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Politische Erinnerung ist keine Geschichte

Aleksandra Zińczuk spricht mit dem Historiker und Publizisten Timothy Snyder

ALEKSANDRA ZIŃCZUK: Sie sind ein Kenner der Geschichte der polnisch-ukrainischen Beziehungen. Noch vor nicht so langer Zeit schien es, als ob das Verhältnis zwischen den beiden Ländern eigentlich immer besser werde. Wieso ist aber der polnisch-ukrainische Dialog neuerdings ins Stocken geraten?

TIMOTHY SNYDER: Ein Dialog kann sich nicht ausschließlich um die eigenen Interessen drehen. Wenn wir jemanden zum Prellbock herabwürdigen, kann es keinen wirklichen Dialog geben. Wenn ich einen Dialog will, muss ich die Sichtweise der anderen Seite verstehen. Wenn mir an meiner eigenen Position liegt, muss ich mich bemühen, die andere zu verstehen.

Jerzy Giedroyc [1906–2000, Gründer und Herausgeber der Pariser Exilzeitschrift „Kultura“; A.d.Ü.], Józef Łobodowski [1909–1988, poln. Lyriker; A.d.Ü.] und Henryk Józewski wussten das. Der Wojewode [von Wolhynien 1928–1938; A.d.Ü.] Józewski sagte sogar, die ukrainische und die polnische Seele seien miteinander verbunden. In den heutigen polnisch-ukrainischen Beziehungen erkenne ich diese eigentümliche Metaphysik nicht mehr.

Es überwiegt die subjektive Sicht ohne das Bemühen, die andere Seite zu verstehen. Das ist ein anstrengendes und schwieriges Unterfangen, aber man muss sich ihm unterziehen. Doch in Polen fehlt einfach der Wille, die ukrainische Sichtweise kennenzulernen. Ohne das kann keine Rede davon sein, sich in die Tradition von Giedroyc zu stellen.

Sie legen Wert darauf, Geschichte und Erinnerung voneinander zu unterscheiden. Doch im Falle von Nationen wie Polen und Ukrainern war es doch gerade die Erinnerung, welche die Hoffnung trug, die Unabhängigkeit zu erreichen und eine eigene Identität aufzubauen.

Das sind zwei ganz verschiedene Konzepte. Wenn wir davon sprechen, brauchen wir die richtigen Begriffe. Ich bin ganz und gar dafür, die Erinnerung des Menschen zu bewahren, möglichst viele Zeitzeugenberichte zu sammeln. Einfach gesagt heißt das, ohne Erinnerung gibt es keine Geschichte. Wenn sich niemand erinnert, wird die Geschichte nicht für die Nachwelt bewahrt; wenn es keine Quellen gibt, gibt es auch kein historisches Buch. Als Historiker verwende ich durchgängig Quellen wie Erinnerungen oder Memoiren. Ich bin denen dankbar, die sich darum kümmern, dass es sie überhaupt gibt.

Worin besteht dann der Unterschied?

Wir reden ständig in Orwellscher Weise von Geschichte und Erinnerung. Insbesondere wenn wir uns als Gesellschaft an etwas erinnern, an das wir gar keine Erinnerung haben können, und zwar aus dem einfachen Grund, dass wir in jener Zeit noch gar nicht gelebt haben. In Polen ist der Gedächtnisort schlechthin der Zweite Weltkrieg, gerade deshalb, weil die heutige politische Klasse zu jung ist, um noch Teilnehmer der damaligen Ereignisse zu sein. Überlebende des Zweiten Weltkriegs haben daraus nicht das Zentrum ihrer Erinnerung gemacht. Das tun gewöhnlich diejenigen, die später kommen.

Wenn es um Erinnerung geht, reden wir häufig weder von der Erfahrung der Menschen noch von den Quellen, sondern von einer vagen, imaginären Vergangenheit, die wir aus politischen oder gefühlsmäßigen Gründen für wünschenswert halten. In diesem Sinne hat Erinnerung viele negative Eigenschaften. Sie unterscheidet uns ständig von anderen, stets dient sie als Mittel der Identitätsbildung: Wer sind wir, wodurch unterscheiden wir uns von „den anderen“.

Um das heute am Beispiel von Polen zu zeigen – ständig werden Ukrainer oder Juden in der Gegenüberstellung „wir – die anderen“ negativ definiert. Obwohl das objektiv nicht den Tatsachen entspricht. Es gibt keine polnische Geschichte ohne Menschen ukrainischer und jüdischer Herkunft. Außerdem hat die Erinnerung einen ungeheuren politischen Nachteil, denn sie ist immer wieder durch ethnische Aufteilung charakterisiert. Daher die Behauptung, es gebe überhaupt keine Zukunft, wir leben vielmehr ausschließlich in der Vergangenheit. Aber dem ist nicht so!

Ihr neustes Buch, „Der Weg in die Unfreiheit“ (dt. 2018), basiert auf einer bestimmten Wahrnehmung der Zeit als Kreis, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Wenn ich von Erinnerung als negativem Begriff spreche, meine ich damit die politische Erinnerung. Diese ist der politischen Klasse nützlich, um nicht über die Zukunft nachdenken zu müssen. Dem Anschein entgegen ist Zukunft immer in Geschichte einbezogen. Die Zeit fließt in eine Richtung. Wir lernen Geschichte, um uns in der Gegenwart zu orientieren und in die Zukunft zu blicken. Wenn es keine Geschichte mehr gibt, gibt es uns und das Jetzt nicht mehr. Geschichte kann auf zwei Arten sterben: auf die westliche Art, alles zu vergessen, und auf die östliche, sich politisch und subjektiv zu erinnern. Beide haben eine wichtige Gemeinsamkeit: beide blenden den Blick in die Zukunft aus.

Die westliche Art, wie am Beispiel Wien zu sehen?

Wien ist in seinem Wesen mit Geschichte gesättigt, aber die Wiener sind sich dessen nicht bewusst. Ihre Identität beruht darauf, sich nicht sehr mit der Vergangenheit zu befassen. Also sich lieber nicht zu erinnern. Eine kleine Nation will sich nicht erinnern, weil sie meint, sie sei nicht wirklich für die Vergangenheit verantwortlich. Andererseits ist Wien ein wahrer Schatz, wohin immer ich blicke, sehe ich etwas Interessantes. Vor allem ist das die Hauptstadt der Habsburgermonarchie und der in Europa angelegten Möglichkeiten. Damals waren bestimmte Dinge noch erreichbar, die heute außerhalb des Möglichen liegen.

Es ist auch ein Treffpunkt von Forschern aus aller Welt.

Wien bedeutet für mich vor allem das von Pater Józef Tischner und Krzysztof Michalski gegründete Institut der Wissenschaft vom Menschen, ein Ort, der integral zur mitteleuropäischen phänomenologischen Philosophie gehört. Auch Václav Havel und Karol Wojtyła waren unter den Gründervätern dieser Einrichtung. Seit 23 Jahren bin ich immer wieder in Wien.

Nationen haben immer mal Phasen, in denen es ihnen schwerfällt, den Teufelskreis der Geschichte zu verlassen. Doch wieso zieht der Mensch bei allem Fortschritt und neuen historischen Quellen keinen Nutzen aus diesem Wissen, wieso wird er nicht durch Erfahrung klüger?

Ich nenne mal ein übrigens reales Beispiel. In einem Jahr sammeln Fluggesellschaften ungeheure Mengen an Informationen über ihre Passagiere. Diese zusammengewürfelte Menge an Informationen über Passagiere lässt sich quantitativ mit der Menge des Wissens vergleichen, dass in den Büchern der Library of Congress der USA angesammelt ist. Doch das Wissen über die Flugpassagiere ist qualitativ nicht gleich dem Wissen, das sich aus der Lektüre der Kongressbibliothek schöpfen ließe. Befasst man sich mit ersteren, läuft man Gefahr zu verblöden, vertieft man sich in letztere, kann man zum größten Genie aller Zeiten werden. Aber dies ist die zu beantwortende Frage: Woran liegt es, dass sich Gesellschaften verblöden lassen, und wie werden die ungeheuren Informationsmengen verarbeitet?

Wieso haben Sie Ihr neustes Buch den Reportern als Helden unserer Zeit gewidmet? Es ist offenbar nicht nur für Historiker, sondern auch für Journalisten, Lehrer und gewöhnliche Menschen gut zu lesen. Es handelt vom Problem der Objektivität und der Verantwortung für das Wort.

Richtig. Das Buch beruht hauptsächlich auf Quellen aus erster Hand, ohne seine Heldinnen, die russischen und ukrainischen Reporterinnen wäre es nicht geschrieben worden. Ich glaube wirklich, dass die Autorinnen und Autoren von Reportagen Helden unserer Zeit sind. Heute ist es leicht, sich etwas auszudenken, etwas zu fabrizieren. Es kostet moralisch und finanziell nichts, sich etwas auszudenken, Fakten zu beschreiben und umzuschreiben – das alles ist billig zu haben. Aber etwas wirklich in Erfahrung zu bringen, ist ausgesprochen schwer. Neuerdings läuft es darauf hinaus, je mehr über Geschichte geschwätzt wird, desto weniger historische Bücher werden geschrieben. Und entsprechend, je mehr an sogenannten Informationen in Umlauf sind, desto weniger gibt es Journalisten und wirkliche Reporter.

Ich gebe zu bedenken, dass wir den Begriff der „Information“ nicht im üblichen Sinn gebrauchen, sondern im digitalen Sinn. In der Tat werden wir mit einer riesigen Menge an Informationen zugeschüttet, zwischen denen wir nicht mehr unterscheiden. Man muss sich schon einmal sechs Wochen im Donbas oder in Syrien aufhalten, um eine ernsthafte Reportage zu schreiben, genauso viel Zeit verwenden investigative Journalisten darauf, bei einem Finanzskandal in der Regierung zu recherchieren. Sobald sie ihren Text veröffentlicht haben, werden schon im nächsten Augenblick tausende Varianten ihrer Arbeit in Umlauf gebracht, per Copy und Paste, meist aber so, dass es sich nicht gleich um ein Plagiat handelt. Minimal veränderte Inhalte werden weiter genutzt. Doch die eigentliche Information, die Arbeit der Reporter im rechtlichen Sinn, wird darüber vergessen und nicht anerkannt.

Was wird in ferner Zukunft mit den akkumulierten Erinnerungsberichten geschehen?

Das ist zunächst eine Frage der Technik. An meiner Heimathochschule, der Yale University, befindet sich das Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies, das aktuell 4400 auf veralteten Videobändern aufgezeichnete Zeitzeugenberichte umfasst. Man muss die Bänder also nochmals überspielen, redigieren usw. Dabei stellt sich immer die Frage, wie das am besten zu machen ist, in welchem Format, auf welchem Träger?

In technischer Form aufgezeichnete Archivalia lassen sich beliebig montieren. Ohne Hüter der historischen Wahrheit wird es in Zukunft leicht sein, Quellenmaterialien zu manipulieren.

Die Erinnerung lässt sich immer ändern. Aber wenn Materialien gesammelt und publiziert werden, dann fällt die Manipulation schwerer. Deshalb muss so viel wie möglich veröffentlicht werden. Man muss sich schon sehr anstrengen, um ein bereits veröffentlichtes Buch zum Verschwinden zu bringen. Einer meiner Gründe, den „Weg in die Unfreiheit“ zu schreiben, war das Verlangen, ein Buch auf der Grundlage von Quellen zu schreiben, die bald nicht mehr existieren werden. Ich bezweifle, dass Wladimir Putins Reden noch in fünfzig oder fünfhundert Jahren zugänglich sein werden. Selbst in fünf Jahren kann das schon schwierig werden. Alles muss aufgezeichnet werden. Ich weiß schon, das klingt ungemein konservativ, aber ich sehe keinen anderen Weg.

Wir müssen uns auf die etablierte Berufsethik und Arbeit von Archivaren und Bibliothekaren stützen, auf verschiedene, auch ausländische, allgemeinzugängliche Archive. Bevor wir ganz neue Institutionen gründen, sollten wir in erster Linie eingespielte Routinen nutzen, beispielsweise Materialien an Archive und Orte mit darauf abgestimmten Kapazitäten, Arbeitsmethoden und Infrastrukturen abgeben.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 

Das Gespräch wurde zuerst veröffentlich in „Nowa Europa Wschodnia“ 6/2019.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


© https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Timothy-Snyder-2015.jpg

 

 

 

Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder befasst sich besonders mit der Geschichte des neuzeitlichen Nationalismus. Er hat eine Professur für Geschichte Mittel‑ und Osteuropas an der Yale University und ist Verfasser von in viele Sprachen übersetzten Büchern, darunter „Der König der Ukraine. Die geheimen Leben des Wilhelm von Habsburg“ (dt. 2009); „Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin“ (dt. 2015); „Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann“ (dt. 2015); „Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand“ (dt. 2017).

 

 

Gespräch

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