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Die verunglückte Demokratie

70 Jahre Bundesrepublik, 30 Jahre Deutschland

Als die alte Bonner Republik am 23. Mai 1979 ihren 30. Geburtstag beging – am Tag der Verabschiedung des Grundgesetzes, der allgemein als ihr Gründungstag gilt –, befand sich das Land keineswegs in ruhigem Fahrwasser. Soeben erst hatte es den „Deutschen Herbst“, die mörderische Angriffswelle der RAF überstanden, wie auch die Überlegungen einiger Politiker, als Antwort auf die Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer Terroristen standrechtlich zu erschießen. Und doch war die damalige Bundesrepublik gerade über die harten Auseinandersetzungen der vorangegangenen drei Jahrzehnte – von der Wiederbewaffnungsdebatte der 50er über die „Spiegel“-Affäre und Notstandsdiskussion der 60er bis hin zum Kampf gegen die RAF in den 70er Jahren – zu einer streitbaren Demokratie der mündigen Bürger geworden. Das sollte sich in den 80er Jahren erweisen, als die von Bundeskanzler Helmut Kohl propagierte geistig-moralische Wende schlicht am stoischen Selbstbewusstsein ebenjener Bürgerinnen und Bürger abprallte. Damals stand das Land in weiten Teilen auf dem Boden des Grundgesetzes, das längst seinen ursprünglichen Charakter als Provisorium verloren hatte, weshalb der Politikwissenschaftler und Publizist Dolf Sternberger in einem Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ am 23. Mai 1979 die dort verankerten gemeinsamen Grundwerte als „lebende Verfassung, an der wir täglich mitwirken“ bezeichnete. In dem Maße, so Sternberger, wie das Grundgesetz „Leben gewann, wie aus bloßen Vorschriften kräftige Akteure und Aktionen hervorgingen, wie die Organe sich leibhaftig regten, die dort entworfen, wie wir selbst die Freiheiten gebrauchten, die dort gewährleistet waren, wie wir in und mit diesem Staat uns zu bewegen lernten“, habe sich „unmerklich ein neuer, ein zweiter Patriotismus ausgebildet“, den er als „Verfassungspatriotismus“ bezeichnete.

 

Wie anders doch, nämlich weit komplizierter, sieht die Lage dagegen heute aus – nach bald 30 Jahren Berliner Republik, an deren Anfang nach heutigem Verständnis die deutsche Einheit stand. Der Befund ist alarmierend: Das Land erscheint hochgradig gespalten, auch in der jungen Generation. Einerseits erleben wir eine sehr engagierte Jugend, die auch, aber keineswegs nur auf der Straße von ihrem Recht auf demokratische Teilhabe und Mitwirkung Gebrauch macht. Andererseits haben wir es unter Heranwachsenden mit immenser Politikverdrossenheit bis hin zur Demokratieverachtung zu tun. Eine Studie der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung hat soeben ergeben, dass über 60 Prozent aller befragten 18- bis 29jährigen der Meinung sind, dass sie „keinen Einfluss darauf haben, was die Regierung macht“. 26 Prozent der jungen Erwachsenen im Osten und 23 Prozent im Westen sind sogar der Ansicht, dass es „einen starken Führer“ geben sollte, „der sich nicht um Parlamente und Wahlen kümmern muss“. Und weniger als die Hälfte geben an, dass sie dieser Aussage „überhaupt nicht zustimmen“.[1]

 

Der Verfassungspatriotismus als demokratischer Konsens und Fundament unseres Zusammenlebens ist offensichtlich brüchig geworden. Und dies keineswegs nur oder besonders bei den Jungen, im Gegenteil: Seit dem Beginn der Pegida-Demonstrationen 2013 sind es typischerweise „48 Jahre alte Männer mit überdurchschnittlichem Nettoeinkommen“,[2] die auf der Straße für ein ethnisch homogenes Deutschland protestieren, Front gegen Andersdenkende machen und Politiker als Volksfeinde und -verräter titulieren – oder sogar an den Galgen wünschen. Der Höhepunkt dieser Entwicklung waren zweifellos die Ereignisse von Chemnitz im August vergangenen Jahres, als eine digital mobilisierte und von der AfD tatkräftig unterstützte radikale Rechte aufmarschierte, Ausländer und Andersdenkende jagte und dabei immer wieder völlig ungehindert den Hitlergruß zeigte – hilflos beobachtet von einer heillos unterlegenen Polizei.

 

Noch vor zehn Jahren, beim letzten runden Jubiläum, wären derartige Bilder unvorstellbar gewesen, ganz zu schweigen von den Zeiten der Bonner Republik. 2006 hatte der Historiker Edgar Wolfrum, angelehnt an das bekannte Diktum des Journalisten Fritz René Allemann „Bonn ist nicht Weimar“ von 1956, die Bundesrepublik als „geglückte Demokratie“ bezeichnet. Darin klang die Idee eines (zumindest kleinen) guten „Endes der Geschichte“ an, mit dem Deutschland nun endgültig zu einer normalen westlichen Demokratie geworden sein sollte, in der die politische Auseinandersetzung innerhalb der eingeübten demokratischen Spielregeln stattfindet.

 

Spätestens seit Chemnitz wissen wir, dass von einer solchen Normalität nicht die Rede sein kann. Wenn also 2009 allenthalben von der Erfolgsgeschichte der geglückten Republik die Rede war, stellt sich dieser Befund heute als durchaus voreilig heraus. Offenbar ist die Demokratie in den vergangenen Jahren verunglückt und von ihrem einstigen guten Wege abgekommen. Wir erleben die Renaissance eines Freund-Feind-Denkens, wie es in der alten Republik überwunden schien. Im Gegensatz zu Weimar kannte die Bonner Republik keine Straßenschlachten bis zum Bürgerkrieg. Doch mit dem Aufstieg der Neuen Rechten tauchen diese Aussichten wieder auf. Und damit auch eine Frage, die vor zehn Jahren kaum denkbar war: Sollte die liberale Demokratie in Deutschland doch noch scheitern können – und nur eine kurze historische Ausnahme gewesen sein, ein Wimpernschlag der Geschichte?[3] War sie vielleicht tatsächlich, wie manche Verächter bereits von Anfang an geunkt hatten, nur als Schönwetterdemokratie geeignet – nämlich für die besondere Zeit des gehegten Kalten Krieges?

 

Angesichts der akuten Krise der Demokratie, die, siehe Großbritannien, weit über die Bundesrepublik hinausgeht, muss heute umso mehr nach den spezifischen Erfolgsfaktoren der Bonner Republik geforscht werden. Das bekannte Böckenförde-Diktum geopolitisch variierend, stellt sich die Frage, ob die alte Bundesrepublik als „Erfolgsmodell“ vielleicht all die Jahre vor allem von äußeren Faktoren profitiert hat, die sie selbst nicht garantieren kann – und die heute schlicht nicht mehr existieren.

 

Terror, Kapital, Menschen: Die dreifache Globalisierung

Erfolg und Stabilität der Bonner Republik hingen in der Tat entscheidend von spezifischen außenpolitischen Voraussetzungen ab, nämlich von der Einbettung in das westliche Bündnis, sprich: von der Integration in eine funktionierende Nato, und einer erfolgreich sich entwickelnden Europäischen Union. Beide Voraussetzungen stehen heute zum ersten Mal grundsätzlich in Frage.

 

Anders die Lage vor 70 Jahren: Damals wurde die Bonner Republik zu einem integralen Teil der halben Welt des Westens. Das bedeutete einerseits harte Grenzen zum Ostblock – und damit auch zum anderen Deutschland der DDR – und andererseits, ob ihrer spezifischen Geschichte, eine „Karenz“ von außenpolitischer Verantwortung, wie dies der Soziologe Niklas Luhmann nannte. Aufgrund der alliierten Vorbehaltsrechte, aber auch infolge der Bipolarität und des Eisernen Vorhangs wie des (euphemistisch beschriebenen) „Gleichgewichts des Schreckens“, also der atomaren Abschreckung, war die Ausübung staatlicher Souveränität begrenzt. Insbesondere die Kriegsführung, vormals Inbegriff „großer Politik“, war faktisch ausgeschlossen. Insoweit segelte die Bonner Republik im Windschatten der Weltpolitik; es herrschte das Primat der Innenpolitik.

 

Was aber geschieht, wenn am Ende des „langen Weges nach Westen“ (Heinrich August Winkler) mit der Herstellung der deutschen Einheit 1990 gleichzeitig der alte Westen mit seinen klaren Grenzen endet und dieses Modell plötzlich, jedenfalls seinem Anspruch nach, als vermeintliches „Ende der Geschichte“ total und global wird? Dann werden die Fundamente der alten Republik förmlich auf den Kopf gestellt. Seit 1989 erlebt die Republik den Einbruch der Globalisierung – und zwar in gleich dreifacher Hinsicht, als Durchlässigkeit von Terror, Kapital und Menschen. Gleichzeitig bedeutete dies eine dreifache Verfeindung – auf globaler, europäischer und nationaler Ebene.

 

Am 11. September 2001 brach mit dem globalen Terror auch der globale Freund-Feind-Gegensatz auf. Das „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“ Al Qaidas beantworteten die Neokonservativen um George W. Bush mit „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“: Freund oder Feind, tertium non datur. Am 15. September 2008 bescherte der globalisierte Kapitalverkehr mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers die globale Finanzkrise – und sorgte vor allem für massive Verfeindung innerhalb Europas. Indem die ursprüngliche Bankenkrise gezielt in eine Staatsschuldenkrise umgewandelt wurde, gerieten durch die anschließende deutsch dominierte Austeritätspolitik zahlreiche Länder vor allem des europäischen Südens massiv unter Druck, was starke Verbitterung innerhalb der EU hervorrief. Und ab September 2015 sorgte die globale Flucht dafür, dass das Freund-Feind-Denken mit dem Aufstieg der Rechtsparteien nicht nur auf der europäischen Ebene, also zwischen den Staaten, sondern auch auf der innenpolitischen Ebene, in den Parlamenten und Gesellschaften, voll durchschlug. Dadurch gelang einer neuen identitären Bewegung der Durchbruch, die nationale Souveränität und ethnische Identität in den Mittelpunkt ihrer Politik der Ab- und Ausgrenzung stellt. Das wiederum hatte zur Folge, dass wir es heute in den europäischen Nationen, nicht zuletzt in Deutschland, mit hochgradiger Polarisierung und zunehmender Verfeindung zu tun haben. Dagegen hatte zu Zeiten des Kalten Krieges gerade die Bipolarität die innere Verfeindung verhindert. Gegen den äußeren Feind im Osten war die Demokratie nach außen durch die harte Grenze abgeschirmt. Und im Innenverhältnis gab es, jedenfalls dem grundgesetzlichen Anspruch nach, keinen Feind, sondern lediglich politische Gegner. Anders ausgedrückt: Der soziale Frieden der Demokratie funktionierte, allerdings bloß in den Grenzen der Bipolarität, also in der einen Welthälfte.

 

Seit 1989 gibt es – wiederum jedenfalls dem Anspruch nach – die grenzenlose „Eine Welt“. Doch gleichzeitig, so die Ironie der Geschichte, erleben wir faktisch die Rückkehr der Grenzen und damit auch des Freund-Feind-Denkens. Dafür steht – auf allen drei Ebenen, national-europäisch-global – die Trias Höcke, Orbán, Trump. Sie verkörpern eine ganz andere Idee von „Demokratie“. Nämlich eine „illiberale Demokratie“, die am besten ohne Opposition, freie Presse und freie Justiz auskommt – eine Idee also, die nach unserem liberalen und pluralen Demokratie- und Rechtsstaatsverständnis gar keine Demokratie mehr ist. Hier wird der Wille der Mehrheit absolut gesetzt, wodurch sie – nicht begrenzt durch checks and balances – stets Gefahr läuft, zur „Tyrannei der Mehrheit“ unter einem allein den Volkswillen verkörpernden autoritären Führer zu werden.

 

Das scheint der neue Systemgegensatz des 21. Jahrhunderts zu werden: „wahre“, völkische Demokratie mit autoritärer Führerschaft gegen „bloß formale“, plurale Demokratie mit liberaler Gewaltenteilung. Und was die reine Massenbasis anbelangt, ist der 1989 als gesichert angesehene Fortschritt in Richtung Demokratie keinesfalls ausgemacht, im Gegenteil: Längst stehen mit Russland und der Türkei starke Mittelmächte im autoritären Lager – und zudem mit China die schon ob ihrer schieren Menschenmasse wahrscheinlich kommende Hegemonialmacht des 21. Jahrhunderts. Und mit der rechtspopulistischen „Achse“ von Polen über Ungarn bis nach Italien ist, bei allen Unterschieden im Detail, die autoritäre Versuchung mitten in Europa angekommen, was die demokratische Zukunft der EU auf eine harte Probe stellt.

 

Wohl am entscheidendsten für die aktuelle Entwicklung aber ist die Tatsache, dass sich die Vereinigten Staaten unter Donald Trump von der Idee der westlichen Führungsmacht als Vorreiter und Protagonist einer liberalen Weltordnung gänzlich zurückgezogen haben, eine mögliche Preisgabe der Nato inbegriffen. Damit sind die äußeren Voraussetzungen, die 1989 für eine erfolgversprechende Zukunft des demokratischen Modells Bundesrepublik sprachen, erodiert, nämlich EU und Nato als die Konstanten der Bonner Republik. Oder anders ausgedrückt: Der „Westen“ des Jahres 2019 hat mit dem Westen des Jahres 1989 nicht mehr allzuviel zu tun. Stattdessen bestimmt der autoritäre Osten – von China über Ungarn bis nach Sachsen – mehr und mehr die Geschicke. „Go East“ statt „Go West“: Die liberale Perspektive der Verwestlichung von 1989 ist 30 Jahre später zu einer der autoritären Veröstlichung geworden.[4] „Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang“, hatte Hegel prophezeit. Nun aber droht das „Ende der Geschichte“ zu einem der Überwachung im autoritären Führerstaat zu werden. Wie brachte es Viktor Orbán nach seiner jüngsten Wiederwahl 2018 sinngemäß auf den Punkt: „1989 war Europa unsere Zukunft. Heute sind wir die Zukunft Europas.“

 

Autoritäre »Veröstlichung«: Verfeindung und Entdemokratisierung

Ihren Moment der „Veröstlichung“ erlebt derzeit auch die Bundesrepublik: Längst schlagen die außenpolitischen Tendenzen – Freund-Feind-Denken und Autoritarismus – auch im Inneren der Republik voll durch. Mit dem Einzug der AfD ist zum ersten Mal seit Ende der 50er Jahren eine in erheblichen Teilen rechtsradikale Partei im Bundestag vertreten. Und während neue Parteien in den Parlamenten bisher immer einen Prozess der Entradikalisierung durchliefen, verhält es sich bei der AfD genau umgekehrt: Seit ihrer Entstehung hat sich die Partei immer stärker radikalisiert. Damit stellt sich die Frage, ob es dem Bundestag noch wie bisher gelingen kann, die verschiedenen Lager zu tauglichen Koalitionen zu integrieren. Sollte dies nicht der Fall sein, hätte es fatale Konsequenzen: Bereits die letzte Koalitionsbildung hat mit dem Scheitern von Jamaika gezeigt, wie schwer die Formierung neuer, lagerübergreifender Koalitionen ist. Durch die Entstehung der Linkspartei ist die SPD bereits heute faktisch nicht mehr zur koalitionären Integration des linken Lagers in der Lage. Sie scheidet damit als potentielle Kanzlerpartei aus. Ähnliches aber könnte der Union aufgrund der Entstehung der AfD widerfahren. Auch wenn dergleichen auf Bundesebene bisher noch undenkbar erscheint: Schon bei den ostdeutschen Wahlen im Herbst dieses Jahres könnten sowohl SPD und Linkspartei als auch die CDU zur Bildung einer klassischen Koalition des links- oder rechts-mittigen Lagers außerstande sein, genauso wie zur Bildung einer großen Koalition. Dann aber stellt sich die Frage: Wer füllt das Regierungsvakuum? Und wird die Versuchung der Macht für die Union vielleicht am Ende zu groß sein, um es nicht doch mit der AfD zu wagen?

 

Das aber würde die Republik einer schweren Prüfung unterziehen. Wie Karl Dietrich Bracher schon 1955 feststellte, wurde in der Weimarer Republik gerade der Machtverlust der Demokraten zur Einbruchstelle für die Totalitären. Über das anschließende Machtvakuum gelangten die Nationalsozialisten am Ende zur Machtergreifung, die im Kern doch vor allem eine Machtabdankung der etablierten Politiker und Parteien bedeutete.[5]

 

Gewiss, Berlin ist nicht Weimar, Höcke nicht Hitler und die Geschichte wird sich so beileibe nicht wiederholen. Und doch ist die AfD bereits heute ein gefährliches Modell der Desintegration – und zwar nicht nur in parlamentarischer, sondern vor allem in rhetorischer Hinsicht. „Die AfD ist zum gesamtdeutschen Auffangbecken für rechte Strömungen in West und Ost geworden“, stellt Norbert Frei zu Recht fest.[6] Und ihre große Stärke besteht darin, dass sie ob ihrer Simulation von Bürgerlichkeit auch Konservative und enttäuschte Unionsanhänger in eine keineswegs bürgerliche Partei integriert. Ganz gezielt betreibt die Partei auf dieser Basis die „Verschiebung des Sagbaren“, wie es ihr Partei- und Fraktionschef Alexander Gauland formuliert.[7] Björn Höcke spricht gar vom „Durchbrechen der Schweigespirale“.[8] Beim thüringischen Landeschef findet man exemplarisch die klassischen Topoi des Rechtspopulismus: hier das gute Volk, dort die korrupten Eliten. Die Regierung, so Höcke, sei „zu einem Regime mutiert“ und habe das „gutmütige Volk heimtückisch hinters Licht geführt.“ Mit diesem schlichten Schwarz-Weiß-Denken findet die AfD gewaltigen Anklang in der breiten Öffentlichkeit, aber auch in den Medien. Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte der Republik ist explizit rechtes Denken damit nicht mehr, zumindest öffentlich, geächtet. Natürlich gab es auch in der alten Bonner Republik stets eine rechte, teilweise auch rechtsintellektuelle Publizistik, die jedoch nie offen, sondern eher fast verschämt und im Verborgenen stattfand. Heute hingegen kann von verschämter Zurückhaltung nicht mehr die Rede sein. Im Gegenteil: Es gibt eine regelrechte Sehnsucht nach befreitem rechten Denken. „Rechts ist keine Krankheit“ und „Warum Deutschland wieder ‚rechts‘ lernen muss“, postuliert exemplarisch und bekennend trotzig der „Bild“-Journalist Ralf Schuler im Magazin „Cicero“ und in seinem neuen Buch „Lasst uns Populisten sein“.

 

Hier zeigt sich: Mit dem Aufstieg der AfD ist der rechte Geist aus der Flasche. Das Spektrum ist denkbar weit und spannt sich vom demokratischen Rand bis zum Rechtsextremismus. Das reicht von dem erwähnten rechtsliberalen Anti-Merkel-Magazin „Cicero“ über AfD-nahe rechtsintellektuelle Publizistik wie Henryk M. Broders „Achse des Guten“ und „Tichys Einblick“ bis hin zu dezidiert rechtsradikalen Publikationen wie Jürgen Elsässers „Compact“ und Götz Kubitscheks „Sezession“. Die „Junge Freiheit“, lange Zeit fast Monopolist der rechtsintellektuellen Publizistik, gibt sich dagegen heute als vergleichsweise liberale, durchaus Höcke-kritische Stimme der AfD und muss daher in der Neuen Rechten hart um Aufmerksamkeit und Anerkennung kämpfen angesichts anderer längst weit radikalerer Blätter. Und so sehr die Neue Rechte die Idee der Grenze in den Mittelpunkt stellt, so sehr sind in den Medien die Grenzen doch längst fließend geworden. Speziell die „Bild“-Zeitung sorgt – und zwar beileibe nicht nur mit ihrem bekennenden Rechtsausleger Schuler – seit dem Abgang von Kai Diekmann („Refugees Welcome“) für die Übernahme rechter Topoi in den millionenfach gelesenen Mainstream. Fließend ist die Grenze aber vor allem zu den neuen Medien, in denen die wüstesten Verschwörungstheorien reüssieren und sich in ihrer Ablehnung der Demokratie permanent verstärken. Die auf diese Weise entstehenden Echokammern sind gegenüber Andersdenkenden weitgehend kommunikationsunfähig bzw. -unwillig. Darin besteht ein fundamentaler Unterschied zur alten, prädigitalen Republik. Natürlich war zu Bonner Zeiten Helmut Schelskys ominöse „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ keineswegs wirklich nivelliert, gab es weiterhin gewaltige Unterschiede, nicht nur zwischen Arm und Reich. Und doch war die Gesellschaft in vielerlei Hinsicht weit homogener und mittiger als heute. Dies galt nicht nur in materieller, sondern auch in intellektuell-kommunikativer Hinsicht. Denn diese Nivellierung manifestierte sich auch in der Mediennutzung. Speziell zu Zeiten des bloß öffentlich-rechtlichen Rundfunks, aber selbst noch nach Einführung des privaten, gab es, trotz aller Unterschiede im Sehverhalten, eine gemeinsame, geteilte Öffentlichkeit – mit der allabendlichen „Tagesschau“ als dem Lagerfeuer der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

 

Die Sehnsucht nach dem starken Mann

Dies hat sich in der Berliner Republik grundlegend geändert. Seit der Erfindung des Internets erleben wir die Auflösung von Gesamtgesellschaftlichkeit bei gleichzeitigem Entstehen neuer radikaler Teil- und Parallelgesellschaften. Diese neue Segmentierung erinnert stark an die Weimarer Republik, in der die unterschiedlichen Lager, Schichten und Milieus kaum Verbindungen untereinander aufwiesen und sich hart befehdeten.

 

Zu der neuerlichen Polarisierung, ja Verfeindung tragen die neuen Medien maßgeblich bei. Ihre Debatten sind oft meilenweit entfernt vom zivilgesellschaftlichen Ideal eines herrschaftsfreien Diskurses. Der dort gepflegte Rigorismus verachtet die Kultur des Kompromisses wie der parlamentarischen Aushandlung und Repräsentation. Dort wächst angesichts der immensen Komplexität der modernen Weltgesellschaft eine große Sehnsucht nach Komplexitätsreduktion und einsamer Entscheidung – der alte Dezisionismus für Tatmenschen vom Schlage Trumps, Putins und Erdoğans.

 

Und dieser populistische Furor macht schon lange nicht mehr vor den Volksparteien Halt. Wenn Horst Seehofer die eigene Regierung als eine „Herrschaft des Unrechts“ bezeichnet und Alexander Dobrindt dagegen eine „Konservative Revolution“ fordert, dann zeigt sich daran, wie anfällig auch die CSU-Spitze für eine autoritäre Semantik ist, die mit liberaler Demokratie nichts zu tun hat. Im Vordringen rechter Rhetorik in die bürgerlichen Parteien liegt heute die vielleicht größte Gefahr des Rechtspopulismus. Zur Erinnerung: Die beiden Volksparteien sorgten in der alten Republik durch ihre „demokratische Polarisierung“ (Jürgen Habermas) für die zivile Austragung von Konflikten und anschließende Regierungsfähigkeit. Gleichzeitig sorgten sie für die Integration in die demokratischen Institutionen. Der heutige Rechtspopulismus dagegen untergräbt ganz gezielt die Autorität der Institutionen. Björn Höcke begreift seine AfD als die Spitze einer „inhaltlichen Fundamentalopposition“, die sich dezidiert gegen diesen Staat stellt.[9] Damit wird die autoritäre Rechte heute wieder – wie schon in den 1920er Jahren – zum Gegner, ja Feind des demokratischen Staates, während linke Kräfte diesen verteidigen müssen.

 

Daran zeigt sich, dass wir heute eines Verfassungspatriotismus weit mehr noch als vor 40 Jahren bedürfen. Im Taumel seines Glückes ist das vereinigte Land nach 1989/90 sehr schnell wieder zu Deutschland geworden – und hat darüber die demokratischen Bürgertugenden der alten Bundesrepublik, nämlich Engagement in der Gesellschaft wie in den staatlichen Institutionen, ein Stück weit vergessen. Es gilt daher heute, diesen Republikanismus wieder neu zu entdecken. Inzwischen ist es allerdings die AfD, die den Patriotismus für sich reklamiert; und es wäre völlig falsch, ihr diesen zu überlassen. Denn während die Rechtspopulisten ein ethnisch-völkisches Verständnis reaktivieren, kommt es darauf an, das republikanische Moment wiederzubeleben. Dabei kommt dem Begriff des Verfassungspatriotismus heute eine wohl noch gewichtigere Bedeutung als früher zu. Speziell Jürgen Habermas, der den Begriff nach Dolf Sternberger aufnahm, reformulierte ihn stark auf Basis universalistischer Prinzipien, also auf der Geltung der Menschenrechte und der Würde des Menschen. Weniger im Fokus waren bei ihm, anders als noch bei Sternberger, die verfassungsrechtlichen Institutionen. Dabei wird gerade deren Autorität, von den Parteien über die Parlamente bis zu Polizei und Bundeswehr, heute massiv untergraben, von inneren Akteuren wie äußeren Herausforderungen, was wiederum die autoritäre Versuchung zusätzlich steigert. Diese Sehnsucht nach dem starken Führer, der endlich ein Machtwort gegenüber der aufmüpfigen Gesellschaft, aber auch den „korrupten Parteien“ und ihren „Schwatzbuden“, also den Parlamenten, spricht, wird von der Neuen Rechten nur allzu gerne bedient. Wer daher heute als Verfassungspatriot unsere Demokratie verteidigen will, wird neben den Grund- und Menschenrechten vor allem unsere demokratischen Institutionen stärken müssen.

 

Neben der ideellen, verfassungspatriotischen „Input“-Ebene wird aber vor allem der harte materielle „Output“ über die Zukunft unserer Demokratie entscheiden. Eine Demokratie ist nur so gefestigt, wie ihre ökonomische und soziale Basis gesichert ist. Auch die Bundesrepublik bestand schließlich keineswegs, wie man heute manchmal den Eindruck haben kann, von Beginn an aus lupenreinen Demokraten – im Gegenteil, „die relative Wertschätzung des gerade Vergangenen nahm allen bekannten Umfrage-Quellen zufolge in den Nachkriegsjahren sogar vorübergehend zu.“[10] Sprich: Eine Mehrzahl der Bundesbürger hielt den Nationalsozialismus weiterhin für eine gute Sache, die nur schlecht durchgeführt worden war. Ohne das Wirtschaftswunder ist die zunehmende Akzeptanz der Bundesrepublik somit nicht zu begreifen. Und auch das teilweise Scheitern der Demokratie nach 1989 ist vor allem dadurch zu erklären. Denn für Ostdeutschland gab es kein vergleichbares „Wunder“. Viele erlebten die neue Republik nicht als individuellen Aufstieg, sondern als individuellen wie kollektiven Abstieg. Neben der 40 Jahre längeren Diktaturerfahrung ist das der Hauptgrund dafür, warum bis heute die demokratische Gesinnung in den fünf „neuen“ Bundesländern teilweise hinterherhinkt, was eine erhebliche Hypothek für die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik bedeutet.

 

Demokratisch oder autoritär – wie wird die Zukunft der Republik?

Der alten Bonner Republik gelang es, die primär innenpolitischen Probleme durch eine Kultur des sozialen Friedens und des produktiven Konflikts zu bewältigen. Ob allerdings die Berliner Republik in der Lage ist, zur Lösung der globalen Probleme beizutragen, wird sich noch erweisen müssen. Ralf Dahrendorf, der als einer der Ersten die Gefahren der Globalisierung erkannte und vor einem autoritären 21. Jahrhundert warnte,[11] sprach bereits 1996 in den „Blättern“ von der Quadratur des Kreises, die die westlichen Demokratien in der globalisierten Welt zu leisten hätten. Sie müssten erstens die Wettbewerbsfähigkeit in den rauen Winden der Weltwirtschaft erhalten, ohne dabei zweitens den sozialen Zusammenhalt zu opfern, und all das drittens schließlich unter den erschwerenden Bedingungen schwerfälliger demokratischer Institutionen in freien, diskursiven Gesellschaften.[12]

 

Damals wusste Dahrendorf, der vor inzwischen bald zehn Jahren gestorben ist, noch nichts von der kommenden Spaltung des Westens und der EU. Zudem unterschätzte er das vielleicht größte globale Problem, nämlich die seit inzwischen gut 30 Jahren aufgeschobene und völlig ungelöste Klimakrise. Mit ihren Auswirkungen auf alle Bereiche menschlichen Lebens, von Ernährung und Armut über Gewalt und Krieg bis zur Migration, stellt sie zweifellos die eigentliche Jahrhundertaufgabe dar. Immerhin scheint eine neue Generation fest entschlossen, sich dieser Aufgabe, die nicht zuletzt über ihre eigene Zukunft entscheidet, zu stellen. Ob allerdings die liberale Demokratie tatsächlich den Herausforderungen einer globalisierten Welt gewachsen sein wird, steht in den Sternen. Noch ist die bundesrepublikanische Demokratie bloß verunglückt und beileibe nicht am Ende ihrer Kräfte. Noch ist also offen, ob sie wieder voll funktionstüchtig werden kann oder ob daraus am Ende doch ein Totalschaden wird – und wir eines Tages wieder in einem autoritär geführten Staat aufwachen werden.

 

Der Beitrag erschien zuerst in: Blätter für deutsche und internationale Politik (Mai 2019)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[1] Rainer Faus und Simon Storks, Im vereinten Deutschland geboren – in den Einstellungen gespalten?, www.otto-brenner-stiftung.de, 25.2.2019.

[2] So das Ergebnis einer Studie der TU Dresden („Wer geht zu PEGIDA und warum?“) von 2015.

[3] Dagegen schon damals skeptisch: Albrecht von Lucke, Die gefährdete Republik. Von Bonn nach Berlin. 1949-1989-2009, Berlin 2009, S. 97.

[4] In sozialpolitischer Hinsicht diagnostizierte Claus Leggewie bereits 2006 die „Zukunft der Veröstlichung“, in: „Blätter“, 10/2006, S. 1244-1254.

[5] Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 1955.

[6] Interview mit Norbert Frei, in: „Frankfurter Rundschau“, 3.4.2019.

[7] „Wir versuchen, die Grenzen des Sagbaren auszuweiten“, Alexander Gauland im Interview, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 7.6.2018.

[8] Björn Höckes Rede vom 17.1.2017 vor der Jungen Alternative in Dresden im Wortlaut unter www.tagesspiegel.de.

[9] Björn Höcke, a.a.O.

[10] Axel Schildt, Fünf Möglichkeiten, die Geschichte der Bundesrepublik zu erzählen, in: „Blätter“, 10/1999, S. 1234-1244, hier: S. 1237.

[11] Ralf Dahrendorf, An der Schwelle zum autoritären Jahrhundert, in: „Die Zeit“, 14.11.1997.

[12] Die Quadratur des Kreises. Ein „Blätter“-Gespräch mit Ralf Dahrendorf, in: „Blätter“, 9/1996, S. 1060-1071.

(aus: »Blätter« 5/2019, Seite 75-83)

 

Albrecht von Lucke

Albrecht von Lucke

Albrecht von Lucke, geb. 1967. Der studierte Jurist und Politologe ist Redakteur der größten politisch-wissenschaftlichen Monatszeitschrift im deutschen Sprachraum, der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ (www.blaetter.de). 2014 erhielt er den Lessing-Förderpreis für Kritik, 2018 den Otto-Brenner-Preis Spezial

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