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Geschichtspolitik und historische Bildung in Polen

Die historische Bildung der jungen Generation in Polen ist ein dankbares Diskussionsthema und Gegenstand verschiedener Reformvorhaben. Allgemein herrscht die Auffassung, die Jüngeren wüssten ohnehin nicht viel von Geschichte, und wenn, dann nicht das Richtige. Im Zuge der letzten Veränderungen – von einer Reform zu sprechen wäre übertrieben – wurden neue didaktische Programme erarbeitet, in Kürze erscheinen neue zeitgeschichtliche Lehrbücher für die Grundschule und das Lyzeum (Gymnasium). Doch sind Schulgeschichtsbücher genauso wie Geschichtslehrer heute längst nicht mehr die Quellen, aus denen die Jüngeren das Gros ihres Wissens beziehen. Wenn sie Geschichte lernen oder einfach nur ihrer historischen Neugier nachgeben, informieren sie sich heute viel eher über das Internet. Wie ist es nun um ihr historisches Wissen bestellt? Im Februar dieses Jahres veranstaltete das Berliner Zentrum für Osteuropa‑ und Internationale Studien in Polen eine Umfrage unter knapp 2.000 Sechzehn‑ bis 34jährigen. Die Ergebnisse sind zum Teil im Internet veröffentlicht.

 

Historisches Wissen

Seit vier Jahren hat es merkliche Veränderungen darin gegeben, wie polnische Geschichte vermittelt wird. Dazu dienen selbstverständlich auch Schulcurricula und eigens für diese verfasste neue Schulgeschichtsbücher. In den von der Regierung geleiteten Museen werden Veränderungen vorgenommen, neue Einrichtungen aufgebaut, deren Programm der jetzt durchgesetzten Geschichtspolitik entspricht. Begängnisse historischer Jahrestage werden lautstark angekündigt, auch wenn es nicht immer gelingt, sie entsprechend umzusetzen – Militärparade und Konzert, eventuell ein Umzug oder eine Massenkundgebung, damit ist das Repertoire auch schon erschöpft.

 

Seit 1989 war Geschichte in Polen wohl noch niemals so sehr in der Öffentlichkeit präsent. Als Historiker habe ich dazu eher gemischte Gefühle. Vor einigen Tagen ging ich in Warschau vom Marschall-Józef-Piłsudski-Platz Richtung Königsschloss. Dabei kam ich an mindestens drei Freiluftausstellungen zu historischen Themen vorbei. Der Höhepunkt war eine Installation auf dem Schlossareal, die an die Kollaboration Berlins und Moskaus bei ihrem Angriff auf Polen 1939 erinnern soll. Aufgrund seiner Geschichte ist Warschau ein einziger großer Erinnerungsort. Dem in derartiger Konzentration noch verschiedentliche Belehrungen zur Geschichte hinzuzufügen, wirkt sehr schnell schlicht – anstrengend.

 

Welche Folgen haben solche manipulativen geschichtspolitischen Unternehmungen? Ihre Urheber sind anscheinend überzeugt, es reiche, das Publikum mit verschiedensten Inhalten zuzuschütten, und die aufnahmebereiten Gemüter werden dann schon gleichsam sozialistischen Stoßarbeitern selbst die eigentliche Arbeit tun. Hat diese neue Art der Vermittlung irgendeinen Einfluss auf die Einstellung der Jüngeren zur Geschichte oder zu bestimmten historischen Ereignissen, vermittelt ihnen das ein Fundament, um sich in eine Diskussion zum Thema einschalten zu können? Welche historischen Schlüsselereignisse werden von den jüngeren Polen am häufigsten genannt? Antworten auf diese Fragen suchte wie erwähnt das Zentrum für Osteuropa‑ und Internationale Studien in seiner Umfrage.

 

Platz Eins: Fall des Kommunismus

Von den genannten Schlüsselereignissen der polnischen Geschichte wurden (in der Reihenfolge der Häufigkeit) der Fall des Kommunismus (14 %), der Zweite Weltkrieg, die Wiedergewinnung der Unabhängigkeit und der Beitritt Polens zur Europäischen Union genannt. Dass der Fall des Kommunismus an erster Stelle steht, sollte nicht weiter überraschen, dennoch ist es etwas unerwartet in Anbetracht der Geschichtspolitik der letzten Jahre. Die befragte Gruppe bestand aus jungen Menschen, die überwiegend nach 1989 geboren sind. Der Fall des Kommunismus ist für die meisten von ihnen mit positiven Veränderungen assoziiert. Fast ein Drittel der Befragten verbindet dieses Ereignis mit Demokratie und Meinungsfreiheit; ein Viertel erwähnt die Wiedergewinnung der staatlichen Unabhängigkeit. Ein ähnlicher Anteil verweist auf die Wirtschaftsreformen, die den polnischen Lebensstandard westeuropäischem Niveau angleichen sollten. Einer der Befragten fasst das in folgende Worte: „Der politische Umbruch, der uns die Wahl einer freien Regierung ermöglichte, gab den Bürgern mehr Raum und befreite die Wirtschaft.“ Die Gespräche am Runden Tisch lösen dagegen negative Assoziationen aus. Ein Teil der Befragten sieht darin die Ursache für die ausgebliebene „Entkommunisierung“ oder gerichtliche Verurteilung der Kommunisten. Für sie sind das bis heute aktuelle Versäumnisse. Andere Befragte machen die heutige Spaltung des Landes den damals an den Verhandlungen Beteiligten zum Vorwurf.

 

Zweiter Weltkrieg

Fast 14 % der Befragten nannten auch den Zweiten Weltkrieg als historisches Schlüsselereignis. Für einige ist der Krieg geradezu ein aktuelles Thema. Alle stimmen darin überein, die Folgen des Krieges seien bis heute zu spüren und hätten einen merklichen Einfluss auf die polnische Gesellschaft. Einer der Befragten schreibt dazu: „Das war eine für die Polen traumatische Erfahrung, Geschichte wird von einer Generation an die nächste vermittelt, aber die Polen leben noch mit der Vergangenheit.“ Die für diese Situation genannten Ursachen sind vielfältig, allen voran die ungeheuren Verluste an Menschen und Sachwerten. Die jungen Befragten erwähnen Polen, Juden und die Intelligenz als zur Auslöschung vorgesehenen Gruppen. Ein Fünftel der Befragten erwähnt die Zerstörung des Landes, den Wiederaufbau und den damit einhergehenden Rückschlag für die Wirtschaft. Auch wenn heute die von Deutschland noch zu zahlenden Kriegsreparationen laut propagiert werden, ist das kein von den Jüngeren ernstgenommenes Thema. Ebenso fällt auf, dass nur 12% der Befragten das polnische Heldentum im Krieg herausstellen, was durchaus als völliger Fehlschlag des gegenwärtig forcierten Geschichtsnarrativs gelten muss.

 

Spezialwissen

Die Teilnehmer der Umfragen nannten nicht nur Geschehnisse der Zeitgeschichte, sondern auch Fakten der entlegeneren Vergangenheit, etwa die Taufe Polens (4%, wobei interessanterweise ähnlich viele Respondenten den polnischen EU-Beitritt nannten). Viele erblicken darin die Anfänge der polnischen Geschichte, seiner Christianisierung und seiner Identität als katholisches Land. Auch die Teilungen Polens werden als Hauptereignisse genannt. Interessant ist hier der historische Kontext. Denn die Befragten verweisen insbesondere auf die Folgen der Teilungen und die Dauerhaftigkeit der Einteilung Polens in West und Ost, ein Polen A und ein Polen B.

 

Eine indirekte Bilanz

Auf der Grundlage solcher Umfragen lässt sich noch kaum eine Antwort darauf finden, welchen Einfluss die jüngsten geschichtspolitischen Maßnahmen auf die historischen Vorlieben jüngerer Polen gehabt haben. Es ließe sich sogar behaupten, dass sich hier die vorherige historische Bildung stärker bemerkbar macht, die besonderen Wert auf die Bedeutung des Jahres 1989 legte, wobei nicht zuletzt auch die innerfamiliäre Überlieferung eine Rolle spielt. Erst wenn die Veränderungen in Bildung und öffentlichen Einrichtungen wie Museen usw. einige Jahre lang ihre Wirkung getan haben, wird man dazu Genaueres sagen können. Es ist jedoch nicht zu bezweifeln, dass der jungen Generation die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts ziemlich geläufig ist und sie diese mit der aktuellen Situation in Verbindung bringt. Es kommt darauf an, den Blick auf den Kontext der Ereignisse zu lenken. Die Jüngeren sind in der Lage, historische Ereignisse kritisch zu erfassen und zu bewerten. Das ist ein wichtiger und tröstlicher Schluss, den wir aus der hier besprochenen Umfrage ziehen können.

 

Für diesen Text wurden herangezogen:

Nadja Sieffert, „Es geschah vor Kurzem“? Das historische Bewusstsein junger Polinnen, in: ZOiS. Publikationen. ZOiS Spotlight, URL: https://www.zois-berlin.de/publikationen/zois-spotlight/es-geschah-vor-kurzem-das-historische-bewusstsein-junger-polinnen/ (letzter Zugriff 01.11.2019)

Félix Krawatzek, Youth in Poland: Outlook on Life and Political Attitudes, in: ZOiS Report 4/2019, URL: https://www.zois-berlin.de/publikationen/zois-report/zois-report-42019/ (letzter Zugriff 01.11.2019)

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 

Der Text erschien zuerst unter: https://krzysztofruchniewicz.eu/mlodzi-polacy-a-historia/

Krzysztof Ruchniewicz

Krzysztof Ruchniewicz

Historiker, Professor an der Universität Wrocław und Direktor des dortigen Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien.

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