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Polnischer Wahlkampf 2020: Avatare in der Matrix oder vom Ende einer Epoche

Bis zu den Präsidentschaftswahlen in Polen sind es kaum noch zwei Monate. Aus den von verschiedenen Umfrageinstituten im Laufe des vergangenen Monats ermittelten Werten lassen sich bestimmte Schlussfolgerungen ziehen.

 

Erstens kann Amtsinhaber Andrzej Duda im ersten Wahlgang mit etwa 45%, im zweiten mit etwa 50% rechnen. Bei den Prognosen zum Ausgang der Stichwahl ist die statistische Fehlermarge zu berücksichtigen, es steht daher noch lange nicht fest, wer die Wahl gewinnen wird. Andrzej Duda besitzt keine starke Ausstrahlung auf diejenigen Wähler, die ihm nicht bereits im ersten Wahlgang ihre Stimme geben. Normalerweise ist es so, dass der Kandidat mit fast 50% der Stimmen im ersten Wahlgang hinterher auch so gut wie sicher die Wahl gewinnt, wenn der zweitplatzierte Kandidat keine 30% erreicht. Dennoch könnte in Polen in diesem Jahr der Amtsinhaber mit fast der Hälfte aller Stimmen im ersten Wahlgang die Wahl verlieren.

 

Die Präsidentschaftswahlen sind eigentlich eine Art Fortsetzung der Parlamentswahlen des Vorjahrs. In den vier Jahren seiner Präsidentschaft hat Andrzej Duda nichts getan, um sich irgend erkennbar von der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) abzusetzen; daher sehen ihn Anhänger wie Gegner weniger als Präsidenten denn als integralen Bestandteil des Herrschaftsapparates von PiS. Bei den letzten Sejmwahlen erzielte PiS 43,6%, also nicht sehr viel weniger als Dudas derzeitige Umfrageergebnisse.

 

Der zweite aus den Umfrageergebnissen zu ziehende Schluss ist, dass der rechte Flügel des politischen Spektrums ganz von PiS dominiert ist, während die rechtsextreme „Konfederacja“ (Konföderation) bei den Sejmwahlen 6,8% erreichte und ihr Präsidentschaftskandidat Krzysztof Bosak auf Umfrageergebnisse zwischen vier und fünf Prozent kommt. Demgegenüber ist auf Seiten der Opposition eine deutliche Schwächung der liberalen Bürgerplattform (PO) zu verzeichnen, die nicht zu ihrer alten Form aus Zeiten der Regierung Donald Tusks zurückfindet. Bei den Sejmwahlen trat die Bürgerplattform in einem Wahlbündnis unter dem Namen „Bürgerkoalition“ an und erreichte 27,4%. Dies entspricht ziemlich genau den Umfragewerten der PO-Kandidatin Małgorzata Kidawa-Błońska.

 

Der dritte Schluss ist, dass die Opposition entgegen dem Anschein nicht so stark durch Zersplitterung geschwächt ist, wie vielleicht anzunehmen wäre. Während die weitaus meisten Wähler der Oppositionsparteien im ersten Wahlgang ihren bevorzugten Kandidaten zu wählen beabsichtigen, werden sie in der zweiten Runde bereits für jeden Oppositionskandidaten stimmen. Die Unterschiede der Stimmenanteile sind bei den einzelnen Kandidaten verschwindend gering; dabei gewinnt Duda den Umfragen nach im Einzelvergleich mit jedem Oppositionskandidaten, und zwar 52 zu 48 Prozent in einer Stichwahl mit Małgorzata Kidawa-Błońska, 51 zu 49 Prozent in einer Stichwahl mit Szymon Hołownia und 54 zu 46 Prozent mit Władysław Kosiniak-Kamysz. Ein deutlich besseres Ergebnis würde Duda in der Stichwahl nur dann erzielen, wenn er gegen den Kandidaten der Linken oder der Konföderation anträte, was jedoch praktisch ausgeschlossen ist.

 

Die vierte Schlussfolgerung ist, dass die Linke nach Jahren des Dahinvegetierens außerhalb des Parlaments zwar ihr Comeback vollzogen hat, aber vorerst noch nicht imstande ist, mit der in der Opposition immer noch beherrschenden Bürgerplattform zu konkurrieren. Außerdem gibt es ein solides Comeback der Polnischen Volkspartei (des PSL), deren Chef Władysław Kosiniak-Kamysz sich als einer der geschicktesten polnischen Politiker bewährt. Denn seine Partei drohte, in die Bedeutungslosigkeit zu versinken, aber alles weist darauf hin, dass es ihm gelungen ist, das PSL von einer typischen Bauernpartei in eine gemäßigt-konservative Partei umzuwandeln, die auch städtische Wähler für sich gewinnen kann.

 

Höchstwahrscheinlich wird dagegen die Wahlkampfstrategie des Fernsehstars Szymon Hołownia fehlschlagen, der versucht, sich in etwa an der Stelle zu positionieren, an der sich die Bürgerplattform befindet.

Alle Kandidaten führen einen eher schwerfälligen Wahlkampf. Sie verhalten sich, als werde nicht gewinnen, wer sich besonders kämpferisch, in Sachfragen gut vorbereitet und charismatisch präsentiert, sondern wer weniger Fehler macht. Von einer Sachdebatte fehlt jede Spur. Der Ton des Wahlkampfs wird in erster Linie von ein oder zwei Pseudoskandalen, von Fake News und mehr oder weniger gelungenen Memes bestimmt. Die meisten Wahlkampfteams vermeiden jedes Gespräch über programmatische Details, während sich die Kandidaten in der Öffentlichkeit mit eher dürftigen Antworten hervortun. Viele Kandidaten scheinen von Fragen zu echten Problemen geradezu überrascht. Andererseits lässt sich aber auch nicht erkennen, dass es die Wähler zu würdigen wissen, wenn beispielsweise Kosiniak-Kamysz einen stärker themenorientierten Wahlkampf zu führen versucht.

 

Auch viele Medien spielen eine negative Rolle. Diese sind größtenteils in der innerpolnischen Auseinandersetzung selbst zur Partei geworden und haben aufgehört, die Kernaufgaben auszuüben, die in einer Demokratie den Medien zufallen sollten, nämlich unparteiische Beobachter zu sein und in der Politik den Dingen auf den Grund zu gehen. Die Wahlkampfteams sehen sie als Werkzeuge und unterscheiden nach regierungsnahen und ‑kritischen Medien. Wenn sich ein Journalist schon einmal an sein Berufsethos hält, Unparteilichkeit beweist und auf konkreten Antworten beharrt, zeigen sich viele Kandidaten davon unangenehm überrascht.

 

Andrzej Dudas Team tut alles, um bereits im ersten Wahlgang zu gewinnen, wobei das öffentliche Fernsehen aktive Wahlkampfhilfe leistet und dabei alle Regeln eines anständigen Journalismus bricht. Nicht weniger Beihilfe erhält er von der Opposition selbst, die offenbar schon nicht mehr an den eigenen Sieg glaubt, obwohl doch die Umfragewerte bei der Stichwahl einen völlig offenen Ausgang sehen. Auf Seiten der Opposition fehlen jedoch Energie, Ideen, Organisation, Professionalität und Kampfwille. Im Vergleich zu diesen Schwächen macht Dudas Team einen geradezu professionellen Eindruck. Aber hier ist auch eine Unsicherheit zu bemerken, die noch vor wenigen Jahren bei der politischen Rechten undenkbar gewesen wäre. Der Präsident versucht, sich entgegen den Tatsachen als selbständiger politischer Akteur zu inszenieren und seinen Mangel an Charisma durch häufige öffentliche Äußerungen zu überspielen, doch hinterlässt er damit einen unauthentischen und künstlichen Eindruck.

 

Das Coronavirus ist in diesem Wahlkampf die große Unbekannte. Wenn die Regierung nicht noch irgendwelche schweren Fehler begeht, wird Duda höchstwahrscheinlich sogar von der Epidemie profitieren können. Denn indem die Regierungspartei ihren Informationsvorsprung nutzt und die immer noch gut angesehenen Streitkräfte zum Kampf gegen die Ausbreitung der Epidemie einsetzt, kann sie mit dem Nachweis von Entschlossenheit, Gelassenheit und Handlungsfähigkeit punkten. Es tut auch seine Wirkung, dass die Polen dazu neigen, sich zwar unablässig miteinander zu streiten, sich jedoch im Augenblick der Gefahr selbst um eine unbeliebte Regierung zu sammeln.

 

Es wirkt sich ebenfalls zum Vorteil der Regierung aus, dass die Opposition nach wie vor kein Konzept hat, wie sie auf die Sozialprogramme von PiS reagieren soll. Sie steckt in ihrer Meinungsblase und hat immer noch nicht mitbekommen, dass viele Menschen in Polen in den letzten dreißig Jahren in Armut gelebt haben. Die Opposition hätte den polnischen Erfolg zu ihrem Narrativ machen können, wäre es nicht so, dass dieses Narrativ über die Jahre mit der falschen und für viele herabsetzenden Behauptung einherging, jeder habe die Chance, sich am eigenen Schopf aus der Armut zu ziehen, was aber nirgendwo den Tatsachen entsprach. Diese Behauptung hatte aber zur Folge, dass zwischen den liberalen Eliten und einem großen Teil der Gesellschaft ein mentaler Riss eingetreten ist. Der Erfolg von PiS geht nicht zuletzt auf die von der Partei in Gang gesetzten Sozialtransfers zurück, aber noch wichtiger ist, dass die Rechte den ärmeren Polen ein Gefühl von Würde zurückgegeben hat. Aus diesem Grund bleiben die Versprechungen der Opposition, noch umfassendere Sozialprogramme aufzulegen, ohne Wirkung, denn sie wird unverändert als wirklichkeitsfremd und als Repräsentantin der Oberschicht gesehen.

 

Es ist übrigens ein trauriges Paradox, dass die wichtigsten Parteien sich einerseits an ihre getreusten Anhänger wenden, andererseits aber völlig ideenlos sind. Doch bleibt ihnen der harte Kern ihrer Anhänger treu, denn dank der von beiden Seiten betriebenen Propaganda lebt dieser Kern in der Matrix und stimmt für Avatare. Die Wahlstrategien zielen weniger darauf ab, neue Wähler für sich zu gewinnen, als vielmehr die eigenen Anhänger zu mobilisieren und durch deren erhöhte Wahlbeteiligung Wahlen zu gewinnen. Zwar behauptet alle Welt, man gewinne in der Demokratie Wahlen, indem man Wähler aus der Mitte davon überzeugt, ihre Meinung zu ändern, doch die Logik des in Polen betriebenen Kampfes um jeden Preis führt dazu, dass heute kaum jemand noch um den gemäßigten Wähler wirbt und die meisten Kandidaten, darunter der Amtsinhaber und die Kandidatin der PO, eher auf weitere Polarisierung setzen. Die zwei größten Parteien verhalten sich so, als ob die Gegenseite und deren Wähler eines Tages wie durch eine wundersame Fügung einfach verschwinden würden. Helmut Schmidts Sentenz: „Die Demokratie lebt vom Kompromiss. Wer keine Kompromisse machen kann, ist für die Demokratie nicht zu gebrauchen“ scheint in der polnischen Politik nicht zu gelten. Hier glänzt der Kompromiss durch völlige Abwesenheit, so dass das Land allmählich den Eindruck aufkommen lässt, das Projekt der Demokratie sei womöglich noch gar nicht vollendet. Darüber sind sich die politische Rechte und die liberalen Eliten übrigens einig, allerdings mit dem Unterschied, dass die Rechte meint, die polnische Demokratie der vergangenen dreißig Jahre sei eine reglementierte Demokratie unter faktischem Debattenausschluss der konservativen Stimme gewesen, während die liberalen Eliten wiederum die Demontage des Systems durch PiS beklagen und die Hände ringen, dass sich dieses nicht als hinreichend resistent gegen die autoritären Gelüste der Rechten bewiesen hat. Demnach beziehen sich die Vorwürfe der Rechten an die liberale Elite auf die Vergangenheit, diejenigen der liberalen Elite an die Rechten auf die Gegenwart. Dagegen spielt die Zukunft in Konzepten und Debatten überhaupt keine Rolle.

 

All das führt dazu, dass der Wahlkampf, aus einer gewissen Distanz betrachtet, den Eindruck weckt, als finde er in einem Land statt, dessen politisches System auf sein Ende zusteuert. Ihrem Ende nahe sind die selbstreflexionsunfähigen liberalen Eliten ebenso wie eine Rechte, die in ihren Ressentiments befangen bleibt. Vielleicht bringt das Bewusstsein der eigenen intellektuellen Impotenz mit sich, dass die stärksten Parteien nur um die Stimmen der bereits Überzeugten werben; denn sie haben begriffen, dass sie neue Wähler auf keinen Fall werden überzeugen können. Wenn es sich aber so verhält, dann liegt die Macht an der Weichsel tatsächlich auf der Straße. Und es ist nicht nachzuvollziehen, wieso sich niemand danach bücken will.

 

Nur die Coronavirus-Pandemie könnte die politische Szene derzeit gründlich durcheinanderwerfen. Ähnlich wie Italien hat Polen drastische Maßnahmen getroffen: Grenzen, Schulen, Restaurants, Bars und Clubs wurden geschlossen, und zwar zu einem Zeitpunkt, da die Zahl der Infizierten noch relativ gering ist. Sicherlich trägt die Regierung damit auch dem Umstand Rechnung, dass Polens öffentliche Infrastrukturen immer noch mangelhaft sind. Doch kommen die Vorkehrungen bei den Wählern gut an und erhöhen die Zustimmungswerte von Präsident und Regierungspartei. Die Opposition dagegen wirkt orientierungslos, schlimmer noch, sie scheint auszublenden, dass die Menschen in bedrohlichen Zeiten Beruhigung erwarten statt Wahlkampf, den die Opposition trotz allem fortzusetzen versucht. Zum jetzigen Zeitpunkt ist zu erwarten, dass Präsident Andrzej Duda und sein Lager aus der Krise gestärkt hervorgehen. Sollten sich in Polen jedoch Szenen wie in Italien abspielen, wäre nicht nur ein abrupter Untergang des Regierungslagers wahrscheinlich, sondern überhaupt die Auflösung der gewohnten politischen Konstellationen.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 

 

 

 

 

 

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Witold Jurasz

Witold Jurasz

Journalist bei der Onlineplattform Onet.pl und der Tageszeitung Dziennik Gazeta Prawna, Vorsitzender des Zentrums für Strategische Analysen, ehemaliger Mitarbeiter der Investitionsabteilung der NATO, Diplomat in Moskau und Chargé d’affaires der Republik Polen in Belarus.

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