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Ein Memento für Polen und Deutschland

Die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland werden in den kommenden Jahren von den radikalen Veränderungen auf den politischen Bühnen beider Länder sowie in Italien (der drittgrößte EU-Staat nach dem Brexit) entscheidend beeinflusst werden, was in der Konsequenz das Kräfteverhältnis zwischen den zentralen Parteien und den Ländern auf der EU-Ebene verändern wird. Die Ergebnisse der letzten Wahl zum Europäischen Parlament werden erheblichen Einfluss auf diese Prozesse ausüben. Die Wahl hat eine tiefe Spaltung zwischen der Mehrheit, die an der weiteren Entwicklung der europäischen Integration interessiert ist, und der nicht unwesentlichen Minderheit bestätigt, die danach strebt, sie rückgängig zu machen und vielleicht sogar aufzugeben. Der Streit zwischen ihnen betrifft auch für Europa zentrale Fragen nach der Identitätsform der europäischen Nationen, nach den Werten und sogar nach der Zukunft der Demokratie.

 

Stärkerer Mainstream und wachsende Beliebtheit der Europaskeptiker

Die vergangene Europawahl war einmalig, denn zum ersten Mal seit 1979 haben die christdemokratische Europäische Volkspartei und die Sozialisten die Mehrheit im Europäischen Parlament verloren. Die besten Ergebnisse in der Geschichte erzielten die Liberalen und die Grünen.

 

Kurz nach den Wahlen haben die Christdemokraten, die Liberalen und die Sozialisten die wichtigsten Ämter in der EU untereinander aufgeteilt (Chef der Europäischen Kommission, Präsident des Europäischen Parlaments, Chef der Europäischen Zentralbank, Chef des Europäischen Auswärtigen Dienstes). Von 20 Ausschuss-Chef-Posten wurden 16 von Vertretern dieser Parteien übernommen. Die Aufteilung der Posten spiegelt auch die neue Kräfteverteilung zwischen den wichtigsten Mitgliedsstaaten wider. Die zentrale Rolle werden in den kommenden Jahren Deutschland, Frankreich und Spanien spielen. Spaniens Position hat sich in den vergangenen Jahren unter anderem aufgrund der wachsenden Beliebtheit für die regierenden Sozialisten gefestigt, die nach der Europawahl die linke Partei mit der größten Vertretung im Europäischen Parlament geworden sind. Die sieben zentralen Ausschüsse im Europäischen Parlament werden von Vertretern der Regierungsparteien von Spanien, Frankreich und Deutschland (CDU-CSU, SPD, PSOE, En Marche!) geleitet. Andererseits haben Politiker der Partei Recht und Gerechtigkeit, die seit 2015 Polen regiert, und die italienische Lega bisher keinen einzigen Posten in den EU-Strukturen übernommen, obwohl diese Gruppierungen bei der Europawahl sehr gute Ergebnisse erzielt haben. Nach dem Brexit wird die von Matteo Salvini geführte Lega genauso viele Mandate haben wie die CDU-CSU, sprich 29. Lega erhielt bei der Europawahl fast 35 Prozent der Stimmen und verbesserte damit ihr Ergebnis um das Doppelte im Vergleich zu den Parlamentswahlen im März 2018. PiS hingegen hat 27 Mandate erhalten (das zusätzliche Mandat nach dem Brexit mitgezählt). Im Endeffekt wird diese Partei die drittgrößte Vertretung im Europäischen Parlament haben. Mehr noch, sie hat 45 Prozent der Stimmen gewonnen und damit ihr Ergebnis im Vergleich zu den Parlamentswahlen von 2015 um sieben Prozent verbessert. Seit 1989 hat keine Partei bei Wahlen in Polen ein so gutes Ergebnis erreicht. Innerhalb der EU hat lediglich Fidesz in Ungarn, die regierende Partei des Ministerpräsidenten Viktor Orbán, mit 52 Prozent der Stimmen ein besseres Ergebnis als PiS erzielt.

 

Weiche und harte Europaskepsis

Dass in den wichtigen EU-Strukturen keine Politiker von PiS und Lega vertreten sind, folgt aus der Tatsache, dass sie im Europäischen Parlament europaskeptische politische Gruppen anführen: PiS die „weichen“ Europaskeptiker, die sich in den Europäischen Konservativen und Reformern (ECR) konzentrieren, und Lega die „harten“, die die Fraktion „Identität und Demokratie“ gebildet haben. Zusammen haben sie wesentlich weniger Europaabgeordnete als die Sozialisten allein. Die ECR hatte 2014, zu Beginn der vorangegangenen Kadenz, 70 Europaabgeordnete und war die drittgrößte politische Gruppe im Europäischen Parlament. Derzeit sind es 62, womit die ECR lediglich auf den sechsten Platz kommt. Wenn Großbritannien die EU verlassen haben wird, wird sich die ECR-Fraktion zahlenmäßig nicht ändern. Sie wird schwächer, denn in den Jahren 2014–2019 basierte sie auf dem Bündnis von zwei großen Parteien – den Tories und PiS – die zwei der sechs größten EU-Staaten regieren. Heute sind die Bündnispartner der PiS-Partei in der ECR-Fraktion wesentlich schwächer als die Partei von Jarosław Kaczyński. Fratelli d’Italia – die größte Partei nach PiS in der ECR – hat heute lediglich fünf Europaabgeordnete, fünf Mal weniger als PiS. Von 14 Parteien (ohne die Tories), die mit PiS in der ECR-Fraktion zusammenarbeiten, sind lediglich drei Gruppierungen in Regierungskoalitionen ihres Landes, allerdings immer als der kleinere Koalitionspartner.

 

Die Begrenzung des Koalitionspotenzials von PiS und Lega hat, besonders im Falle der polnischen Regierung – in geringerem Maße der italienischen – zur Folge, dass diese Staaten auf die Entwicklung der EU-Politik wenig Einfluss haben. Auf jeden Fall unter ihrem Potenzial. Gut zu sehen war das bei der Wahl zum Chef der Europäischen Kommission. Kandidat für den Posten des Kommissionschefs war anfangs Frans Timmermans – zu diesem Zeitpunkt erster Vizechef der Kommission –, aufgestellt von den Sozialisten nach Absprachen mit der EVP. Doch Polen lehnte zusammen mit den anderen Ländern der Visegrád-Gruppe (V-4) und Italien dessen Kandidatur ab. Ihr negatives Verhältnis zu Timmermans und die „stille“ Opposition vieler Parteien, die zur EVP gehören, gegen ihn, führten dazu, dass Ursula von der Leyen der CDU-CSU Chefin der Kommission wurde. Sie wurde im Europäisches Parlament von Gruppierungen unterstützt, die in den V-4-Ländern regieren, darunter PiS und Fidesz, die Lega jedoch war dagegen. Wie zu sehen ist, sind PiS und Lega in der Lage, die Wahl mancher Politiker des Mainstreams zu blockieren, wenn letzterer sich nicht einig ist, aber sie sind nicht in der Lage, für zentrale Posten ihre eigenen Kandidaten durchzusetzen, weil sie zu schwach und gespalten sind.

 

Budapest in Warschau und in Rom?

Der Widerspruch der Visegrád-Gruppe und Italiens gegen die Kandidatur des ehemaligen Außenministers der Niederlande muss mit der Tatsache erklärt werden, dass all diese Länder ernsthafte Probleme mit ihrem Rechtsstaat haben, wenngleich in unterschiedlichem Maße. Timmermans hingegen setzt sich seit Jahren stark für die Dreiteilung der Macht und den Kampf gegen Korruption ein, indem er einen prinzipientreuen Standpunkt in dieser Frage vertritt – beispielsweise kritisiert er die Angriffe auf die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit in Rumänien seitens der „Bündnispartner“ der Sozialisten. Doch der Widerstand gegen Timmermans Kandidatur ist im Falle von Polen, Ungarn und Italien wesentlich ernster. Er hängt nicht nur mit der Korruption oder damit zusammen, dass ein Teil der politischen Eliten Verbindungen zur Welt des Verbrechens pflegt, wie im Fall von Tschechien und der Slowakei, sondern mit dem fundamentalen Systemwandel, den die Politiker von PiS, Fidesz und Lega durchführen oder planen. Das seit 2010 von Fidesz regierte Ungarn ist am weitesten fortgeschritten beim Umbau seines politischen Systems von einer liberalen Demokratie, die auf einem Rechtsstaat basiert, zu einer „Mehrheitsdemokratie“ (die Dominanz der parlamentarischen Mehrheit, die gleichgesetzt wird mit der nationalen Gemeinschaft) mit autoritären Elementen (Demontage der Rechtsstaatlichkeit). Der bisherige Kurs in Orbáns Innenpolitik hat dazu geführt, dass die amerikanische Stiftung Freedom House, die seit etwa fünfzig Jahren politische Systeme auf der Welt bewertet, indem sie sie in freie, teilweise freie und unfreie unterteilt, zu Beginn des Jahres Viktor Orbáns Ungarn in die Kategorie der teilweise freien Länder relegiert hat. Dies ist bespiellos in der Geschichte der EU, denn es bedeutet, dass ein Mitgliedsland nicht die Kopenhagener Kriterien erfüllt. Ungarn ist Inspirationsquelle für die Lega und für Polens PiS. Laut Freedom House ist Polen unter der PiS-Regierung auf die schiefe Bahn geraten und könnte schon bald zu einem teilweise freien Land werden. Dass sich das wiederholt, ist laut der amerikanischen Stiftung in naher Zukunft auch in Italien wahrscheinlich, wenn die Lega stärker werden sollte.

 

Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Szenarios ist im Hinblick auf die Tendenzen, die sich nach der Europawahl auf den politischen Bühnen in Polen und in Italien gezeigt haben, gestiegen. Infolge des spektakulären Sieges von PiS ist in manchen Umfragen, die in den vergangenen Wochen durchgeführt wurden, die Unterstützung für die Partei unter den entschlossenen Wählern auf fünfzig Prozent angewachsen. Im Oktober finden in Polen Parlamentswahlen statt. Erhält PiS ein besseres Ergebnis als in den Europawahlen, wird dies eine entschiedene Beschleunigung der Veränderungen im politischen System bedeuten, die mit der Machtübernahme durch PiS 2015 begonnen hatten. In Italien haben Umfragen nach der Europawahl einen weiteren Anstieg der Beliebtheit für Lega gezeigt, die fast auf vierzig Prozent gestiegen ist. Gleichzeitig erfreut sich die Partei Fratelli d’Italia, die der Lega ideell nahesteht, in manchen Umfragen einer Beliebtheit von neun Prozent der Wähler, das ist das Doppelte dessen, was sie in den Parlamentswahlen im März 2018 erreicht hat. Infolge dessen hat Lega im August die Regierungskoalition verlassen. Diese Entscheidung bewirkte, dass ihre Umfragewerte um einige Prozente gefallen sind. Dieser Abfall könnte sich jedoch als vorübergehend erweisen, sollte die neue sehr differenzierte Koalition der Sozialdemokraten (Sie haben sich gerade in zwei Parteien geteilt) und der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung nicht in der Lage sein, eine stabile Regierung zu bilden. Ein Scheitern dieser Koalition könnte zu vorgezogenen Wahlen führen und dazu, dass Lega selbständig oder in einer Koalition mit der Partei Fratelli d’Italia eine eindeutig populistisch-nationalistische Regierung bildet, die wesentlich stärker europaskeptisch wäre als bisher. Mehr noch, sieht man sich das Programm von Lega und die Äußerungen ihrer Leader an, ist zu erwarten, dass die Partei dann einen grundlegenden Umbau des politischen Systems initiieren wird, für den Ungarn und Polen Inspirationsquelle sein werden.

 

Der Wandel des politischen Systems in diesen Ländern ist verbunden mit einer Vision von Europa und der nationalen Identität, die PiS, Fidesz und Lega miteinander teilen. Lega hat sich bis vor kurzem für den Austritt Italiens aus der EU ausgesprochen, derzeit jedoch erklärt sie, die EU „zurückgewinnen“ und als nächstes grundlegend „umbauen“ zu wollen, indem den Mitgliedsländern zentrale Kompetenzen zurückgegeben werden, die an die EU-Ebene abgegeben wurden. PiS war nie dafür, dass Polen die EU verlässt, doch heute fordert sie wie Lega, den europäischen Integrationsprozess radikal rückgängig zu machen. PiS widersetzt sich auch – wie die deutliche Mehrheit der Polen – einer Mitgliedschaft in der Euro-Zone. Die Idee von einem Europa, dass aufgebaut ist auf der Basis von „Mehrheitsdemokratien“, die nicht eingeschränkt sind durch den Rechtsstaat, entstand durch die Kampagne von PiS, Lega und Fidesz für die Idee von der Nation, die vor allem ethnisch definiert ist (Herkunft, Kultur, Religion, usw.) Eine solche Nation ist angeblich ein Monolith, dessen Wille von der Regierungspartei ausgedrückt wird, welche nicht durch den Rechtsstaat eingegrenzt werden darf. Die ethnische Definition von Nation ist indirekt eine ernsthafte Herausforderung für die europäische Integration, deren Fundament die bürgerliche nationale (durch die Verfassung als politisch definierte Nation) Identität ist, eingegrenzt durch den Rechtsstaat, der das Recht von Minderheiten und das individuelle Recht schützt.

 

Die Nation ethnisch zu definieren, verbunden mit Islamophobie, mit dem Protest gegen die Vertiefung der europäischen Integration und mit der Politik der Untergrabung des Rechtsstaates haben dazu geführt, dass Polen, Ungarn und die italienische Lega schnell eine gemeinsame Sprache mit dem Präsidenten der USA Donald Trump gefunden haben. Trumps skeptische Sicht auf die europäische Integration (sein enthusiastisches Verhältnis zum Brexit, seine Unterstützung für weitere Abspaltungen) führt dazu, dass er zum zentralen Bündnispartner für die populistisch-nationalistischen Formationen in Budapest, Rom und Warschau geworden ist. Deshalb werden sie vom europäischen politischen Mainstream als trojanische Pferde des amerikanischen Präsidenten innerhalb der EU wahrgenommen. Gleichzeitig kritisiert Trump Deutschland besonders scharf, nicht nur wegen der unterschiedlichen ökonomischen Interessen, sondern auch grundlegend, da er es als Antithese der Wertvorstellungen ihm gegenüber und gegenüber seinen Bündnispartnern wahrnimmt.

 

Auf Kollisionskurs

Ein anhaltendes Bündnis zwischen Polen, Ungarn und einem von Lega und Fratelli d’Italia regierten Italien wäre unwahrscheinlich, weil ihre Interessen sich oft nicht miteinander decken (z.B. bezüglich Russland). Dennoch muss man die Verdichtung der Zusammenarbeit zwischen ihnen im Falle eines Sieges von Lega bei vorgezogenen Wahlen in Italien in den kommenden Jahren – obwohl sie zu verschiedenen politischen Gruppen im Europaparlament gehören – vor allem hinsichtlich der Veränderungen des politischen Systems, die in diesen Ländern vor sich gehen oder geplant sind, als reales Szenario betrachten. Die Zusammenarbeit Polens, Italiens und Ungarns könnte dann aufgrund möglicher Spannungen mit Deutschland und Frankreich hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit enger werden. Im Falle von Polen wird die Unterstützung der Europaabgeordneten von PiS für die Kandidatur von Ursula von der Leyen für den Chefposten der Europäischen Kommission von einer großen Gruppe aus Politikern und Kommentatoren als Chance zu Verbesserung der Beziehungen zwischen Polen und Deutschland interpretiert. Doch die neue Kommissarin hat bei ihrem Besuch in Warschau klar zu verstehen gegeben, dass der Rechtsstaat für die EU grundlegend ist und sich in dieser Frage die Ansichten zwischen Polen und Brüssel unterscheiden. Mehr noch, von der Leyen unterstützt es, die Auszahlungen von EU-Fördergeldern an die Überwachung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsländern zu knüpfen, was PiS, Lega und Fidesz entschieden ablehnen. Davon, dass die Rechtsstaatlichkeit auf der EU-Agenda Berlins bleibt, zeugt auch die Tatsache, dass schon bald nach der Europawahl Deutschland zum ersten Mal, und zwar zusammen mit Frankreich, einen Antrag auf Anhörung Polens im Europäischen Rat nach Artikel 7 wegen des Verdachtes auf Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit gestellt hat. Dieses Verfahren betrifft derzeit Polen und Ungarn. Die Glaubwürdigkeit der deutschen Politik in Sachen Rechtsstaatlichkeit wird jedoch von der Haltung der CDU-CSU gegenüber Fidesz abhängen. Die Partei von Ministerpräsident Orbán wurde, obwohl die Demontage des Rechtsstaates seit Jahren vor sich geht, erst kürzlich aus der Mitgliedschaft der EVP-Fraktion suspendiert, aber seine Europaabgeordneten wurden nach der Wahl auch von deutschen christdemokratischen Stimmen in die Stellvertreterposten des Parlaments und seiner Ausschüsse gewählt.

 

Aus der Perspektive Polens können die Beziehungen zu einem von Lega und Fratelli d’Italia regierten Italien und zu Ungarn immer wichtiger werden, da sich der Aufbau einer Koalition der Visegrád-Gruppe schwieriger gestalten könnte. In der Slowakei wurde die Europawahl von liberalen Parteien gewonnen, die sich vom Rest der Visegrád-Gruppe distanzieren, insbesondere von Polen und Ungarn wegen deren Verhältnisses zur EU und zum Rechtsstaat. Umfragen zeigen, dass derzeit oppositionelle liberale Gruppierungen nach den Parlamentswahlen, die im Frühjahr 2020 stattfinden, eine Regierungskoalition bilden könnten. Man kann auch nicht ausschließen, dass die Regierung in Tschechien, die ernsthaft mit Korruption zu kämpfen hat, zusammenbricht, und dass es zu vorgezogen Wahlen kommt, die dazu führen werden, dass die Macht von linken Gruppierungen und Gruppierungen der politischen Mitte übernommen wird, die die Entwicklungen in Polen und in Ungarn kritisch sehen. Mehr noch, je weiter sich die Beziehungen zwischen Deutschland und den USA verschlechtern – was man als ein wahrscheinliches Szenario annehmen kann – desto enger wird die Zusammenarbeit zwischen Polen und einem von Lega und Fratelli d’Italia regierten Italien und Ungarn, den Ländern, die in der EU am stärksten pro-Trump eingestellt sind.

 

Das Szenario, dass sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen verschlechtern und sich letzteres Ungarn und einem von Lega und Fratelli d’Italia regierten Italien annähert, kann auch aufgrund der in der deutschen politischen Szene vor sich gehenden Prozesse eintreten, die sich diametral von der polnischen, italienischen und ungarischen politischen Szene unterscheiden. Die Alternative für Deutschland (AfD), eine nationalistische und europaskeptische Partei, hat bei der Europawahl lediglich elf Prozent der Stimmen erhalten. Die entschieden größere Unterstützung bekommt die AfD von Wählern, die in den postkommunistischen Peripherien Ostdeutschlands wohnen, von Menschen, die von dort stammen, die in den Westteil des Landes gezogen sind sowie von deutschen Einwanderern aus der ehemaligen UdSSR. In den meisten Ländern Westeuropas erhielten Parteien, die der AfD ähneln, wesentlich bessere Ergebnisse. In Umfragen nach den Wahlen stagniert die Unterstützung für die AfD. Die Partei ist nicht in der Lage, ihre Beliebtheit zu steigern, weil – wie die Umfragen zeigen – die Mehrheit der Deutschen die Erweiterung der europäischen Integration und der Euro-Zone unterstützen. Bei der Europawahl hatten in Deutschland die Grünen, die 20 Prozent der Stimmen erhielten (21 Sitze), einen spektakulären Erfolg zu verzeichnen; ein paar Prozent (4 Sitze) erhielten kleine deutsche Parteien, die der politischen grünen Gruppe im Europäischen Parlament angehören. Im Ergebnis hat sich die deutsche Vertretung in der Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament verdoppelt und macht 1/3 der ganzen Fraktion aus. Der Erfolg bei der Europawahl hatte dazu geführt, dass kurz nach den Wahlen die Beliebtheit der Grünen bei Umfragen in Deutschland auf 27 Prozent gestiegen war, womit sie sich erstmalig den ersten Platz sicherten. In den vergangenen Wochen sind die Grünen wieder unter 25 Prozent gefallen und die CDU-CSU hat erneut die Führung übernommen. Der hohe Beliebtheitsgrad der Grünen folgt aus einer sehr starken Sensibilität der deutschen Gesellschaft für ökologische Themen, wie Umfragen zeigen. Wichtig ist auch, dass die grünen Parteien in Europa den Status eines prinzipientreuen Verteidigers der Multikulturalität erreicht haben, die von der PiS, von Fidesz und Lega entschieden abgelehnt wird. Ihre Haltung bewirkt, dass die Vertreter europäischer muslimischer Gemeinschaften in diesen Fraktionen überrepräsentiert sind, und die Grünen bei ihnen sehr beliebt sind. Der Erfolg der Grünen ist auch eine Ankündigung eines weltanschaulichen Wandels in der deutschen Gesellschaft, was sich in der Abstimmung zur Legalisierung der Homo-Ehe 2017 im Bundestag gezeigt hat. Gleichzeitig haben die regierenden deutschen Sozialdemokraten eine spektakuläre Niederlage erlitten, denn sie haben gerade einmal 15 Prozent erhalten. Als Konsequenz daraus sind auch hier vorgezogene Wahlen zu erwarten, die für die SPD eine Flucht nach vorn sein werden; generell wird eine Koalition von Grünen und CDU-CSU immer wahrscheinlicher. Zieht man die Prinzipientreue der Grünen in Sachen Rechtsstaatlichkeit in Betracht, wird sich die neue Koalition mit ihrer Beteiligung den politischen Veränderungen in Polen, Ungarn und Italien entschiedener entgegenstellen.

 

Das Problem ist jedoch ernster, da es, wie der Fall der Grünen zeigt, das Wertesystem der polnischen, italienischen, ungarischen und deutschen Gesellschaften betrifft. In den Umfragen von DeutschlandTREND, die im Juli 2019 von Infratest dimap durchgeführt wurden, kritisieren 70 Prozent der Deutschen die Politik Italiens, die die Häfen für Schiffe mit Flüchtlingen schließt; 70 Prozent bewerteten die privaten Initiativen zur Rettung von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer als positiv und waren der Meinung, dass Organisationen, die sich dafür einsetzen, nicht bestraft werden sollen. Die Italiener, die Ungarn und die Polen haben in dieser Frage radikal entgegengesetzte Ansichten. Wesentliche Meinungsunterschiede zwischen den Polen und in geringerem Maße den Ungarn und den Italienern auf der einen Seite und den Deutschen auf der anderen gibt es hinsichtlich der von Donald Trump regierten Amerikaner. In Umfragen von DeutschlandTREND erklärten weniger als 25 Prozent der Deutschen Vertrauen zu den USA zu haben, das von den Polen mehrheitlich erklärt wird. Andererseits sind fast 55 Prozent der Polen gegen den Kohleausstieg Polens (über 40 Prozent sind dafür), die Deutschen hingegen sind eines der proökologischsten Völker auf der Welt.

Die Koinzidenz der genannten politischen und gesellschaftlichen Trends führt dazu, dass die enge Zusammenarbeit zwischen Warschau und Berlin sich als immer schwieriger erweisen wird, die Annäherung Polens an ein von Lega und Fratelli d’Italia regiertes Italien und an Ungarn hingegen immer wahrscheinlicher. Mehr noch, das Szenario der Demontage der Rechtsstaaten in dem dann dritt- (Italien) und fünftgrößten (Polen) EU-Land hätte wesentlich erstere Konsequenzen für die EU als das halbautoritäre Abdriften im 10-Millionen starken Ungarn. Es stellt nämlich das reibungslose Funktionieren der EU infrage, deren wichtigstes Fundament die Rechtsstaaten ist und das wichtigste Ziel der Außenpolitik Berlins bildet.

 

 

(aus dem Polnischen von Antje Ritter-Miller)

Adam Balcer

Adam Balcer

Politologe, Programmdirektor Kolegium Europy Wschodniej (Niederschlesien), lehrt am Institut für Osteuropastudien an der Universität Warschau.

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