser Überschrift will die in den Umfragen ebenso wie in den jüngsten Wahlen abgestürzte CDU „den Sommer nutzen, um auf allen Ebenen der Union Vorschläge zur Einhaltung der Klimaschutzziele zu erarbeiten und in die politische Debatte einzubringen.“ So wurde es Anfang Juli verkündet. Der abrupte Wandel der leitenden politischen Begriffe in Deutschland zeigt: Erst war es die AfD, die mit ihrer Fokussierung auf die Migrationsfrage die anderen Parteien vor sich her trieb, nun sind es die Grünen, deren Hauptthema, der Klimawandel, die öffentliche Debatte bestimmt. Grün sein wollen plötzlich alle, denn die Grünen sind momentan der erfolgreichste Anbieter auf dem Forum der politischen Weltanschauungen.

 

Robert Habeck, © Raimond Spekking CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)

Bei der Europawahl im Mai lagen die Grünen als zweitstärkste Kraft trotz beeindruckender Zugewinne rund acht Prozentpunkte hinter CDU/CSU. In aktuellen Umfragen rangieren sie zwischen 24 und 26 Prozent und damit sehr knapp hinter oder sogar vor der Union. Der Einbruch der Einen und der Aufstieg der Anderen setzen sich scheinbar ungebremst fort. Schon wird nach einem grünen Kanzlerkandidaten gesucht. Da die neue Vorsitzende der CDU und neuerdings auch Verteidigungsministerin, Annegret Kramp-Karrenbauer, fast täglich Proben ihrer Überforderung gibt, und Angela Merkel ohne großen Gestaltungswillen ins Finale ihrer politischen Karriere schlittert, könnte bald Robert Habeck ans Bundeskanzleramt klopfen. Zwar ist der Name des grünen Co-Vorsitzenden rund der Hälfte der Bevölkerung unbekannt. Wer ihn aber bewusst wahrnimmt, traut ihm mehrheitlich eher Gutes als Schlechtes zu, eher Kluges als Dummes. Habeck hat das Image eines knuffigen, nachdenklichen Erkläronkels von der Küste. Dass er gemeinsam mit seiner Ehefrau bereits mehrere Unterhaltungsromane schrieb, unterstützt den Eindruck. Ist das ein Irrtum, eine Hoffnung, eine Erkenntnis – oder eine typisch deutsche Gruppenillusion?

 

Rätselhaft einerseits, nachvollziehbar andererseits ist der kometenhafte Aufstieg der Grünen aus dem Tal einstelliger Wahlergebnisse. Der steile Aufschwung in den letzten anderthalb Jahren hat ebenso personelle wie mentalitätsgeschichtliche und strukturelle Gründe. Die Grünen fahren jetzt die Ernte ein für eine jahrzehntelange Milieupflege. Das Grüne als Denk- und Lebensstil versteht sich vielerorts von selbst, es muss sich nicht rechtfertigen. Wer wollte ernsthaft gegen Umweltschutz, Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung sein? Grüne Sympathisanten in Politik und Medien verstärken den Effekt ins Monumentale: Andere Parteien, hören wir in Rundfunk, Presse, Fernsehen fast täglich, verlören sich im Kleinklein widerstreitender Projekte, bei den Grünen gehe es um das große Ganze, um die Zukunft, die Erde, das Klima. So entsteht der Eindruck, eine Partei, die angetreten war, den Alltag zu politisieren, beackere ein vorpolitisches Feld, das als solches außerhalb jeder Diskussion steht. In den Worten der grünen Co-Vorsitzenden Annalena Baerbock vom 27. Juni: „Wir wollen im Hier und Heute unsere Zukunft so gestalten, dass wir gemeinsam hier noch gut leben können.“

 

Diesen universalen Anspruch in konkrete Politik zu übersetzen, wird die Herausforderung der nächsten Jahre sein. Die Grünen könnten daran scheitern und auseinander bersten in die heute vom strahlenden Duo Habeck und Baerbock überdeckten Parteiflügel. Das gute Leben nämlich: Was bedeutet es beispielsweise für den, der mit den grünen Gesellschaftsvorstellungen, den grünen Geschlechterbildern, der grünen Industriepolitik nicht übereinstimmt? Die Zukunft gestalten: Kann man das überhaupt? Ist Zukunft nicht immer offen, auch und gerade da, wo sie anhand wissenschaftlicher Modelle skizziert wird? Das große Wir, das sich selbst definiert: Kann es das geben angesichts der polarisierenden Effekte der Grünen auf die Gesellschaft? Mit den Grünen-Freunden in Politik und Medien stieg auch die Zahl der Grünen-Gegner rapide. Die „ökologische Modernisierung“, die die Grünen ins Werk setzen wollen, wird nicht ohne Kollateralschäden für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bleiben.

 

Das eben ist das Verblüffende, zunächst Rätselhafte am gegenwärtigen Boom der Grünen: Er geht einher mit einer neuen Härte, mit einer Bereitschaft zur rhetorischen Grausamkeit. Müsligemütlichkeit und Naturromantik sind perdu. Robert Habeck erklärte unlängst: „Wer uns wählt, weiß und will, dass sich damit Gravierendes ändert.“ Das Gravierende ist das Schwierige, das Einschneidende, das Harte. Von Habeck stammt auch der Satz, eine „große Veränderung in der Gesellschaft“ sei nötig, „dramatische Transformations- und Modernisierungsprozesse“ stünden an, „wir werden in einer großen Geschwindigkeit eine hochentwickelte Industrie verändern müssen.“ Sehr vieles sehr schnell ändern: So reden nicht Bewahrer, so reden Revolutionäre.

 

Dazu passt die Aussage der grünen Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, viele Menschen hätten „verstanden, dass sich die Dinge grundlegend ändern werden. Die Frage ist nur, ob wir es selbst übernehmen oder uns von den Folgen der Klimakrise überrollen lassen.“ Die Phrase von der „Klimakrise“ fungiert als Drohkulisse und Totallegitimation. Getreu dem alten Sprichwort „Not kennt kein Gebot“ wird eine projektierte „Klimakatastrophe“ verwendet, um drakonische Maßnahmen anzukündigen, dies- oder jenseits demokratischer Prozesse. Ein Fremdeln mit der Demokratie bereitet sich vor, wenn die grüne Umweltaktivistin Luisa Neubauer darlegt, „manchmal“ dauerten demokratische Prozesse „zu lange. Wir müssen Demokratie neu denken“. Abermals erklingt die Sprache der Revolution, erschallt die Sehnsucht nach harten Schnitten. Aus den Reihen einer Partei freilich, die trotz aller Aufschwünge weit davon entfernt ist, die Mehrheit der Wähler hinter sich zu vereinigen.

 

Zuvor hatte Neubauer in einem Fernsehinterview, befragt nach der Zukunft der Bergleute nach einem vollendeten Kohleausstieg, mit einem beredten Achselzucken geantwortet. Arbeitsplätze sind offenbar von minderem Interesse, wenn die laut Neubauer „sehr tödliche“ Klimakrise den raschen Umbau der Gesellschaft erfordert. In Berlin erklärte unterdessen der grüne Stadtrat Florian Schmidt, „die Menschen“ sollten „nur noch selten Autos benutzen“. Darum müsse man durch bauliche Maßnahmen „das individuelle Autofahren unbequem machen, so hart das klingt.“ Härte, Härte überall. Es könnte sein, dass eines Tages die Frage nach der Verfassungstreue der Grünen gestellt werden muss. Der Eingriff in die Freiheitsrechte des einzelnen könnte massiv sein.

 

Einstweilen mildert ein solider Außenseiter wie der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann das scharfe Profil ab. Wo Habeck Disruption diagnostiziert und Gravierendes fordert und eine neue Gesellschaft am Horizont erblickt, da zieht Kretschmann die Bremse und schaltet mehrere Gänge auf ein mentales Landstraßentempo herunter. Ende Juni sagte der wertkonservative Politiker in einem Zeitungsinterview, „die Leute müssen nicht befürchten, wenn die Grünen zum ersten Mal den Kanzler stellen, dass das Oberste zuunterst gekehrt wird.“ Es gebe bei einem Regierungswechsel auf Bundesebene immer „einen hohen Grad an Kontinuität. Das wäre bei uns nicht anders.“ Die Grünen seien „kompromissbereit“.

 

Will Kretschmann den Wählern die Sorge nehmen, die Umbaupläne der grünen Parteispitze würden akkurat abgearbeitet und Deutschland sei dann nicht wiederzuerkennen? Oder ist sein Plädoyer für das Kontinuierliche an die eigenen Leute gerichtet? Diese sollten es nicht übertreiben mit ihrer sozialrevolutionären Rhetorik? Den Ton setzen einstweilen Baerbock und Habeck. Wenn dieser sich zu einer Politik bekennt, in der die Regierung Entscheidungen treffe und eine „bessere Politik“ anziele statt des „besseren Menschen“: Dann steht er in einer sehr deutschen Tradition. Das Ende des Merkelschen Lavierens und Moderierens kündigt sich an. Es soll wieder entschieden werden, rasch und nachhaltig.

 

Der Höhenflug der Grünen markiert die Rückkehr zu einer Politik, die anordnet. Zu einer Regierung, die durchsetzt. Zu Verboten, die dem Bürger und Konsumenten die Entscheidung abnehmen – nur noch Bio-Eier im Handel, nur noch emissionsfreie Autos auf den Straßen. Annegret Kramp-Karrenbauer sinkt auch deshalb von Umfragetief zu Umfragetief, weil ihr Politikverständnis dem dialogischen Stil verhaftet bleibt, wie ihn einst die Grünen pflegten. Kramp-Karrenbauer sitzt noch an jenem runden Tisch, den die Grünen längst umgestoßen haben. Die Grünen profitieren von der deutschen Lust, im Namen eines größeren Ganzen auf individuelle Rechte zu verzichten. Und derzeit gibt es kein größeres Ganzes als das Klima – obwohl die Deutschen an dessen Wohl oder Wehe nur einen verschwindend kleinen Anteil haben.

 

Doch die Freude am Gehorsam und die Begeisterung für das Große ist nur der eine mentalitätsgeschichtliche Strang, von dem die Grünen profitieren. Der Mensch mag nur da ganz Mensch sein, wo er spielt; der Deutsche ist nur dann ganz deutsch, wenn er im Wald ist. Der Wald ist das eigentliche Biotop der Deutschen, und darum hat eine Partei, die sich den Schutz der unmittelbaren Natur auf die Fahnen schreibt, einen Standortvorteil. Wird diese nationalpsychologische Disposition unterstützt von globalen Debatten und wissenschaftlichen Erkenntnissen und angefeuert von sympathisierenden Multiplikatoren, kann in Deutschland – und nur in Deutschland – aus einer kleinen gemütlichen Oppositionspartei eine knallharte Staatspartei neuen Typs werden. Um den Preis freilich auch, dass sich mit ebensolcher programmatischer Härte eine rechte Anti-Grünen-Partei namens AfD anschickt, zur neuen Volkspartei des Ostens zu werden. Nur des Ostens? Man wird sehen.

 

Die parallelen Höhenflüge von AfD und Grünen zu unterschiedlichen Spitzen sind Akte vorgezogener Nachlassverwaltung. Die Ära nach Merkel hat begonnen. Die tiefen Spaltungen, die Merkels späte Politik verursacht, werden Grüne und AfD verstetigen, weil sie beide davon leben. Die Drachensaat geht auf. Suchte man nach einem Sound für die neue deutsche Härte, müssten es linke Texte zu rechter Rhetorik sein. Ihr Auftritt, „Rammstein“!

 

Schlagwörter:
Alexander Kissler

Alexander Kissler

Alexander Kissler studierte Literaturwissenschaften und Geschichte. Er arbeitet im Berliner Büro der NZZ und schrieb zahlreiche Sachbücher, zuletzt "Die infantile Gesellschaft. Wege aus der selbstverschuldeten Unreife".

Ein Gedanke zu „Neue deutsche Härten“

  1. Können wir bitte von der Perspektive wegkommen, das “Deutschland nur einen kleinen Anteil” am Klimawandel hat? Jeder Mensch hat mehr oder weniger nur einen Anteil von 1/7.700.000.000 und Deutsche davon deutlich mehr als Menschen anderswo auf der Welt. Darum müssen sich die Dinge hierzulande auch viel mehr verändern als anderswo, zumindest aufs Klima bezogen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Symbol News-Alert

Bleiben Sie informiert!

Mit dem kostenlosen Bestellen unseres Newsletters willigen Sie in unsere Datenschutzerklärung ein. Sie können sich jederzeit austragen.