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Vom Gulag nach Berlin: „Die Zahlen“ von Oleg Senzow

Regie führen auf Entfernung, aus dem weiten östlichen Sibieren, hinter Gittern sitzend, eingesperrt im Lager mit erschwerten Bedingungen. Ist das überhaupt möglich? Offensichtlich ja! Denn so ist ein starker Film über das Leben in einem totalitären System entstanden, der mit der Suggestivität seiner Bilder den Beschreibungen in Orwells Büchern in nichts nachsteht.

 

Innerhalb weniger Tage hatten das Berliner sowie Danziger Publikum die Gelegenheit, die Premiere des Filmes „Nomera“ des ukrainischen Regisseurs Oleg Senzow zu sehen. Die Weltpremiere fand in der deutschen Hauptstadt im Maxim Gorki Theater während einer Sondervorführung im Rahmen der Berlinale 2020 statt. In Danzig erfolgte die feierliche polnische Premiere im Europäischen Solidarność-Zentrum.

 

Der neue Film von Senzow ist eine Adaption seines Theaterstückes, das er 2011 geschrieben hat und das von der streng geordneten Welt von zehn Ziffern erzählt, in der plötzlich ein Fehler auftaucht. Zuerst wird die überraschende Wende der Dinge dadurch kompliziert, dass die Welt der Protagonisten strengen Regeln unterliegt, schließlich gibt sie den Impuls zum Umsturz der vorgefundenen Ordnung und zum Aufbau einer besseren Welt. Der Regisseur lässt den Zuschauer mit der Frage zurück, ob die neue Welt besser als die alte sein kann. Senzow sagt selbst über das Finale seines Filmes: „Das Ende muss als Warnung vor dem, was wir tun, verstanden werden, und dass die Revolution uns nicht immer das bringen muss, wofür wir gekämpft haben.“

 

Das Leben des Filmemachers Senzow wurde durch den Kopnflikt im Osten der Ukraine und die russische Annexion seiner Heimat, der Krim, für immer verändert. Schon bald nach der Invasion wurde er in seinem Haus in Simferopol auf der Krim von dem Föderalen Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation verhaftet und wegen Planung terroristischer Aktivitäten angeklagt. Damit teilte er das Schicksal vieler Menschen, die in dieser Zeit wegen des Widerstandes gegen die Abtrennung der Krim von der Ukraine verhaftet wurden. Nach einem Prozess in Russland wurde er wegen Terrorismus zu zwanzig Jahren Strafkolonie im fernen sibirischen Osten verurteilt. Schnell wurde er neben Nadija Sawtschenko zum Symbol für den Widerstand und zum Gewissenshäftling. Für die Entlassung des zu Unrecht verurteilten und eingesperrten ukrainischen Regisseurs wurde sich auf der ganzen Welt ausgesprochen, insbesondere protestierten Filmemacher. In einer Kampagne für eine sofortige Freilassung schrieben viele Künstler an die Regierung Russlands, darunter Agnieszka Holland, Aleksandr Zjagincev, Aleksandr Sokurov, Andrzej Wajda, Krzysztof Zanussi, Daniel Olbrychski, Pedro Almodóvar und Wim Wenders. Senzow selbst war aus Protest gegen seine Festnahme und rechtswidrige Haft sowie die von anderen in einen Hungerstreik getreten. Nach fünf Jahren Gefängnis mit erschwerten Haftbedingungen kam er (im September des vergangenen Jahres) durch einen Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine wieder frei.

 

Unter diesen extremen Bedingungen entstand der Film „Nomera“, der für den gefangenen Regisseur eine Art „Rettungsinsel“ war, die ihm seine Freunde anboten. „Als wir vorschlugen, dass Oleg für den Film aus dem Gulag selbst Regie führen soll“, sagt Produzent Dariusz Jabłoński, „hat niemand, allen voran Oleg selbst, daran geglaubt, dass das gelingen kann. Diese beispiellose Mobilisierung der Filmwelt, die Oleg von Sibirien aus leitete, war von Ukrainern und Polen angestoßen worden. Schon bald kamen andere dazu. Die Entstehung dieses außergewöhnlichen Filmes ist Ausdruck unserer Unterstützung für Oleg Senzow, die schließlich zu seiner Entlassung geführt hat. Sie ist auch die Manifestation unseres Glaubens an die Freiheit der Künstler, denen keine Gitter den Mund verschließen können; unseres Glaubens an die Macht unserer Ideale, eines Glaubens, der stärker ist als die größten Kräfte und Großmächte, des Glaubens an den freien schöpferischen Geist.“

 

Dank der Unterstützung der polnischen Filmwelt ist es gelungen, die Mittel für die Filmproduktion zusammenzubekommen. Und die Filmmaschinerie setzte sich sofort in Bewegung. Über seinen Anwalt – die einzige Person, mit der Senzow im Gefängnis Kontakt haben durfte – übermittelte er alle Details, die mit der Verfilmung seines Theaterstückes in Zusammenhang standen. Auf diese Weise hat er in über hundert Briefen die Besetzung der Rollen und die Szenografie akzeptiert, und sogar genaue Hinweise gegeben, wie einzelne Szenen gespielt werden sollen. Alles musste vor der Gefängnisleitung und den Wachmännern geheim gehalten werden. Die detailliert beschriebenen Anweisungen am Set setzte der ukrainische Regisseur Akhtem Seitablajew um. Keinen geringen Anteil an der Entstehung des Films hatten polnische Künstler. Kameramann war Adam Sikora („Essential Killing“), für den Schnitt war Jarosław Kamiński („Cold War – Der Breitengrad der Liebe“, „Ida“) zuständig, für den Ton Wojciech Mielimąka („Mr. Jones“) und Bartłomiej Woźniak („Was bleibt“).

 

Premiere im Europäischen Solidarność-Zentrum in Danzig

Die Entscheidung für Danzig und das Europäische Solidarność-Zentrum für die polnische Premiere war kein Zufall. Oleg Senzow hatte die Stadt nämlich zum ersten Mal im Oktober 2019 besucht, gleich nach seiner Befreiung aus dem russischen Lager. Damals hatte er gesagt: „Das Anhäufen von Groll ist eine Eigenschaft schwacher Menschen. Wenn man ein starker Mensch sein will, muss man verzeihen.“ Grund seines Besuches war die Entgegennahme des „überfälligen“ Danziger Neptun-Preises, der ihm schon im August 2019 verliehen worden war, als er sich noch im Straflager befand. Er gewann den Preis und wurde symbolischer Held des Danziger Festivals Solidarity of Arts für seine kompromisslose Haltung, mit der er eindeutig zeigt, wo das Gute und wo das Böse ist, und den Beweis dafür liefert, dass es sich lohnt, für die Wahrheit und für das Gute den höchsten Preis zu zahlen.

 

Vor der Filmpremiere in Danzig hat Amnesty International die Aktion Amnesty-Briefmarathon für Denis Kaschuk durchgeführt. Eine ähnliche Aktion hatte Amnesty für Senzow gemacht, als dieser in dem russischen Lager war, und dazu aufgerufen, die Petition für die Freilassung des Regisseurs zu unterschreiben.

 

Denis Kaschuk ist ein 42-jähriger Ukrainer und Politologe, der im Dezember 2019 auf der Krim verhaftet und eingesperrt wurde. Die Regierung wirft ihm terroristische Aktivitäten vor. Er wird im Untersuchungsgefängnis in Simferopol festgehalten. Die Familie hat keinen Kontakt zu ihm, und die Regierung behauptet, er selbst habe auf einen Anwalt verzichtet. Seine Nächsten befürchten, dass er gefoltert wird und in Lebensgefahr ist. Kommt einem das nicht bekannt vor?

 

 

„Nomera“ (2019) Ukraine / Polen / Tschechien / Frankreich, Drehbuch und Regie: Oleg Senzow, in Zusammenarbeit mit Akhtem Seitablajew; Kamera: Adam Sikora; Musik: Milosh Elich; Produzent: 435 Films und Apple Film Production; Dauer: 104 Minuten

 

(aus dem Polnischen von Antje Ritter-Miller)

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Piotr Leszczyński

Piotr Leszczyński

Piotr Leszczyński - Redakteur (DIALOG FORUM, Deutsch-Polnisches Magazin DIALOG), Redaktionssekretär der Danziger Zeitschrift "Przegląd Polityczny".

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