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Welche Ostpolitik?

Die Außenpolitik eines jeden Staates wird von seiner Geschichte, von der besonderen Zusammenstellung von Faktoren, die das psychologische Bild der Nation gestalten, sowie von seiner gesellschaftlichen Struktur geformt. Im Falle der letzteren ist nicht nur seine heutige Struktur von Bedeutung, sondern auch deren Entstehungsgeschichte.

 

Polens Trauma und eine der prägendsten Geschichtserfahrungen ist sein Verhältnis zum imperialen Russland, das eine existenzielle Bedrohung für die polnische Unabhängigkeit darstellt. Es zählt daher zur polnischen Staatsraison, die zwischen Polen und Russland liegenden Staaten zu unterstützen, was zugleich von beinahe organischem Misstrauen gegenüber Moskau begleitet wird – vermutlich zurecht.

 

Die gesellschaftliche Struktur Polens besteht, und das unterscheidet Polen grundsätzlich von den meisten westeuropäischen Staaten, aus einer Mischung von Nachfahren einer spezifisch polnischen Gesellschaftskategorie, der Szlachta – also Menschen, die adlig geboren wurden – und des Bauerntums. Der Anteil an Nachkommen des Bürgertums, das heißt der gesellschaftlichen Gruppe, für die der Handel das Wesen ihrer Existenz ausmachte, ist viel geringer als in Westeuropa. Die heutigen politischen Eliten Polens haben kaum etwas mit den im Entstehen begriffenen Geschäftseliten zu tun. Die Außenwelt, die dies nicht versteht, beobachtet einerseits den Pragmatismus polnischer Unternehmer mit Bewunderung, die mit durchschlagendem Erfolg ausländische Märkte erobern. Andererseits wird eine Unfähigkeit zur pragmatischen, auf den Austauschhandel gestützten Denkweise – das eigentliche Wesen der Diplomatie – der polnischen politischen Eliten wahrgenommen. Während Spiel und Kompromiss für die polnische Geschäftswelt etwas Normales sind, so sind für die politischen und intellektuellen Eliten Polens das Spiel etwas Fremdes und der Kompromiss moralisch suspekt. Bedauerlicherweise befindet sich die polnische Außenpolitik in den Händen der zweiten Gruppe. Und für die polnische Ostpolitik bedeutet das eine Diplomatie nach dem Motto: „alles oder nichts”.

 

Wenn man wiederum ein psychologisches Porträt der Polen zeichnen wollte, so wären die grundlegenden, konstituierenden Elemente der polnischen Seele schnell ausgemacht: die Erinnerung an die 123 Jahre währende Unfreiheit, das unvorstellbare Grauen des Zweiten Weltkrieges sowie die aufoktroyierte, fast 50 Jahre dauernde kommunistische Herrschaft. Polen war in seiner Geschichte einst eine Großmacht gewesen, doch die Erinnerung an jene Zeit ist bereits so weit entfernt, dass sie heute keinerlei Rolle mehr spielt. Lebendig sind dagegen die Erinnerungen an die Niederlagen, wobei die Polen, wie jedes Volk, eine beschränkte Fähigkeit haben, ihre Niederlagen zu konstatieren. Die Erhebung seiner Niederlagen in den Rang „moralischer Siege“ in der nationalen Mythologie ist zur polnischen Flucht vor der Aufarbeitung geworden. Für die polnische Ostpolitik hat dies zur Folge, dass in Polen niemand wegen der Ergebnisse zur Rechenschaft gezogen wird, denn jede Niederlage ist doch sowieso ein Sieg.

 

Die wichtigsten konstitutiven Elemente und zugleich der Fluch der polnischen Ostpolitik sind das Gefühl der Bedrohung, das Begreifen der Diplomatie als eines Gebietes, in dem Werte, und keine Interessen miteinander ringen, was die Unfähigkeit zum Aushandeln zur Folge hat, weiterhin der fehlende Pragmatismus und die aus der polnischen Geschichte stammende Unfähigkeit, Niederlagen als Niederlagen zu bezeichnen.

 

Polen war der erste Staat, der die Unabhängigkeit der Ukraine anerkannt hatte. Das allein zeigt schon, von welch fundamentaler Bedeutung für Polen das Auftauchen der Ukraine und Weißrusslands zwischen Polen und Russland war. Warschau hatte sich gleich nach der Entstehung dieser Staaten in der Rolle dessen gesehen, der ihnen den Weg in den Westen ebnet. Im Fall der Ukraine entwickelten sich die Beziehungen sehr positiv. Zugleich begann man in Warschau den Begriff zu lancieren, Polen sei „der Anwalt der Ukraine im Westen“. Wenn man über diese Formulierung nachdenkt, so ist sie sowohl unglücklich als auch treffend gewählt. Unglücklich deshalb, weil sie das Element einer deutlich paternalistischen, für ehemalige Metropolen typischen Herangehensweise enthält. Treffend, weil im Unterschied zu der manchmal vulgarisierten Ostpolitik, deren manche Bekenner im Osten immer nur Russland wahrgenommen haben und dies weiterhin tun, Polen die Ukraine und Belarus von Anfang an als selbständige Existenzen behandelt hatte, die man nicht zur Rolle quasi-souveräner Vasalen Russlands verurteilen kann. Die polnische Politik war in diesem Sinne weitsichtig. Mehr noch: Warschau hat sich nie – abgesehen von einigen kurzen Episoden –  Illusionen darüber gemacht, dass Moskau zu einem glaubwürdigen und vorhersehbaren Partner aufsteigen würde, und nicht zu einem revanchistischen Staat, der eine Revision der europäischen Ordnung nach dem Kalten Krieg anstreben würde. Die Schwäche der polnischen Politik bestand wiederum in fehlender Geduld und in der Unfähigkeit, eine pragmatische und konsequent durchgeführte Agenda seiner Beziehungen zur Ukraine fortzusetzen.

 

Als tickende Zeitbombe, die die polnisch-ukrainischen Beziehungen sprengen sollte, erwies sich die Aufarbeitung des Völkermordes, den ukrainischen Nationalisten während des Zweiten Weltkrieges an der polnischen Zivilbevölkerung in Wolhynien (einem Gebiet der heutigen Ukraine) begangen haben. Lange Jahre herrschte in Warschau die Überzeugung, dass Polen die Ukraine unterstützen müsse und es im Sinne der polnischen Staatsraison sei, dieses Verbrechen möglichst selten anzusprechen, da Kiew nicht bereit sei, dieses tragische Blatt seiner Geschichte aufzuarbeiten. Leider umfasste die polnisch-ukrainische Versöhnung infolge einer solchen Politik nur Bevölkerungskreise, die sowieso schon lange miteinander versöhnt waren. Die Nachkommen der Opfer auf der einen und die ukrainischen Nationalisten auf der anderen Seite, die versuchten, die Verbrechen zu rechtfertigen, standen aber einander immer unwilliger gegenüber. Nachdem die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) 2015 an die Macht gekommen war und die Frage des Massakers von Wolhynien sehr entschieden in die Agenda der bilateralen Beziehungen aufgenommen wurde, explodierten die seit 25 Jahren in die Ecke gedrängten Emotionen mit doppelter Kraft, und die Beziehungen zwischen Warschau und Kiew begannen – mit deutlicher Hilfe russischer Propagandakampagnen, die den Zusammenprall Polens und der Ukraine zum Ziel hatten – sichtlich durchzudrehen.

 

Die Beziehungen zu Belarus, das jüngst den 25. Jahrestag der Präsidentschaft von Aljaksandr Lukaschenka feierte, sind ein Beispiel für die völlige Unwirksamkeit der polnischen Außenpolitik. 1994 rechnete Polen aktiv mit dem Sieg von Aljaksandr Lukaschenka und hielt ihn für das kleinere Übel als den aus der sogenannten roten Nomenklatura stammenden Ministerpräsidenten Wjatschaslau Kebitsch. Als sich herausstellte, das Aljaksandr Lukaschenka ein ganz anderer Politiker war, als man in Warschau angenommen hatte, versuchte man in den darauffolgenden 25 Jahren mehr oder weniger konsequent die belarussische Opposition zu stärken. Polen hatte somit sein Ziel, ein dauerhaft unabhängiges Belarus, mit der Methode – der Demokratie – verwechselt. Warschau unterhält fast keine Beziehungen zur belarussischen Nomenklatura. In den Beziehungen zur Opposition hatte man zuerst auf deren gemäßigten Teil gesetzt, doch später damit begonnen, auch Radikale zu unterstützen. Man hatte nur eins vergessen: Wenn die einzige Idee der Radikalen darin besteht, die Menschen auf die Straßen zu bringen, kann das nur dann einen Sinn haben, wenn die Menschenmenge auf der Straße so groß ist, dass sie sich von den Kräften des Regimes nicht gewaltsam auflösen lässt. 2010 brachte die belarussische Opposition die Menschen auf die Straßen, worauf die Machthaber mit Gewalt reagierten. Das Ergebnis waren Sanktionen der Europäischen Union gegen Belarus, deren Nutznießer natürlich allein Russland war.

 

Polen hatte Anfang der 1990er Jahre die Ziele seiner Ostpolitik selbstständig formuliert. Als das Sowjetsystem fiel, war Polen noch kein Teil des Westens. Warschau war bei der Formulierung seiner Ziele der wohl souveränste Staat. Es bleibt eine offene Frage, ob mit wachsender Sicherheit und Wohlstand der Gestaltungsspielraum Polens ebenso stieg, oder ganz im Gegenteil – abnahm? Um es direkt zu sagen: Es bleibt eine offene Frage, inwieweit die polnische Außenpolitik in den darauffolgenden Jahren wirklich souverän war. Man kommt nicht umhin, die zeitliche Koinzidenz zwischen dem polnisch-russischen Reset von 2007 und 2008 und dem amerikanisch-russischen Reset zu bemerken, der formell zwar erst ein Jahr später, nämlich 2009 erfolgte, doch in Wirklichkeit schon früher implementiert wurde. Das Problem mit dem amerikanisch-russischen Reset besteht darin, dass, sooft von ihm die Rede ist, aufgezählt wird, welche Vorteile sich die Vereinigten Staaten dabei verschafft hätten: Transithilfe nach Afghanistan, Unterstützung in den sechsseitigen Gesprächen zum Thema Atomprogramm Nordkoreas, Unterstützung für die amerikanische Politik im Nahen Osten, den Exportstopp des S-300-Flugabwehrraketensystems in den Iran und die Bauverzögerung des Atomkraftwerkes Busher im Iran. Dagegen wird fast gar nicht über die Vorteile gesprochen, die Russland aus diesem Reset gewonnen hatte. Die Logik sagt uns vor, dass das Spiel um Kiew und Minsk für Moskau immer von größter Priorität war. Die Tatsache, dass keiner dieser Staaten für die USA von besonderer strategischer Bedeutung war, ist offensichtlich. Offensichtlich ist auch, dass die Vereinigten Staaten die dominierende Großmacht in Mittelosteuropa sind, darunter auch in Polen. Die Frage, auf die man nach einer Antwort suchen sollte, lautet, ob der polnisch-russische und amerikanisch-russische Reset nicht auch in einem gewissen Grade die Beziehungen zur Ukraine und Belarus erfasst hatte, und wenn ja, dann in welchen Aspekten?

 

Die Frage ist insofern aktuell, weil der nächste Reset sich bereits am Horizont abzeichnet. Vieles deutet darauf hin, dass die wichtigsten westlichen Mächte von dem sich in die Länge ziehenden Konflikt mit Russland ermüdet sind. Vor gar nicht so langer Zeit ist es in Moldawien zu einem Regierungswechsel gekommen und der bisherige Statthalter, der Oligarch Vlad Plahotniuc, hat das Staatsgebiet urplötzlich verlassen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass dieser Wechsel das Ergebnis gemeinsamen Vorgehens der Vereinigten Staaten, Russlands und der Europäischen Union gewesen ist. Dabei ist ein eigenartiges Kondominium entstanden. Das Problem besteht darin, dass sich diese Vereinbarung als sehr brüchig erweisen könnte. Theoretisch kann man sich zwar ein Szenario vorstellen, bei dem sich Moskau, das bisher autoritäre Systeme vorgezogen hatte, mit seiner Dominanz im Rahmen eines demokratischen Systems zufriedengeben würde, mit einer gewissen Mitbestimmung des Westens. Nur, dass erstens mit dem steigenden Autoritarismus in Russland selbst kaum ein demokratisches Machtsystem mit dem übereinstimmen wird, das Russland selbst hat, und zweitens – der Ehrgeiz Russlands viel weiter geht.

 

Es lohnt sich übrigens, an dieser Stelle darüber nachzudenken, was die wahre Ursache des Kriegsausbruchs in der Ukraine gewesen ist. Allem Anschein zum Trotz ging es gar nicht um das Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der Europäischen Union, sondern um die Revolution, die den völlig korrumpierten und immer autoritärer werdenden ukrainischen Präsidenten gestürzt hatte. Für die russischen Machteliten sind nicht die Europäische Union und die NATO, sondern die Demokratie und die mit ihr einhergehende Frage „Wo ist das Geld geblieben“ eine tödliche Gefahr. Russland bleibt nämlich unverändert ein reiches Land von armen Menschen. Man kann nicht ausschließen, dass das heutige offensive Vorgehen Russlands gegenüber dem Westen keinen Angriff, sondern eine Verteidigung darstellt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Russland unsere Staaten als Antwort auf etwas angreift, das es als Angriff gegen seine Eliten wahrnimmt. Wenn es aber so ist, so wäre es eine Abwehr gegen die demokratische und freiheitliche Agenda des Westens.

 

Vom Standpunkt der Vereinigten Staaten aus gesehen, die trotz manchmal zu originellem Stil ihres Präsidenten Trump immer noch die wichtigste Großmacht des Westens sind, stellt heute China die größte strategische Herausforderung dar. Dies bedeutet, dass gleichsam natürlich die Versuchung entsteht, sich mit Moskau zu verständigen – wenn auch nicht im Rahmen einer Allianz gegen Peking – bzw. Moskau von einem Bündnis mit Peking abzubringen. Für Polen bedeutet das: es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die USA bereit sein werden, auf die freiheitliche Agenda zu verzichten. Vermutlich ohne Widerspruch seitens des „alten Europa“. Moskau wird für sein eventuelles Wohlwollen gegenüber Washington in dessen Machtkampf gegen Peking jedoch viel mehr erwarten als den Verzicht auf die Unterstützung demokratischer Werte. Es wird sich auch nicht mit dem moldawischen Szenario als Modell für den postsowjetischen Raum zufriedengeben. Russland wird erwarten, dass sein autoritäres Modell der Machtausübung ganz und gar, und die vollständige Dominanz Moskaus über den postsowjetischen Raum (unter Ausschluss der Baltischen Staaten) voll akzeptiert werden. Ein Hindernis wird dabei das bereits z.B. in den Ukrainern eingeimpfte Freiheitsgen sein. Das Spiel wird nicht einfach sein, jedoch deutet leider alles darauf hin, dass Polen sich mit viel schwächeren Karten und weniger Verbündeten an die nächste Partie setzen wird. Und beim Spiel wird es nicht, wie man vor 30 Jahren gedacht hatte, darum gehen, Kiew und Minsk in den Westen zu ziehen, sondern darum, dass sie überhaupt in der Pufferzone bleiben. Was man in der Zeit der absoluten Dominanz des Westens nicht erreicht hat, wird umso weniger in einer Zeit, in der der Westen um den Erhalt seiner nur noch relativen Dominanz kämpft, umsetzbar sein.

 

 

Witold Jurasz

Witold Jurasz

Journalist bei der Onlineplattform Onet.pl und der Tageszeitung Dziennik Gazeta Prawna, Vorsitzender des Zentrums für Strategische Analysen, ehemaliger Mitarbeiter der Investitionsabteilung der NATO, Diplomat in Moskau und Chargé d’affaires der Republik Polen in Belarus.

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