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Warten auf die Krise

Wie lange geht das noch gut? In der Hochphase von Polens Wirtschaftswunder lädt, wie es der Politologe Antoni Dudek formuliert, Präses Kaczyński zum „Ball“ und verteilt das Geld mit vollen Händen. Viele Polen scheinen davon überzeugt zu sein, dass die derzeitige wirtschaftliche Blüte nur von kurzer Dauer ist und die wohlfahrtsstaatlichen Lockerungsübungen bald wieder kassiert werden. „Wenn die aufziehende Krise die Situation auf dem Arbeitsmarkt verschlechtert und gleichzeitig zu einem Anstieg der Inflation führt, beginnt die Grundlage für die Unterstützung der PiS-Regierung zu zerfallen“, glaubt der Intellektuelle Andrzej Leder. „Die Partei hat in puncto Wirtschaftslage einfach viel Glück gehabt“, ist Wirtschaftsguru Leszek Balcerowicz überzeugt.

 

Muss die polnische Opposition also einfach abwarten, bis die Wirtschaftsdaten PiS in die Knie zwingen? Besser nicht. Es ist nicht nur offen, ob diese Rechnung politisch aufgeht, es ist nicht einmal ausgemacht, dass die große Krise tatsächlich kommt. Die Prognosen jedenfalls sagen etwas Anderes. Für das kommende Jahr erwartet die Europäische Kommission, dass Polens Wirtschaft um 3,6% wächst. Die Weltbank rechnet auch für 2021 noch mit einem Wachstum von 3,3%.

 

Deutscher Schnupfen – polnische Grippe?

Richtig ist, dass sich nach langen Jahren des Aufschwungs eine wirtschaftliche Abkühlung in Europa ankündigt. Besonders die deutsche Wirtschaft schwächelt, Polens mit Abstand wichtigster Handelspartner. Die Stimmung ist laut Unternehmerbefragungen schlecht und die Wachstumsrate wird 2019 wohl nur bei etwa einem halben Prozent liegen. Der Auto- und Exportnation Deutschland setzen der Handelsstreit zwischen den USA und China, der bevorstehende Brexit und die Forderungen nach der Abkehr vom Verbrennungsmotor zu. Ob aus diesem Abschwung eine langanhaltende Rezession wird oder ob es bei einer zyklischen Delle bleibt, ist abzuwarten.

 

Mehr noch als ihre westlichen Nachbarn fürchten die Polen die Unterkühlung der deutschen Wirtschaft. „Wenn Deutschland einen Schnupfen hat, bekommt Polen eine schwere Grippe“, galt bisher an der Weichsel. Über ein Viertel der polnischen Ausfuhren geht nach Deutschland, ein Drittel hiervon wiederum wird von dort aus weiterexportiert. Vor allem im Automobilsektor schlägt sich die schwächere internationale Nachfrage in zurückgehenden Aufträgen für polnische Zulieferer und lokale Produktionsstätten deutscher Unternehmen nieder. Der Großteil des deutschen Imports aus Polen wird jedoch in Deutschland selbst konsumiert. Und bisher ist die Kauflaune der Deutschen noch ungetrübt. Dank der guten Lage auf dem Arbeitsmarkt und steigender Löhne prognostiziert die Europäische Kommission für 2020 sogar einen Anstieg des deutschen Konsums. Es ist deswegen auch ein Szenario vorstellbar, in dem Polen die Wachstumsschwäche in Deutschland weitgehend unbeschadet übersteht.

 

Ungenutzte Potenziale

Unter dem zunehmenden Druck, ihre Konkurrenzfähigkeit zu erhöhen, könnten deutsche Firmen, die bisher Waren aus Deutschland beziehen, auf günstigere polnische Zulieferer ausweichen. So war es in der Weltwirtschaftskrise 2009. Daneben könnte der Arbeitskräftemangel deutsche Unternehmen zu neuen Ansiedlungen in Ostmitteleuropa anregen. Nur scheinbar sieht die Lage für Arbeitgeber in Polen nicht viel besser aus als in Deutschland. Die deutsche Industrie ist bereits hochgradig automatisiert. Polen hingegen weist selbst im Vergleich zu Nachbarn wie der Slowakei, Tschechien oder Ungarn noch eine deutliche Automatisierungslücke auf. In der Woiwodschaft mit der niedrigsten Arbeitslosigkeit, Großpolen, gab VW nun den Startschuss mit der Ankündigung, über 700 Mitarbeiter durch Maschinen zu ersetzen.

 

Es bestehen noch weitere Potenziale. Der laufende Infrastrukturausbau erschließt Landesteile im Osten Polens, die bisher von Investoren gemieden wurden. Die Globalisierung erweckte den Eindruck, alles ließe sich überall hin verlagern. Verkehrsanbindungen, Grenzen sowie geografische und kulturelle Nähe spielen jedoch weiterhin eine Rolle. Zunehmend dürften sich international tätige Unternehmen durch eine stärkere Regionalisierung von Einkauf und Produktion gegen wachsenden Protektionismus im Welthandel absichern. Zwar haben die radikalen Justizreformen von PiS dem Ansehen des Standorts Polen schweren Schaden zugefügt und Zweifel an der Rechtssicherheit geweckt, für viele Investoren ist aber wichtiger, dass Polen trotz eines Lohnwachstums von zuletzt über 7% auf absehbare Zeit das große EU-Land bleiben wird, in dem die niedrigsten Gehälter gezahlt werden.

 

Das Ende der verlängerten Werkbank?

Sogar das Wahlversprechen von PiS, den Mindestlohn deutlich anzuheben, könnte am Ende mehr positive als negative Auswirkungen auf die polnische Wirtschaft haben. Zwar liegt der für 2023 vorgeschlagene Mindestlohn von über 900 Euro brutto unterhalb der Einkommen, die bereits heute in der Industrie gezahlt werden, doch wird der steile Anstieg von heute etwa 500 Euro auch auf höhere Gehaltsgruppen Druck ausüben. Viele polnische Unternehmer haben ihr Geschäftsmodell auf niedrigen Lohnkosten aufgebaut und es damit zu Erfolg gebracht. Das Wirtschaftsinstitut der Regierung PIE erklärt, dass die Aussicht auf immer höhere Personalkosten den polnischen Mittelstand nun von diesem Ruhekissen aufscheuchen und Investitionen in Automatisierung, Forschung und Entwicklung anregen soll. Weder durch Sonntagsreden noch durch EU-Förderung ist dies bisher gelungen. Ohne einen Aufstieg in der Wertschöpfungskette sind weitere Wohlstandszuwächse aber kaum noch zu erreichen. Auch deutsche Unternehmen wurden einst von außen, durch den Preisdruck der Hartwährung D-Mark, dazu gezwungen, international über Innovation und Effizienz zu konkurrieren.

 

Der Arbeitsmarkt dürfte Entlassungen aufgrund des höheren Mindestlohns auffangen können. Warnungen vor galoppierender Inflation scheinen übertrieben. Seit 2015 liegt der Leitzins stabil bei 1,5%, dem niedrigsten Niveau seit dem Ende des Kommunismus. Eine Anhebung ist zunächst nicht geplant. Die polnische Zentralbank NBP hat somit Spielraum, um auf die zuletzt gestiegene Teuerungsrate einzuwirken. Auch die Sozialpolitik von PiS scheint sich das Land leisten zu können. Der Staatsschuldenstand Polens im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt ist 2018 auf unter 50% gefallen. In Deutschland liegt dieser zum Vergleich bei 60%.

 

EU-Fördergelder, ein wichtiger Wachstumsfaktor für Polen, werden im neuen Finanzrahmen geringer ausfallen, vor allem aufgrund des mittlerweile höheren Entwicklungsgrades des Landes und wegen des Ausscheides des bedeutenden Nettozahlers Großbritannien aus der EU. Auch für den polnischen Handel stellt der Brexit ein ernstzunehmendes Problem dar, denn die Briten sind einer der wichtigsten Abnehmer polnischer Exporte. In der Vergangenheit bot der große Binnenmarkt Polens mit 38 Mio. Konsumenten aber einen gewissen Rückhalt gegenüber Schwankungen im Außenhandel.

 

Natürlich kann alles auch ganz anders kommen. So haben sich zum Beispiel Vorhersagen, dass Polen aus dem Brexit Vorteile ziehen könne, bisher nicht bewahrheitet. Hoffnungen auf eine Rückkehrwelle polnischer Emigranten blieben genauso unerfüllt wie die auf Investitionsschübe durch Londoner Finanzinstitute, die als Brexit-Flüchtlinge ihr Backoffice nach Polen verlegen sollten. Auf die Orakel, die eine große Wirtschaftskrise am Horizont aufziehen sehen, welche PiS von der politischen Bühne in Polen fegt, sollte sich aber kein Politiker verlassen.

Leo Mausbach

Leo Mausbach

Leo Mausbach lebt und arbeitet in Warschau. Er ist Mitgründer des Osteuropa-Netzwerks des Vereins der Altstipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

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