Wie sollte Polen nach außen hin auftreten? Welche Ziele sollte sich das Land angesichts begrenzter eigener Mittel und einer komplexen internationalen Lage setzen? Wie sollte es schließlich Einfluss auf das europäische System nehmen, um die eigene Position zu stärken und zugleich dem gesamteuropäischen Wohl zu dienen? Diese Fragen stellte 2008 der vormalige polnische Botschafter in den Vereinigten Staaten Przemysław Grudziński. In seinem schmalen Bändchen „Der intelligente Staat. Polen auf der Suche nach seiner internationalen Rolle“ („Państwo inteligentne. Polska w poszukiwaniu międzynarodowej roli“, Toruń 2008) vertrat er die Meinung, die polnische Außenpolitik solle die Möglichkeiten nutzen, die sich aus dem Beitritt zur Europäischen Union ergeben haben, und an erster Stelle definieren, welche Rolle es im europäischen System spielen werde. Grudziński befürwortete eine aktive, engagierte Diplomatie, die sich dem Aufbau des gemeinsamen europäischen Projekts widmet, an dem teilzuhaben die Polen doch nach 1989 so bestrebt gewesen waren.
Grudzińskis Buch erschien in einem besonderen Augenblick. Es stellte die Reaktion auf den Zustand der polnischen Politik nach dem EU-Beitritt zur Diskussion, als Polen sein wichtigstes politisches Ziel nach dem Umbruch von 1989 erreicht hatte. Polens Situation war dadurch anders als jemals zuvor in seiner langen Geschichte: Es erhielt erstmals die Chance, an Entscheidungen über jeden auch noch so entfernten Winkel in der Staatengemeinschaft teilzunehmen. Als noch am Anfang befindlicher Staat und Neuling im exklusiven europäischen Klub hatte Polen begrenzte Möglichkeiten, doch saß es endlich gemeinsam mit den größten Akteuren am Tisch. Historisch gesehen war also das Jahr 2004 für Polen ein Datum größten Gewichts.
Die folgenden Jahre brachten jedoch die Abkehr vom proeuropäischen Kurs. Das lag vor allem daran, dass die Partei, die 2005 in Polen an die Regierung kam [„Recht und Gerechtigkeit“ – PiS; A.d.Ü.], nicht in der Lage war, Ziele der polnischen Politik zu formulieren. Polen war Mitglied der wichtigsten westlichen Institutionen, hatte aber keine Konzeption, wie mit diesem Potential umzugehen sei. Die neuen Möglichkeiten erschienen gar zu überwältigend, so dass Polen sich um die eigene Achse zu drehen begann, ohne Antworten zu finden, die ihm selbst und der Staatengemeinschaft hätten nützen können.
Als 2007 der nächste Regierungswechsel erfolgte, mochte es scheinen, Grudzińskis Buch könne dem außenpolitischen Denken neue Impulse geben und motivieren, Ort und Rolle Polens im neugestalteten Europa zu überdenken; dazu zwingen, sich zu überlegen, welche Initiativen ein normaler (nicht exzeptioneller) und mittlerer (nicht großer) Staat ergreifen könne. Und zwar nicht zu dem Zweck, ein größeres Stück von der Torte abzukommen, sondern damit immer mehr für alle da wäre. Grudziński hielt fest: „Zwar gibt es im politischen Getriebe nur wenig Zeit, zur Besinnung zu kommen, doch kommt einmal der Augenblick, da unbedingt einmal angestrengt nachgedacht werden muss.“ Leider sind diese Worte ungehört verhallt.
Das alles ist längst Vergangenheit, so dass „Der intelligente Staat“ heute wohl ungelesen auf den Bibliotheksregalen einstauben könnte. Doch auch wenn die polnische Politik im Jahre 2019 sich in einer völlig veränderten Lage befindet, sind Grudziński Handlungsanweisungen doch nach wie vor relevant.
Den aufmerksamen Beobachter wird das kaum überraschen. Seit Jahren wird die polnische Außenpolitik nach demselben Schema F betrieben, meist wenig produktiv und ohne Konzeption. Seit langer Zeit fehlt der polnischen Diplomatie die Innovativität, der Rückgriff auf die politische Theorie und ein Bewusstsein für die Ziele, für die sie sich einsetzen soll. Heutzutage ist in Polen keine Rede von gemeinsamen europäischen Projekten, die das polnische und das europäische Potential erhöhen könnten und ganz und gar dem Gemeinwohl verpflichtet sind. Gerade eine solche wechselseitig vorteilhafte Diplomatie fordert Grudziński in seinem Buch.
Zuallererst ruft er in Erinnerung, dass Polen auf internationaler Bühne nur ein Akteur von vielen ist, kein außergewöhnlicher Staat, der eine besondere und erhabene Mission zu erfüllen habe. Stattdessen müsse es sich zu einem wertvollen Vermittler zwischen Ost und West machen; zu einem vertrauenswürdigen und aktiven Partner in den westlichen Institutionen, ohne zu vergessen, das Frieden und gutnachbarschaftliche Beziehungen mit den Staaten östlich der Grenze gleichfalls wichtig sind. Grudziński meinte: „Die Rolle des Vermittlers macht sich bezahlt. In Europa liefern dafür die Schweiz, Österreich, Norwegen und Finnland lebendige Beispiele.“ Staaten, die sich als Vermittler zwischen anderen Ländern einbringen, tun dies nicht allein aus eigenem Interesse, sondern sind bei der Überwindung oft schwieriger regionaler und globaler Fragen behilflich. Eine solche Rolle könne, so Grudziński, Polen von der Rolle des Opfers der Geographie und Geschichte und der eigenen Obsession mit von überallher lauernden Gefahren befreien. Dann könne Polen „endlich anfangen, sich dieselben Fragen wie alle anderen Staaten zu stellen, um wie die anderen zu funktionieren und im internationalen System zu prosperieren.“
Allein, mit diesem System führt Polen einen unablässigen Kampf. Polen fällt es schwer zu begreifen, welch kolossale Veränderungen in Europa vor sich gegangen sind, dass nämlich die europäischen Staaten sich heute zueinander völlig anders verhalten als in vergangenen Jahrhunderten. „Polen hat das Nachsehen, wenn es sich staatliche Ziele wie aus der Zeit des Westfälischen Friedens und des Europas nach 1648 setzt und sich dabei von der Logik unbeschränkter Souveränität leiten lässt, die heute eigentlich niemand in Europa mehr wünscht, und selbst wenn jemand sie wünscht, sie doch nicht besitzt und sich in die Realität einfindet.“ Heute wird das sehr deutlich, wenn wir immer wieder auf dem Forum der EU fordern, die Integration auf die Idee eines Europas der Vaterländer zu stützen.
Schließlich mahnt Grudziński, das Maß zu halten und die Initiativen den polnischen Möglichkeiten anzupassen. Polen ist ein Land mittlerer Größe und mittlerer Möglichkeiten, und das ist allem Anschein zum Trotz gar nicht wenig. Aktivität, Offenheit, Innovativität, Spezialisierung und effiziente Vermittlung, das sind die Merkmale, die gerade mittlere Staaten auszeichnen sollten, die sich militärisch und wirtschaftlich nicht mit den großen Mächten messen können. Je mehr das System ein Land braucht, desto weniger steht für dessen Erhalt zu fürchten. Ein intelligenter Staat ist ein solcher, der von anderen gebraucht wird.
Erfüllt Polen zurzeit eine solche Rolle? Und wenn nicht, was sollten wir tun, was sollten wir anfangen auf dem immer weniger schwarz-weißen europäischen und globalen Schachbrett? Hinweise auf die richtigen Antworten finden wir auch nach Jahren immer noch in Grudzińskis „Intelligentem Staat“.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann