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Der vergessene Sieg

Arkadiusz Szczepański: Herr Professor Lehnstaedt, in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit haben Sie sich bislang hauptsächlich auf den Zweiten Weltkrieg und insbesondere auf den Holocaust spezialisiert. Ihr neuestes Buch „Der Vergessene Sieg“ ist hingegen einem ganz anderen Thema gewidmet: Dem Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1919-1921. Weshalb wollten Sie sich mit diesem Ereignis und dieser Zeit auseinandersetzen?

 

Stephan Lehnstaedt: Ich habe mich schon 2016 in meiner Habilitation mit der deutschen und österreichisch-ungarischen Besatzung Polens in Ersten Weltkrieg beschäftigt. Mich interessieren Dynamiken der Gewalt, also warum es legitim und gewissermaßen notwendig erscheint, Gewalt auch gegen Zivilisten auszuüben. Da war es irgendwie logisch, über 1918 hinauszugehen und zu sehen, was und wie sich die Region zwischen Deutschland und Russland transformiert, so dass schließlich die Massenmorde und Genozide nach 1939 vorstellbar und möglich werden.

 

Ist dieses historische Ereignis jenseits von Polen vergessen? Wie wird der Polnisch-Sowjetische Krieg in Deutschland, wie im heutigen Russland wahrgenommen?

 

Ja, das ist ein vergessener Krieg. In Russland ist es einfach nur eine Episode des Bürgerkriegs seit 1917. Und in Deutschland kennt das niemand, obwohl es so entscheidend für die Entwicklungen in Polen und seinen Nachbarländern ist. Das sind Weichenstellungen für das ganze 20. Jahrhundert. Auch deshalb wollte ich darüber schreiben.

 

Der Polnisch-Sowjetische Krieg nimmt in der polnischen Erinnerungskultur eine wichtige Stelle ein. Der Sieg des 1918 wiederauferstandenen Polens gegen die Rote Armee schien den alten Mythos von Polen als Bollwerk des christlichen Europa ein weiteres Mal zu untermauern, denn Polen habe einen Weitermarsch der Bolschewisten nach Deutschland aufgehalten. In Ihrem Buch äußern Sie eine andere These, die vielen Polen nicht gefallen dürfte. Hat Polen den Marsch der Roten Armee nach Berlin verhindert?

 

Natürlich träumten die Bolschewiki damals von der Weltrevolution. Und die wollten sie, nicht zuletzt wegen Karl Marx, auch und gerade nach Deutschland bringen. Aber rein militärisch war das eine Illusion. Die Rote Armee war damals zwar ein ernstzunehmender Gegner für den wiedergeborenen polnischen Staat, hätte aber keine Chance selbst gegen die Reste des deutschen Heeres aus dem Ersten Weltkrieg gehabt. Abgesehen davon waren Deutschland und die Bolschewiki rein machtpolitisch keine Feinde, sondern beide an einer Revision des Versailler Vertrages interessiert: Ein Bündnis macht für sie viel mehr Sinn als ein Krieg. Deshalb kam es 1922 ja auch zum Vertrag von Rapallo.
Außerdem müssen wir ganz klar sagen, dass Piłsudski damals selbstverständlich nicht an Europa, sondern nur an Polen dachte. Und es ging ihm auch nicht um einen Kampf gegen den Kommunismus als gefährliche Ideologie, sondern um Russland als Gefahr für seine Heimat.

 

Welche Dimension hat der polnische Sieg über die Rote Armee abschließend aus Ihrer Sicht? Eine europäische oder eher regionale?

 

Natürlich hatte der Sieg eine europäische Dimension, denn auf ihn folgte der Vertrag von Riga, mit dem die Grenzen im Osten Polens festgelegt wurden: Es gab also keine Ukraine und kein Belarus, und auch kein Wilna für Litauen. Aber es gab eine Sowjetunion, die ihre Außengrenzen gesichert hatte und sich ganz auf die Machtentfaltung im Inneren konzentrieren konnte. Es war der Frieden nach einem Sieg, mit dem im Grunde niemand wirklich zufrieden war. Es gab viel Hass, der sich im Zweiten Weltkrieg in interethnischen Massakern entlud. Und 1945 argumentierte Stalin bei der Grenzziehung immer noch mit den damaligen Ereignissen. Das ist eine regionale Dimension, aber Osteuropa ist doch die Hälfte des Kontinents.

 

Der Sieg über die Rote Armee war ein zentraler Gründungsmythos der Zweiten Polnischen Republik. Inwiefern hat er zur Verzerrung des eigenen Selbstbildes Polens beigetragen und letztendlich dazu geführt, dass die Stärke Deutschlands nach unterschätzt sowie die eigenen Möglichkeiten überschätzt wurden, wie sich im September 1939 zeigen sollte?

 

Seit Polen 1611 den Moskauer Kreml eroberte war es im Grunde immer seinen Nachbarn unterlegen – militärisch und wirtschaftlich. Der Polnisch-Sowjetische Krieg stellte eine Ausnahme dar, weil die Bolschewiki einen Bürgerkrieg kämpften. Für sie waren die Gegenrevolutionäre existenzbedrohend, Piłsudski hingegen nur ein Gegner mit territorialen Ambitionen.
Aus diesem Sieg, der eine temporäre Schwäche ausnutzte, erwuchs viel Stolz. Mir scheint aber, dass man in Warschau in den 1930ern die deutsche Bedrohung nicht unterschätzte, sondern vor allem glaubte, mit Hilfe des Westens Widerstand leisten zu können. Natürlich wusste die polnische Regierung 1939, dass Deutschland mehr Soldaten, mehr Panzer und ganz allgemein viel mehr militärisches Potential hatte. Aber man dachte, zumindest hinhaltenden Widerstand leisten zu können. Das war eine Fehleinschätzung, und die hatte schon teilweise mit dem Sieg 1920 zu tun. Andererseits wäre die Alternative wohl nur sofortige Kapitulation gewesen.

 

Ein weniger bekannter Aspekt des Polnisch-Sowjetischen Krieges, den Sie in Ihrem Buch beschreiben, ist die enthemmte Gewalt gegenüber Juden. Welche Rolle fiel der jüdischen Bevölkerung auf den Kriegsgebieten zu?

 

Die jüdische Bevölkerung hatte gar keine aktive Rolle. Ganz im Gegenteil forderte jede Kriegspartei sie zu Loyalität auf, was der Gegner wiederum als Illoyalität sah und bestrafte. Die Juden waren all dieser Gewalt hilflos ausgeliefert. Es gab weit über 100.000 ermordete jüdische Zivilisten auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, aber auch zahlreiche Pogrome hinter der Front, etwa in Zentralpolen. Selbst wenn Historiker hier „nur“ von etwa 500 Toten ausgehen, ist es doch erschreckend zu sehen, wie sehr sich Soldaten und Zivilisten Sündenböcke für eigene Misserfolge suchten: Die Juden waren demnach an Niederlagen ebenso Schuld wie an veränderten sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen. Was natürlich völlig absurd ist.

 

Inwiefern hat der Polnisch-Sowjetische Krieg dazu beigetragen, dass sich die Vorstellung von einer Judäokommune im Europa der 1920er und 1930er Jahre verfestigte?

 

Ja, das war das wohl wichtigste Feindbild. Demnach seien alle Juden tatsächliche oder heimliche Kommunisten, genauso wie umgekehrt alle Bolschewiki jüdischer Abstammung seien. Und die „eigenen“ Juden in den Schtetln und Städten machten mit ihnen „natürlich“ gemeinsame Sache. Das ist eine ganz wesentliche, fatale Entwicklung, die im Polnisch-Sowjetischen Krieg viel Nahrung erhielt. Dieses Feindbild führte nicht nur in Polen zu viel Hass, sondern bestimmte auch ganz maßgeblich die nationalsozialistische Wahrnehmung von Juden und Kommunisten.

Und man muss natürlich ganz klar sagen, dass diese Gleichsetzung historisch vollkommen haltlos war. Ja, der Kommunismus übte als Ideologie eine große Anziehungskraft aus – und nicht nur auf Juden, sondern auf viele benachteiligte, unterprivilegierte und sozial schwache Menschen. Den Juden, die schon immer unter Antisemitismus litten, machte der Kommunismus das Versprechen, nicht nach Religion und ethnischer Herkunft zu fragen. Das war ein attraktives Angebot: Wer es annahm, legte die „Eigenschaften“ als Jude ab und war nur noch Kommunist – jedenfalls aus der kommunistischen Selbstsicht. Für einen Rassisten hat Judentum nichts mit Religion oder Bekenntnis zu tun, sondern ist eine unabänderliche Tatsache, die vererbt wird. Er sieht nur, dass die Juden gewissermaßen zusätzlich noch Kommunisten sind.

Am Ende gab es bei den Bolschewiki und auch bei sonstigen kommunistischen Bewegungen nicht mehr Juden, als es deren proportionalen Bevölkerungsanteil entsprach. Aber weil die Kommunisten eben nicht nach der Religion oder Nationalität fragten, konnten sie dort tatsächlich in Leitungsfunktionen aufsteigen. Das ist das ganze Elend des Antisemitismus: Was immer ein Jude tut, es ist falsch.

 

Sie beschreiben die parteiübergreifende, innenpolitische Stimmung im wiedererstandenen Polen 1918/1919 als vergangenheitszentriert, denn Polen sollte, nachdem es wieder als Staat existierte, an Einfluss und Größe wie zu Zeiten vor den Teilungen anknüpfen. Der Streit über Polens Rolle und Platz in Europa oszillierte dabei zwischen starkem Nationalstaat und verschiedenen Föderationskonzepten. Ein Stichwort war dabei das „Intermarium“. Sehen Sie bei dieser Diskussion Parallelen bzw. Unterschiede zu heutigen Debatten? Erleben wir eine Renaissance geopolitischer Strategien, die an die Vorkriegszeit anknüpfen?

 

Um es ganz deutlich zu sagen: Damals ging es nicht um Polen in Europa. Niemand hat sich damals für Europa interessiert. Alle Länder haben damals nationale Politik gemacht. Das haben wir heute nicht mehr auf diese Weise. Polens Außenpolitik ist heute sehr stark auf seine Rolle und Position innerhalb Europas und der Europäischen Union ausgerichtet, denn das ist ein zentrales nationales Interesse.
Und natürlich denken Warschauer Politiker in dieser Frage ganz anders als deutsche Politiker, schließlich haben sie eine Grenze zu Russland, zu Belarus und Ukraine. Diese Perspektive bringt Polen in Brüssel ein, und das ist ganz wichtig – gerade weil das eine europäische Außengrenze ist, die aber viele westeuropäische Staaten nicht interessiert.

Aber ich sehe ganz wenige Parallelen zu damals, höchstens bei der Ukraine, die einmal mehr zwischen West und Ost zu überleben sucht. Ansonsten ist Polen zwar, wie damals, der wirtschaftlich und demographisch stärkste Staat zwischen Deutschland und Russland. Aber es hat viele Verbündete in der Region. Das hatte es damals nicht, ganz im Gegenteil hatte Polen keine guten Beziehungen zu seinen Nachbarn und war von lauter revanchistischen, teils hasserfüllten Nationen umgeben.
Und diese Geschichte wird instrumentalisiert, als sei Polen heute in höchster Gefahr. Wir können viel von damals lernen, doch das ist keine Handlungsanleitung. Weder in der Außen- noch in der Innenpolitik. Die Situation ist ganz anders. Polen hat Partner in der EU. Die mögen schwierig sein, sind aber keine „geopolitischen“ Rivalen. Wenn man sie so betrachtet, ist das von Nachteil, weil es einfach keine realistische Lagebeurteilung ist. Deshalb ist auch das „Intermarium“ keine geeignete Vision, denn die EU ist bereits jetzt viel größer. Aber das „Intermarium“ war schon damals eine Illusion, vielleicht ist das ja die Gemeinsamkeit.

Józef Piłsudski ist bis heute eine zentrale Figur in der polnischen Erinnerungskultur. Welches Erbe hat er Polen aus Ihrer Sicht hinterlassen?  

 

Piłsudski fasziniert mich, eben weil es so vielschichtig war. Zuerst Sozialist, später Vater des wiedererstandenen Polens und Retter vor Russland, dann Diktator, zugleich tief in romantischen Vorstellungen der alten Rzeczpospolita verhaftet. Einerseits aus der Zeit gefallen, andererseits ganz Gegenwartspolitiker. Wir wohl niemand sonst bietet er Anknüpfungspunkte für eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Aber gerade deshalb sollte man ihn nicht auf eine Eigenschaft festlegen, da wird man seiner nicht gerecht. Leider ist die Erinnerungskultur hier ziemlich heroisierend und eher eindimensional.

Interessant auch, dass trotz seiner kaum zu überschätzenden Bedeutung für die polnische Geschichte Piłsudskis Erbe heute kaum noch klar zu identifizieren ist: Polens Grenzen sind anders, der Staat ist ethnisch höchst homogen und kein Imperium. Im Grunde entspricht er viel mehr Roman Dmowskis Visionen als denen Piłsudskis. Aber all das hat weniger mit diesen beiden zu tun, als vielmehr mit dem Zweiten Weltkrieg, mit der deutschen Besatzung und der sowjetischen Politik. Vielleicht müsste man aus diesen Zeitläufen die Lehre ziehen, dass Politik zukunftsgewandt sein sollte, weil die Vergangenheit eben nicht Bestand hat. Das zumindest war Piłsudski ganz klar, denn am Ende war er immer ganz Realpolitiker in seiner Gegenwart.

 

Stephan Lehnstaedt ist Historiker und Professor für Holocaust-Studien und Jüdische Studien am Touro College Berlin.

Mit Professor Stephan Lehnstaedt sprach Arkadiusz Szczepański

 

Der Vergessene Sieg ist im C.H. Beck-Verlag erschienen.

 

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Gespräch

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