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Das zweite Katyn – ein vergessenes Lager

Ein Gespräch mit Jolanta Róża Kozłowska, der polnischen Botschafterin in Österreich

 

Seit wann beschäftigen Sie sich mit der Frage des Lagers Gusen? Diese kam einmal mehr bei der Rede von Ministerpräsident Morawiecki in Auschwitz vom 6. Dezember letzten Jahres zur Sprache, als er ankündigte, der polnische Staat wolle das Gelände kaufen, auf dem sich das Lager befand.

 

Damit befasste ich mich bereits, bevor ich nach Österreich kam und mein Amt als Botschafterin antrat. Noch bei der Vorbereitung im Ministerium sprach ich mit Beamten und auch mit Frau Professor Wanda Jarząbek [Leiterin des Projekts „Das KL Gusen als Ort der Ermordung von Polen“; A.d.Red.]. Doch ist das nicht nur meine Mission, auch meine Vorgänger haben sich bereits dessen angenommen. Tatsächlich wurde die Frage bereits in Zeiten der Volksrepublik Polen thematisiert und besonders von unserem ersten Botschafter nach 1989, dem angesehenen und in den deutschsprachigen Ländern bekannten Professor Władysław Bartoszewski. Wir verdanken ihm viel, was den Erinnerungsort Gusen betrifft. Es ist sein besonderes Verdienst, aus dem vormaligen Lager einen würdigen Gedenkort gemacht zu haben. Dabei denke ich etwa an das Besucherzentrum, das aus seiner und seiner Freunde Initiative heraus entstand.

 

Bartoszewski war Mitbegründer des „Personenkomitees Gusen“, das den Bau der Einrichtung finanzierte. Lassen Sie uns jedoch nochmals auf die Rede des Ministerpräsidenten zurückkommen. Welche Reaktionen gab es darauf in Österreich? Ich nehme an, Morawiecki rührte an eine empfindliche Stelle, denn bereits wenige Wochen später fand sich ein entsprechender Passus im Programm der neuen Regierung von Bundeskanzler Sebastian Kurz.

 

Die Rede überraschte sehr, löste aber wohl auch einiges an Bestürzung aus. Offiziell nahm niemand zu Morawieckis Äußerung Stellung. Aber ich muss zugeben, dass alle Medien sehr gewissenhaft darüber berichteten.

 

Ich hatte bereits vorher einen Termin für ein Treffen mit der damaligen amtierenden Kanzlerin Brigitte Bierlein, doch die Äußerung des Ministerpräsidenten beschleunigte das. Das Treffen fand eine Woche nach Morawieckis Auftritt statt, wobei ich unsere Erwartungen darlegte und unsere seit vielen Jahren bekannten Forderungen wiederholte. Ich erklärte, woher Mateusz Morawieckis Entschlossenheit stammt und wieso er sich gerade unter diesen Umständen geäußert hatte.

 

Und wie waren Ihre früheren Erfahrungen mit der österreichischen Regierung?

 

Als ich 2017 nach Wien kam, sprach ich bei Wolfang Sobotka von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) vor, dem damaligen Innenminister [in der Regierung von Kanzler Christian Kern 2015/16; heute ist Sobotka Nationalratspräsident; A.d.Red.], und schnitt das Problem an. Er versprach, die nächste Regierung würde sich damit befassen. In den beiden folgenden Jahren redete ich mit allen zuständigen Beamten. Und immer hörte ich dasselbe: „Wir können nichts tun, aber die nächste Regierung wird sich dessen annehmen…“ oder „Ja, ich verstehe, aber das ist eine politische Entscheidung…“

 

Mauthausen, SS-Baracke Lager Gusen, © Bundesarchiv, Bild 192-170 / CC-BY-SA 3.0

Einen gewissen Fortschritt gab es im März letzten Jahres, als sich einige weitere Botschafter unseren Forderungen anschlossen. Ich hatte damals eine Verabredung mit Professor Guy Dockendorf, dem Vorsitzenden des Comité International de Mauthausen. Ich hielt es für angebracht, auch die Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ländern zu dem Gespräch hinzuzuziehen. Es kamen zehn Botschafter oder ihre Stellvertreter. Im Ergebnis dieses Gesprächs unterschrieben wir einen Brief an Karoline Edtstadler von der ÖVP, damals Staatssekretärin im Innenministerium. Unsere vorangegangenen Bemühungen hatten bewirkt, dass das Ministerium endlich eine Machbarkeitsstudie zum Kauf der Lagerobjekte in Gusen und zur Einrichtung einer Gedenkstätte in Auftrag gegeben hatte. Nicht zuletzt auf das Schreiben an Edtstadler hin wurde den Vertretern der Herkunftsländer der Opfer Anfang 2019 versprochen, die Studie vorzulegen. Bisher haben wir jedoch keine Einsicht in das Dokument nehmen können.

 

Wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass auf einem Gelände, das die Begräbnisstätte zehntausender Menschen ist, eine Siedlung entstehen konnte?

 

Das ist eine sehr verwickelte Angelegenheit, die auf Versäumnisse in den ersten Nachkriegsmonaten zurückgeht. Das Lager war zwar von den Amerikanern befreit, aber von den Sowjets übernommen worden, die erst die Bergwerkstollen ausbeuteten und dann alles demontierten, was möglich war – Einrichtungen und sogar Baumaterial. Nachdem die sowjetischen Truppen Österreich 1955 verlassen hatten, wurde das Gelände parzelliert, die Einzelparzellen verkauft. Dieser blutgetränkte Ort, geheiligt durch das Leiden Tausender Menschen aus fast ganz Europa, wurde ausgeplündert und verwüstet.

 

Ehemalige Lagerinsassen, vor allem Italiener und Franzosen, kauften von eigenem Geld die Überreste des Lagerkrematoriums und errichteten dort 1961 bis 1965 das Memorial Gusen, ein Labyrinth mit dem Krematorium im Mittelpunkt.

 

Das ist doch wohl nur ein Teil dessen, was unter dem Begriff KL Gusen zu verstehen ist?

 

Eigentlich gab es mehrere Lager. Gusen I, Gusen II und etwas weiter weg Gusen III. Von Gusen I sind nur die Überreste des Krematoriums übriggeblieben, das Jourhaus, das heißt die Kommandantur mit dem Lagertor, der Appellplatz, der erhalten blieb, weil er zugeschüttet wurde, die Überreste der Lagerküche, die Steinmühle, zwei Gefangenenbaracken, die nicht abbrannten, weil sie aus Stein waren, und zwei Gebäude der SS. Viele Lagergebäude der SS wurden in Wohnhäuser umgewandelt.

 

All das befindet sich heute in Privatbesitz, was es unmöglich macht, diesen Ort entsprechend zu würdigen. Zum Glück steht ein großer Teil der Parzellen seit einigen Jahren unter Denkmalschutz. Das geschah infolge der Bemühungen ehemaliger Insassen und ihrer Familien, des Gedenkdienst-Komitees Gusen, und auch des polnischen Staates.

 

Ich bin zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus dem diplomatischen Dienst hingefahren, damit sie einmal sehen konnten, in welchem Zustand das Lager ist. Sie waren von den Folgen der Versäumnisse der Nachkriegszeit erschüttert, geradezu niedergeschmettert. Wenn das noch in uns, die wir zur jüngeren Generation gehören, solche heftigen Gefühle auslöst, wie muss das erst auf die ehemaligen Gefangenen aus aller Welt wirken, die immer wieder zum Jahrestag der Befreiung dorthin zurückkehren? Oft werden sie nicht einmal auf das Gelände gelassen. Ich hoffe, in diesem Jahre kommen noch einige ehemalige Insassen. Daher haben wir eine wirklich ungeheure Aufgabe vor uns, damit diese Menschen sehen können, dass man sich um die Stätte kümmert und sie zu einem würdigen Gedenkort wird.

 

Es ist aber nicht so, dass alle Österreicher die Augen vor dem Problem verschließen würden. Manche fordern den Erhalt des Lagers und ein würdiges Opfergedenken. Wie viele davon gibt es?

 

Viele. Darunter auch Politiker, unter anderem der frühere österreichische Bundespräsident Heinz Fischer, einer der Initiatoren des Besucherzentrums. Aufgrund der eigenen Familiengeschichte ist nämlich das Ehepaar Fischer besonders sensibel für die Geschichte des Landes.

Bewunderung und Dankbarkeit verdienen jedoch vor allem die Einwohner aus der Umgebung: die pensionierte Lehrerin Martha Gammer, Vorsitzende des Gedenkdienst-Komitees Gusen, Rudolf Haunschmid, oder auch die Eheleute Andrea und Erich Wahl. Er ist Bürgermeister von St. Georgen, wo sich die zum Lager Gusen II gehörigen Bergwerksstollen befinden, sie ist Sekretärin der sogenannten Bewusstseinsregion mit den drei Gemeinden St. Georgen, Langenstein und Mauthausen. Und auch Christian Aufreiter, Bürgermeister der Gemeinde Langenstein, in der sich der Ortsteil Gusen und das Krematorium befinden. Das sind alles Menschen, sie sich seit den 1980er Jahren für den Erhalt der Lagergedenkstätte engagieren. Ihnen ist es zu verdanken, dass dort Jahr für Jahr Gedenkfeiern stattfinden, dass die Zerstörungen nicht weiter voranschreiten. Sie engagierten sich gegen die Widerstände, aber schlussendlich hatten sie großen Erfolg. Wir sind ihnen dafür dankbar, dass sie Hüter des Ortes sind.

 

Wird sich jetzt die Regierung darum kümmern?

 

Die Partei Die Grünen – Grüne Alternative hat eine parlamentarische Interpellation initiiert. Am 13. November 2019 richtete die Grünenabgeordnete Eva Blimlinger eine umfassende Anfrage zu Gusen an den Innenminister. Noch vor der Bildung der neuen Regierungskoalition rief sie am 9. Dezember in Reaktion auf Morawieckis Rede zum Ankauf des Areals auf, ohne auf die neue Regierung zu warten.

 

Viele Grünenpolitiker haben ein anderes Verhältnis zur österreichischen Geschichte im Zweiten Weltkrieg als die Leute von der Freiheitlichen Partei (FPÖ), die vormaligen Koalitionäre von Kanzler Kurz’ ÖVP.

Die jetzige Regierung hat tatsächlich zu erkennen gegeben, dass sie die Angelegenheit zu Ende führen und eine Lösung im Sinne der Erwartungen vieler europäischer Länder suchen will. Der deutlichste Hinweis findet sich im Regierungsprogramm, in dem sich die Koalition zum Ankauf des Lagergeländes verpflichtet. Wir setzen darauf.

 

Das ist nur eine kurze Passage: „Ankauf und Weiterentwicklung der Gedenkstätte Mauthausen-Gusen.“ Gut, dass sie enthalten ist, aber ist das nicht ein wenig unverbindlich?

 

In der Tat ist das ein sehr kurzer Passus, aber er belegt einen Umbruch. Er belegt, dass Österreich die Vernachlässigungen und Versäumnisse aufholen möchte. Und ein würdiges Gedenken will. Wir hoffen, dass jetzt Entscheidungen fallen, etwas in der Sache zu unternehmen. Ich höre entsprechende Meinungen bei informellen Gesprächen auf unterschiedlichen Ebenen. Und dass dies in Zusammenarbeit mit anderen Ländern geschieht. Polen hat viel Erfahrung in Sachen historischen Gedenkens, aber es gibt weitere europäische Länder, die darin auch erfahren und zur Zusammenarbeit bereit sind.

Wir hoffen, dass in der allernächsten Zeit nicht nur Parzellen, sondern alle Objekte des KZ Gusen vom Staat angekauft werden. Und dass eine würdige Dokumentations‑ und Opfergedenkstätte entstehen wird.

Denn das war kein Konzentrationslager. Das war ein Vernichtungslager. Wir haben das im Gespräch mit den Österreichern schon seit Jahrzehnten gesagt. Wie viele Polen sagen, war das ein zweites Katyn. In Gusen kam Polens Elite um. Tausende Angehörige der polnischen Intelligenz. Ingenieure, Professoren, Lehrer, Richter, Polizisten, Offiziere, Ärzte… Das gibt diesem Ort eine besondere Dimension.

Gusen gehört den Opfern, die dort litten, ihr Leben verloren. Und ihren Familien. Deshalb fordern wir, dass diese Stätte internationalisiert und europäisiert wird.

 

Professor Stefan Karner aus Granz sagte mir, aufgrund neuer Quellen, Dokumente, Aussagen, Fotografien und Funde sei es notwendig, eine internationale Expertenkommission zu Gusen zu berufen. Er sagte auch, Gusen sei eine europäische Angelegenheit. Ist Ihnen und der polnischen Regierung diese Idee bekannt?

 

Gusen ist noch ein von vielen Geheimnissen umgebener Ort, wie Stefan Brauburgers ZDF-Dokumentation zeigt [„Die geheimste Unterwelt der SS“, noch bis zum 16. Januar 2021 abrufbar in der ZDF-Mediathek; A.d.Red.]. Darin sagt Professor Karner, viele Fakten seien noch unbekannt. Insbesondere, was die Stollen angeht, ein vielleicht einige zig Kilometer langes Labyrinth, das von tausenden Gefangenen in kurzer Zeit gebaut wurde, besonders von Technikern und Ingenieuren aus Polen. Es besteht die Annahme, dass es dort ein weiteres, unterirdisches Lager gab.

Das sind neue Fakten, bekannt aus britischen und amerikanischen Quellen. Wir gehen davon aus, dass sich diese Dokumente erhalten haben und sie jemand wiederfinden und publizieren wird. Die Annahme besteht, dass dort nicht nur Rümpfe von Messerschmitt-Düsenjägern gebaut wurden, sondern auch V2-Raketen, und dass an Nuklearwaffen gearbeitet wurde.

 

Und wie ist Ihre Meinung zu der Kommission?

 

Wenn jemand wie Professor Karner der Auffassung ist, es sollte ein internationales Gremium eingerichtet werden, sind wir auch dafür. In einem Schreiben einiger in Wien akkreditierter europäischer Botschafter fordern wir auch dazu auf, eine internationale Kommission zur Untersuchung der neuen Erkenntnisse zu berufen.

 

Wer sollte dafür zuständig sein?

 

Für den Anfang ließe sich sagen, der österreichische Innenminister, denn Gusen liegt im Verantwortungsbereich der österreichischen Regierung. Doch Wissenschaftler aus anderen Ländern würden die Gewähr bieten, dass die Kommission unabhängig, objektiv und aufrichtig arbeitet. Das bedeutet keineswegs, wir hätten kein Vertrauen in die österreichische Regierung. Wir meinen nur, dass Quellen in internationaler Zusammenarbeit sehr viel leichter aufgefunden werden könnten. Zudem fordern wir den Ankauf und die Sicherung der Parzellen und, uns die Machbarkeitsstudie und ein Bewirtschaftungskonzept vorzulegen.

 

Das Gespräch führte Aureliusz M. Pędziwol.

 

Jolanta Róża Kozłowska vertritt seit 2017 die Republik Polen in Österreich. Sie war zuvor polnische Generalkonsulin in München (1998—2002) und in Köln (2009—2013).

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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