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Polen nach den Wahlen

Die Polen seit vier Jahren regierende Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) hat bei den Parlamentswahlen im Oktober 8.051.935 Stimmen erhalten, das sind 43,9% der abgegebenen Stimmen. Sowohl in absoluten Zahlen als auch beim Stimmenanteil ist das nach 1989 ein Rekord. Darüber hinaus ist es das erste Mal, dass eine Partei an der Regierung in den Folgewahlen ihr Ergebnis verbessern konnte (PiS erhielt 2015 37,6% der abgegebenen Stimmen). Auch die Wahlbeteiligung lag mit 61,74% auf Rekordhöhe.

 

Die Einteilung Polens in einen liberalen Westen und einen konservativen Osten gehört der Vergangenheit an: Jetzt gewinnt PiS in den meisten Wojewodschaften, und zwar mit den Stimmen der neuerdings mobilisierten kleineren Städte und des flachen Landes. Aus der von IPSOS durchgeführten Nachwahlbefragung geht hervor, dass PiS die meisten Wähler aus folgenden Sozialgruppen gewinnen konnte: Bauern, Arbeitern, Rentnern und Arbeitslosen, Landbewohnern und älteren Wählern. Die Vorherrschaft der politischen Rechten ist im Osten immer noch spürbar, doch verläuft eine klarere politische Trennlinie heute in Polen so wie in vielen anderen europäischen Ländern zwischen den großen Städten und der Peripherie.

 

Trotz solcher Rekordgewinne ist das Ergebnis von PiS schlechter, als die Partei selbst erwartet hat. Mit 235 von insgesamt 400 gewonnenen Mandaten kann die Partei zwar wieder ohne Koalitionspartner regieren, doch wegen der Sitzverteilung bei den anderen Parteien unterscheidet sich die Zahl nicht von derjenigen der 2015 gewonnenen Mandate. Nach Verkündung der Umfrageergebnisse meinte Jarosław Kaczyński: „Wir haben viel gewonnen, aber wir verdienen mehr.“

 

PiS hat jedoch die Mehrheit in der zweiten Parlamentskammer verloren, dem Senat. Vor den Wahlen hatten die Oppositionsparteien einen sogenannten „Senatspakt“ verkündet, aufgrund dessen die meisten Wahlbezirke einen gemeinsamen Gegenkandidaten gegen die Regierungspartei aufstellten. Da auf jeden Wahlbezirk bei den Senatswahlen je ein Mandat entfällt, errang die Opposition aufgrund dieser Absprache im Senat eine knappe Mehrheit von 51 zu 49 Sitzen.

Unter dem Strich ist also der Wahlsieg von PiS nicht schwindelerregend, besonders mit Blick auf die guten Wirtschaftsdaten, die zusätzlichen von der Regierung eingelösten sozialpolitischen Versprechungen und ihre hochentwickelte Propagandamaschinerie, die auch über die öffentlichen Medien verfügt. In ihrer Wahlkampagne agitierte PiS aggressiv gegen liberale Werte, machte sozialpolitische Versprechungen und zielte auf eine verfassungsändernde Mehrheit von zwei Dritteln der Sejmmandate ab. Es schaut so aus, dass die Latte für PiS zu hoch aufgelegt war, allerdings liegt sie ohnehin schon sehr hoch.

 

Die liberale Bürgerkoalition (KO), die sich um den PiS-Erzfeind Bürgerplattform (PO) herum formiert hat, erreichte 27,4% der abgegebenen Stimmen. Auch dieser Anteil blieb hinter den Erwartungen zurück, bedenkt man, dass die PO, damals noch in einer breiteren Koalition, bei den Europaparlamentswahlen im Mai PiS noch an den Fersen haftete. Wie gewohnt, gewannen die Liberalen in den großen Städten, bei Unternehmern, Intellektuellen, aber auch bei Schülern und Studierenden.

 

Der Wahlkampf der PO war wenig überzeugend, ganz auf PiS-Kritik ausgerichtet und verfügte über kein positives Programm. Viele Kommentatoren erklären die Wahlniederlage mit dem wenig charismatischen Parteivorsitzenden Grzegorz Schetyna. Bei Umfragen schneidet Schetyna seit Jahren mit den schlechtesten Zustimmungswerten ab, was ihn aber bislang aber nicht zum Rücktritt bewegt hat. Möglicherweise wird er dazu Anfang nächsten Jahres gezwungen, wenn er sich erneut zur Wahl des Parteivorsitzenden stellen muss.

 

Mit 12,56% hat die Linke ein relativ gutes Ergebnis erzielt. Denn 2015 hatte keine linke Partei die Fünf-Prozent-Hürde übersprungen. Diesmal gingen der postkommunistische Bund der Demokratischen Linken (SLD), die sich an der Macron-Partei orientierende progressive „Wiosna“ (Frühling) und die sich auf die spanische Partei „Podemos“ berufende Partei „Razem“ (Gemeinsam) mit einer gemeinsamen Liste in die Wahlen. Dieser Mix ermöglichte es der Linken, zwei verschiedene Wählergruppen zu erreichen. Wiosna und Razem finden viel Unterstützung bei den Jüngeren und den gut Gebildeten, für die die Bürgerplattform eine zu wertkonservative, zu marktwirtschaftlich orientierte und in Sachen Klimawandel zu wenig sensibilisierte Partei ist. Die Postkommunisten ihrerseits gewannen die Rentner beispielsweise aus den postindustriellen Mittelstädten, die ihre Blütezeit in der Volksrepublik Polen hatten.

Auch die Polnische Koalition erreichte ein gutes Ergebnis, das exotische Bündnis aus Polnischer Volkspartei (dem PSL), der traditionellen Partei der Bauern, sowie der eklektizistischen Antisystem-Bewegung Kukiz’15. Das PSL hatte sich von der liberalen Bürgerkoalition getrennt, nachdem PiS begonnen hatte, die Liberalen als Kirchengegner und Unterstützer der LGBT+-Bewegung hinzustellen.

 

Prognosen zufolge sollte es für die Polnische Koalition eng werden und sie würde möglicherweise die Fünf-Prozent-Hürde nicht schaffen, doch hat sie ein Ergebnis von 8,55% erzielt. Das PSL konnte seine ländliche Wählerschaft weiter an sich binden, um die es mit PiS konkurriert. Das ist weitgehend das Verdienst seines charismatischen Vorsitzenden Władysław Kosiniak-Kamysz, der ganz auf die alten christdemokratischen Parolen setzte und versprach, für die Modernisierung des Dorfes und eine Mäßigung im Tonfall der politischen Auseinandersetzung zu sorgen.

 

Auch die Rechtsaußenkoalition „Konfederacja“ (Konföderation) ist mit 6,81% ins Parlament eingezogen; diese lässt sich am ehesten mit der US-amerikanischen Tea-Party-Bewegung vergleichen. Über ihre Liste hat etwa Janusz Korwin-Mikke einen Sejmsitz errungen, ein aus der abgelaufenen Legislaturperiode des Europaparlaments bekannter Libertärer, Monarchist und Befürworter der Abschaffung des Frauenwahlrechts.

 

Diese angehenden Parlamentarier der Konfederacja sind bekannt für ihre teilweise extrem homophoben oder fremdenfeindlichen Einstellungen. Sie definieren sich in Opposition zu PiS, eine Partei, die sie als – man sollte es kaum glauben – zu nachgiebig gegenüber den Liberalen und der EU sehen. Der Wahlkampf der Konfederacja war jedoch hauptsächlich von radikal-marktwirtschaftlichen Forderungen geprägt, zum Beispiel der Abschaffung obligatorischer Sozialversicherungen. Daher gehörten neben den klassischen Wählern der äußersten Rechten, meist jüngeren Männern, auch etliche Kleinunternehmer zu den Wählern der Partei.

 

Schon jetzt ist klar: das neue Parlament wird pluralistischer sein; die politische Linke ist in neuer, aufgefrischter Gestalt vertreten, zudem ist eine Partei im Sejm, die rechts von PiS steht. Noch ist nicht bekannt, wie die regierende Partei damit umgehen wird: ob sie rechts von der Mitte um die des aggressiven Politikstils überdrüssigen Wähler des PSL oder eher um die rechtsaußen stehenden Wähler der Konfederacja werben wird.

 

Vor den Wahlen versprach PiS die „Repolonisierung“ der Medien; gemeint war die Begrenzung des ausländischen Kapitals in den Medien, eine faktisch gegen die liberalen Medien gerichtete Idee. Da die Abgeordneten aus dem engeren Umfeld von Justizminister Zbigniew Ziobro ein gutes Ergebnis erzielt haben, wird die personelle Übernahme der Gerichte sicherlich fortgesetzt. Einige Tage nach den Wahlen überstimmte PiS auch das Verbot des Sexualkundeunterrichts, was zurückgeht auf die seit einigen Monaten andauernde Debatte (eher könnte von einem Feldzug die Rede sein) zum Thema LGBT+-Rechte und Pädophilie in der Kirche.

 

Wir können also davon ausgehen, dass demokratische Institutionen weiter demontiert werden, der Kampf gegen den „moralisch verkommenen Westen“ weiterverfolgt wird, weiterhin eine aggressive Außenpolitik zu innenpolitischen Zwecken geführt wird, um die Wähler in ihrer Wagenburgmentalität zu bestärken.

 

Sollte sich die gute Konjunktur fortsetzen, wird PiS gewiss die eigenen sozialpolitischen Versprechungen einlösen. Dabei geht es jedoch hauptsächlich um finanzielle Zuwendungen, die den Polen über die Runden helfen, ohne dabei irgendeines der strukturellen Probleme der öffentlichen Dienste zu lösen. Ein dysfunktionales Gesundheitswesen, ein aus einer undurchdachten Bildungsreform rührendes Chaos in den Schulen, niedrige Einkommen in allen staatlich finanzierten Bereichen – all das könnte sich langfristig als Gefahr für die Regierungspartei erweisen.

 

Die Linke könnte sich das zunutze machen, zumal sie in der Sozialpolitik mit PiS konkurrieren möchte. Wegen ihrer weltanschaulichen Liberalität fällt es ihr allerdings vorläufig noch schwer, zu den Wählern in den kleinen Städten vorzustoßen.

 

Für die Bürgerplattform ist die neue Legislaturperiode eine Zeit, ihre Position neu zu bestimmen: Der Widerstand gegen PiS, der oft mit Geringschätzung für die Wähler dieser Partei einhergeht, die ärmeren und weniger gebildeten Polen, reicht nur, um den harten Kern der PO-Wählerschaft zu mobilisieren. Die Wähler in den kleinen Städten fühlen sich dadurch beleidigt und kaufen den Liberalen ihr idealisiertes Narrativ von der polnischen Transformation nicht mehr ab, deren Früchte vor dem Antritt von PiS nur die Privilegierten genossen, wie sie nicht ganz zu Unrecht meinen.

Es ist schwer zu sagen, ob die Linke von der Schwäche der PO wird profitieren können, nachdem sie den Liberalen nicht wenige Wähler abgenommen hat, die ihrer Prinzipienreiterei in Wertefragen überdrüssig waren. Der Anti-PiS-Teil der polnischen Gesellschaft vertritt im Klima einer starken Polarisierung immer liberalere Ansichten zu Abtreibung, LGBT+-Rechten oder zur Rolle der Kirche im Staat. Es ist allerdings unklar, ob das brüchige Bündnis der drei linken Parteien, die aus unterschiedlichen politischen Richtungen stammen, lange standhalten und ob sich eine Basis für eine Zusammenarbeit finden wird.

 

Dagegen wird die starke Polarisierung sicher weiterbestehen, die übrigens eine Ursache für die steigende Wahlbeteiligung ist, aber sie verhält sich in den einzelnen Generationen unterschiedlich. Die Generation der über Fünfzigjährigen lebt vom Kampf zwischen PO und PiS, zweier einst einander ähnlicher, mitterechts angesiedelter Parteien, die von Oppositionellen aus volkspolnischer Zeit gegründet wurden. Die jüngeren Wähler unterstützen diese beiden Parteien weniger, hauptsächlich jüngere Frauen stimmen öfter für die Linke, jüngere Männer für die Konfederacja. Das hat auf die Zusammensetzung des Parlaments keinen wesentlichen Einfluss, weil die jüngeren Wähler in der Minderheit sind, stellt aber sicher, dass der aggressive Politikstil nicht so schnell an sein Ende gelangen wird.

 

Schließlich ist schwer zu sagen, inwieweit der oppositionelle Senat in der Lage sein wird, den „guten Wechsel“ zu blockieren, wie PiS die Umsetzung des eigenen Programms nennt. Einerseits besitzt er dazu die Kompetenzen: Er kann die Verabschiedung von Gesetzen verzögern, indem er sie an den Sejm zurückverweist, auch fällt er wichtige Personalentscheidungen wie über den Beauftragten für Bürgerrechte und den Präsidenten der Obersten Kontrollkammer [die etwa dem Obersten Rechnungshof in Deutschland entspricht; A.d.Ü.]. Andererseits hat PiS bereits mit Versuchen begonnen, Senatoren der Opposition auf die eigene Seite zu ziehen.

 

Auch wenn die neue PiS-Regierung der vorherigen ähneln wird – Mateusz Morawiecki wird wohl wieder Ministerpräsident werden –, hat sich die polnische Politik doch in den vergangenen vier Jahren unübersehbar verändert: die PO besitzt nicht mehr das Monopol der einzigen Oppositionspartei. Es bleibt abzuwarten, ob sie in der Lage sein wird, das Monopol zurückzugewinnen. Und wenn nicht, ob einer der jetzt im Sejm vertretenen Parteien wird an ihre Stelle treten können. Sollte keiner dieser Fälle eintreten, wird die Opposition zerschlagen werden, was es PiS leicht machen wird, noch einen weiteren Rekord zu brechen, nämlich auch noch eine dritte Legislaturperiode an der Macht zu bleiben.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Kaja Puto

Kaja Puto

Kaja Puto - Publizistin und Redakteurin, spezialisiert sich auf die Themenbereiche Osteuropa und Migration. Sie schreibt u.a. für die Zeitschrift "Krytyka Polityczna" und für n-ost - The Network for Reporting on Eastern Europe.

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