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Stettin: zwischen Western und Epos

Gespräch mit dem Schriftsteller Krzysztof Niewrzęda über seinen neusten Roman

 

Małgorzata Bartula: „Confinium. Szczecińska opowieść“ [Confinium. Eine Stettiner Erzählung] ist ein Buch über einen sehr schwierigen Zeitabschnitt der Geschichte Szczecins vom Ende Nazideutschlands, als die Stadt noch Stettin hieß, bis zu den Anfängen der Volksrepublik Polen im sowjetischen Besatzungsgebiet in Westpommern. Also die Zeit von wann bis wann genau?

 

Krzysztof Niewrzęda: Den Namen Volksrepublik Polen gebrauchen wir hier natürlich nur der Einfachheit halber. Denn Polen nahm diesen Namen offiziell erst 1952 an. In den Jahren 1944 bis 1952 hieß das Land immer noch einfach Republik Polen und wurde zu Propagandazwecken „Volkspolen“ genannt. In diesen Zeitabschnitt fallen natürlich die Anfänge der Volksrepublik. In „Confinium“ beschreibe ich aber, was sich in Stettin und Umgebung zwischen August 1944 und Juli 1946 abspielte. Als ein Erinnerungsrückblick einer weiblichen Figur kommt aber auch das Stettin der Vorkriegszeit mit seiner Atmosphäre vor.

 

Dieser Abschnitt in der Geschichte Stettins bildet ein dichtes Gewebe von Konfrontationen, Ereignisverdichtungen, Verschiebungen, die bei Kriegsende und infolge der neuen Aufteilung Osteuropas nach dem Krieg abliefen.

 

Ja klar. Das war eine Ausnahmesituation für Stettin. Zumindest seit 1944, denn damals begannen die Flächenbombardements der Stadt, bei denen sich im Luftraum über Stettin gleichzeitig hunderte amerikanische oder britische Bomber befanden. „Confinium“ setzt mit der Beschreibung eines solchen Bombenangriffs ein, die sich wohlgemerkt ganz auf historische Quellen stützt. Bevor ich mit dem Schreiben begann, habe ich mich mehrere Jahre lang eigentlich ausschließlich mit Recherche befasst. Ich las und trug Bücher und Presseausschnitte aus der Zeit zusammen, sprach mit den sogenannten Pionieren [d.h. mit den polnischen Erstsiedlern in den vormals deutschen Gebieten; A.d.Ü.]. Von dem, was sie zu berichten hatten, findet sich viel in „Confinium“ wieder, entweder als Zitat oder literarisch umgestaltet zu Dialogen und Erzählerrede. Solch einen Charakter haben auch die Schilderung des in Trümmern liegenden Stettin wie auch die Fragmente, in denen der Alltag von damals dargestellt wird. Zuerst der Alltag in der Schlussphase des Kriegs, als die Hauptfigur in einem Dorf bei Stettin lebt und kurz darauf die brutale sowjetische Besatzung beginnt. Meine Beschreibung basiert auf Erinnerungsberichten von Deutschen. Diese Berichte habe ich auch herangezogen, um die Realität im Stettin der Nachkriegszeit darzustellen, wo anfangs Hunger und Angst vorherrschten. Schießereien, Morde und Vergewaltigungen waren allgegenwärtig. Es grassierten Banden von Deserteuren und Plünderern. Und es kam zu Auseinandersetzungen zwischen den Nationalitäten. Natürlich waren auch die Berichte polnischer Repatrianten und das „Tagebuch“ Piotr Zarembas sehr hilfreich für meine Darstellung.

 

Des ersten polnischen Stadtpräsidenten von Stettin…

 

Ja genau. 1945 hielt er die wichtigsten laufenden Ereignisse fest. Ich hatte für mein Buch also eine gute Quellengrundlage. Deshalb ist „Confinium“ in großen Teilen eine historische Reportage. In vielen Szenen treten übrigens wirkliche historische Personen unter ihrem richtigen Namen auf. Die Vorgänge entsprechen den Tatsachen, etwa wie die Verwaltung von Stettin zuerst den Polen, dann wieder den Deutschen und schließlich wieder den Polen übergeben wurde, wie aus Stettin eine freie Stadt unter sowjetischer Kontrolle gemacht werden sollte. Beschrieben werden auch die bewaffneten Überfälle auf Züge in Gumieńce (zu deutscher Zeit der Stadtteil Scheune), die Besuche Mikołajczyks und Bieruts und alle anderen öffentlichen Ereignisse. Darunter auch das große Stettiner Pfadfindertreffen von 1946 unter dem Motto „Wir halten Wacht an der Oder“.

 

Wie bist du auf die Idee zu dem Roman gekommen? Welche zentralen Aspekte des Romans waren für dich das vorherrschende Motiv: die Geschichte der Stadt, aus der du stammst, oder doch eher das Heranwachsen in Zeiten des Regimes und der Zerstörung? Oder war es vielleicht Liebe und Erotik als Utopie von Sicherheit und Erfüllung? Vielleicht habe ich jetzt noch ein Thema ausgelassen?

 

Den ersten Impuls dazu hatte ich 2003, als ich über Stettin einen Essay für das Deutsch-Polnische Magazin DIALOG schrieb. Darin erwähnte ich die Eigentümlichkeit, dass es in der Stadt im Vergleich mit anderen polnischen Städten ein Überangebot an patriotischen Straßennamen gibt. Die Stettiner verspürten also offenbar das große Bedürfnis, einen Ersatz für kulturelle Kontinuität und Verbundenheit mit dem Mutterland zu schaffen, wie man damals sagte. Weil nichts in ihrer Umgebung mit polnischer Tradition zu tun hatte. Dazu kam, dass sie auch keine Familienbande mit der Stadt verknüpften, woher ein Gefühl von aus Entwurzelung rührender Anonymität kam. Denn die Menschen, die sich in Stettin niederließen, stammten aus allen Regionen Vorkriegspolens. Im Allgemeinen waren das sehr risikobereite Leute. Ihre Bekannten und Familienangehörigen waren normalerweise keine solchen Desperados. Viele blieben sogar in ihrer Heimat jenseits der neuen Ostgrenze. Andere wählten einen freundlicheren Ort. Außerdem ließ sich in Stettin keine Intelligenz aus Lemberg oder anderswoher nieder wie in Breslau. In Stettin herrschte also der Wilde Westen. Und genau das hat mich besonders interessiert.

 

Das war ein Thema, das ich genauer erkunden wollte. So beschloss ich, vor dem Hintergrund authentischer Ereignisse einen Abenteuerroman zu schreiben, teils einen Thriller. Und ich denke, dass mir das gelungen ist. Auch wenn „Confinium“ vor allem ein Bildungsroman ist, der großteils als historische Reportage daherkommt. Der zweifellos wichtigste Aspekt, abgesehen von der Geschichte meiner Heimatstadt, war für mich daher, wie das Individuum in schwierigen Zeiten bestehen kann. Daher ist die Hauptfigur ein Jugendlicher und sein Heranwachsen ist das Leitmotiv, die Liebe spielt dabei eine wesentliche Rolle.

 

Welche Rolle spielten für deine Themenwahl die damalige Zeit und der Ort, an dem du warst?

 

Ich könnte behaupten, sie spielten überhaupt keine Rolle. Aber wenn ich nicht nach Berlin gezogen wäre, hätte ich Basil Kerski nicht kennengelernt, der bei mir den Stettin-Essay für den DIALOG in Auftrag gab.

 

Du hast den Titel „Confinium“ gewählt, was eine reale wie auch eine Grenze im übertragenen Sinne meint. In welchem Sinn genau verwendest du den Begriff in dem Roman?

 

Sowohl im wörtlichen wie im metaphorischen Sinn. Denn tatsächlich steht confinium für „Grenze“, „Grenzlinie“, „Grenzgebiet“, was sich unmittelbar auf Stettins Ort auf der Landkarte bezieht. Confinium bedeutet aber auch „Umgebung“, „Nachbarschaft“, „Übergangsetappe“. Der Begriff konnotiert also auch eine Koexistenz. Die Koexistenz all der Nationen, die in der frühen Nachkriegszeit die Stettiner Gesellschaft bildeten: Deutsche, Russen, Polen, Juden; gerade für diese war Stettin eine Durchgangsstation. Vor allem wegen der Unsicherheit. Denn die galt für alle Einwohner der Stadt. Und sei es nur aus dem Grund, dass niemand wusste, ob die Stadt deutsch, polnisch oder sowjetisch sein würde – wie Königsberg. Es gibt noch eine weitere Bedeutung von confinium – „Ende“. Das Ende der Dauer von etwas. Also sicher des Kriegs. Aber auch in Bezug auf die Geschichte der einzelnen Figuren, das Ende des Lebens, des Aushaltbaren, der Geduld, der Demut, des Anstands, der Unschuld, des Glaubens. Und sicher das Ende der Jugend, was den Protagonisten angeht.

 

Ganz genau. Das ist ein historischer Roman oder eigentlich, wie du sagst, großteils eine historische Reportage, auch ein Bildungsroman, wie du schon selbst sagtest. Die Hauptfigur Tadeusz ist ein junger Bursche, ein junger Mann, der am Ende der Nazibesatzung heranwächst, den es infolge verschiedener Verwicklungen in ein Dorf bei Stettin verschlägt und dann nach Stettin selbst. Im Laufe des Romans erfahren wir, dass Tadeusz vorher im Konzentrationslager war, aber wir lernen ihn inmitten der rauchenden Trümmer des bombardierten Stettins kennen, wie er als Gefangener unter SS-Aufsicht auf den Trümmerbergen arbeitet. Dort findet ein Freund von ihm die Figur der Sedina, die von diesem Moment an untrennbar mit Tadeusz’ weiteren Geschicken verbunden ist. Dort gräbt Tadeusz auch eine junge Deutsche aus den Trümmern aus, die überlebt hat. Man könnte sagen, dort beginnt die Geschichte seiner Reifung.

 

So ist es. Schon auf den Trümmerbergen erfährt Tadeusz derart heftige Eindrücke, dass sie auf die Formung seiner Persönlichkeit wirken müssen. Zumal er kaum an der Schwelle zum Erwachsensein steht und sich in einer Lebensphase befindet, in der sich seine Haltung zur Welt herausbildet. Er wollte ein Held sein, kämpfte gegen den Besatzer, studierte an der Untergrunduniversität, aber die Deutschen beraubten ihn seiner Würde, machten ihn zu einem verängstigten Feigling. Natürlich versucht er später, das zu ändern. Aber seine Erfahrungen machen ihm diese Veränderung nicht einfach, weil er noch viele weitere Demütigungen erlebt. Er gerät oft in Lebensgefahr, verliert Freunde. Aber er strengt sich an. Er kämpft darum, seine Selbstsicherheit zurückzugewinnen. Er nutzt Situationen dazu, erst seine innere Ruhe zurückzugewinnen, dann sich von seiner Waghalsigkeit oder seinem Übermut loszusagen. Manchmal sogar entgegen seiner Ängste, die ihn ständig begleiten. Eigentlich ringt er unablässig mit der Furcht. Anfänglich hilft bei diesem Kampf die Liebe zu der Frau, die er aus den Trümmern geborgen hat. Mit der Zeit hilft ihm dabei, seine Selbstsicherheit zurückzugewinnen, auch die Befriedigung, die er über die Kriegsniederlage der Deutschen empfindet, die ihn mit Verachtung behandelt haben. Später kommt die Freude über die wiedergewonnene Freiheit hinzu, aber auch das Bedürfnis nach Rache für alle Grausamkeiten, die er erfahren hat oder deren Zeuge er war. Aber er lässt sich an den Deutschen nicht allein deswegen aus, weil sie Deutsche sind. Ganz im Gegenteil. Häufig unterstützt er sie, wenn es notwendig ist. Schließlich wird er sicherlich zu einem anderen als er war, da er noch unter SS-Aufsicht auf den Trümmern arbeitete.

 

Dieses „Werden“, der Übergang von einer bestimmten Identität zu einer anderen, ist offenbar ein wichtiges Thema nicht nur mit Blick auf die Hauptfigur. Wie die Figur der Sedina von Hand zu Hand wandert – einer kleinen Schnitzerei, die das Aufblühen Stettins an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert symbolisiert und in deren Besitz Tadeusz gelangt, symbolisiert augenscheinlich die Wechselfälle der Stadt. Übrigens nicht allein, weil Stettin infolge der Grenzverschiebung zu einer polnischen Stadt wurde. Der Festlegung eines neuen confinium nach dem Krieg. Sondern auch, weil die Stadt in den dreihundert Jahren zuvor abwechselnd in schwedischen, kurz in französischen, dann lange Zeit in preußischen und deutschen Händen war.

 

Stimmt. Die Szene mit der Figur ist unmittelbar symbolisch. Von dem Augenblick an, da Stefan die „Verlorene“ findet. Dass die Sedina-Figur schließlich an Tadeusz gelangt, bedeutet so viel, wie ihm die Schlüssel der Stadt zu übergeben, in der er später lebt. Solche Andeutungen gibt es im Roman noch mehr. Es ist schließlich kein Zufall, dass die von Tadeusz in den Trümmern gefundene Frau Regina Stettinensis heißt. Nicht zufällig gibt sie ihm die Figur, verliebt sich in ihn, schenkt ihm Vertrauen und erzählt, wie das Stettin war, das es nicht mehr gibt. Sie weiht Tadeusz in die Stadtgeschichte ein, bereitet ihn darauf vor, ein rechtmäßiger Stettiner zu werden. Auch wenn er davon nichts weiß. Eigentlich ist klar, dass in der Beziehung zwischen Regina und Tadeusz sehr deutlich wird, wie Stettin sich in Szczecin verwandelt. Dieser Übergang von einem zum anderen. Also confinium als Übergangsphase.

 

Ein wichtiges Motiv ist die Frage nach Schuld, Wiedergutmachung, Rache und Recht zur Vergeltung. Der Held wägt die Schuld der Täter ab und gibt sich selbst schuld, wenn er Taten begeht, die er anschließend bedauert. Schuld ist hier eine vielfache und differenzierte, sie häuft sich an, wie sich die Farbschichten auf einem Bild ablagern; und wir, die Leser, schauen zu, wie es gemalt wird. Wie das confinium entsteht, das die am Anfang unseres Gesprächs erwähnte Koexistenz zum Ausdruck bringt. Formiert sich Tadeusz’ Bewusstsein rings um die Lösung der Schuldfrage und sein Verhalten dazu? Sagt Tadeusz in diesem Sinne: „Ich habe auch eine Verwandlung durchgemacht. Nur, dass ich irgendwie noch nicht daran glaube.“ Welche Verwandlung hat dein Held durchgemacht, und wieso glaubt er nicht daran?

 

Diese Verwandlung kommt hauptsächlich daher, wovon ich im Zusammenhang mit Tadeusz’ Persönlichkeitsbildung sprach. Vereinfacht gesagt, wie ein verängstigter Mensch zu einem furchtlosen wurde. Aber der Preis, den er dafür gezahlt hat, lässt ihn voller Zweifel zurück. Er meint, der Preis sei zu hoch gewesen. Es kommt ihm so vor, als ob er alles dazurechnen muss, was er durchgemacht hat. Also auch den Verlust seiner Angehörigen und Freunde. Außerdem fühlt er sich wegen seiner eigentümlichen emotionalen Isolation entfremdet, in die er verfallen ist, um sich vor dem Übermaß an Eindrücken zu schützen. Am stärksten belastet ihn jedoch, dass er immer wieder gegen seine eigenen Grundsätze verstoßen hat. Obwohl er weiß, er hätte vielleicht nicht überlebt, wenn er sich daran gehalten hätte. Zudem empfindet er Reue, nachdem er einen Racheakt vollzogen hat. Die von dir zitierte Äußerung macht er jedoch in einem Augenblick, da er noch nicht am Ende seiner Verwandlung angelangt ist. Die ist noch im Gange. Spätere Ereignisse werden auch noch wichtig sein. Bis zum endgültigen Ende. Bevor dieses eintritt, macht sich Tadeusz klar, dass er tatsächlich vor nichts mehr Angst hat. Dass ihm selbst der Tod keinen Schrecken mehr einjagt. Dass er ihm sogar willkommen sein mag. Und dass er ihn immer stärker verlockt. Aber er will diese Entscheidung nicht selbst treffen. So stellt er sich einer letzten Probe. Das Schicksal soll darüber entscheiden, ob er am Leben bleibt und darum kämpft, seinem Leben Sinn zu geben. Und erst in diesem Augenblick ist die Verwandlung abgeschlossen.

 

Du hast eben von Schicksal gesprochen. Was ist für dich das „Schicksal“? Besonders im Zusammenhang von Geschichte, schließlich sprechen wir von einem historischen Roman.

 

In dem Augenblick schwebte mir etwas vor, was ich auch genauso gut hätte Zufall nennen können, nicht unausweichliche Zukunft. Denn Tadeusz zeigt mit seinem Verhalten, dass er nicht an Vorherbestimmung glaubt. Mir will es so vorkommen, dass er überzeugt ist, alles hinge von der nach freiem Willen getroffenen Wahl ab. Daher kommen seine unablässigen inneren Kämpfe. Wenn er sich dem Schicksal überlassen will, dann in dem Sinne, in dem man ein Los kauft, um etwas zu gewinnen. Es handelt sich also um ein Glücksspiel. Offenkundig um eine Herausforderung des Glücks. Vor allem, weil Tadeusz bewusst das Risiko eingeht zu verlieren. Selbst zu sterben, obwohl er sich leicht verteidigen könnte. Zwar könnte man jetzt sagen, dass er so das Schicksal herausfordert. Wenn er jedoch ein Risiko eingeht, heißt das, dass er darauf Einfluss hat. Allgemein gesagt ist Schicksal für mich aber die Widerspiegelung von Ereignissen, die sich abgespielt haben, kein Drehbuch dafür. In Bezug auf die Geschichte besonders des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen kann man nicht viel mehr dazu sagen, als was Zofia Nałkowska dazu geschrieben hat: „Menschen haben Menschen dieses Schicksal bereitet.“

 

Was ist deiner Meinung nach auf der Ebene des individuellen Menschen ausschlaggebend für den Gang der Geschichte? Welchen Einfluss hat er, ist ein solcher überhaupt möglich?

 

Natürlich ist er möglich. Die Hauptfigur von „Confinium“ ist aktiv. Zudem kämpft sie um Gerechtigkeit. Und viele kämpften damals um Gerechtigkeit. Auf eigene Faust. Ohne Aufsehen. Wenn sie nicht gewesen wären, wären vielleicht die Deutschen im Stettin der Nachkriegszeit massenhaft als Vergeltung für die Grausamkeiten umgebracht worden, die ihre Landsleute im Krieg begangen hatten. Wir wissen nicht, wo das hätte hinführen können. Vielleicht hätten die Sowjets den Polen die Macht abgenommen und sie den Deutschen überlassen. Vielleicht hätte es kein Szczecin gegeben, sondern weiterhin nur Stettin.

 

Der Erzähler oder die Erzählerin – das bleibt unklar – trägt die Geschichte meist in einem sachlichen, beherrschten Tonfall vor. Obwohl von brutalen, schmerzhaften wie auch zarten und intimen Ereignissen berichtet wird, lässt er oder sie sich nie von Gefühlen hinreißen. Bis zum letzten Wort wird er oder sie nie zu einem Schiedsrichter, bewertet nicht, wir erfahren nicht, wer eigentlich erzählt…

 

Dies ist ein verborgener Erzähler. Irgendwie hat er sich selbst konstruiert, wie ein Demiurg. Eine gestaltlose Form. Vielleicht der Zeitgeist. So oder so ist er in der Tat emotionslos. Wie es sich für einen Demiurgen gehört. Ich mag so einen Erzähler, denn er verhält sich zu der vorgestellten Welt sehr distanziert. Er ist nicht engagiert, belehrt nicht. Das passt zu meinem Konzept, weil ich die Realität ausschließlich in dem Umfang beschreiben möchte, der notwendig ist, um den Kontext für die Helden meiner Geschichte zu schaffen. Ich vermeide Bewertungen. Das überlasse ich überwiegend dem Leser. Ich stelle lediglich die Dinge der Realität mit den Aussagen und Überlegungen meiner Figuren zusammen. Im Falle von „Confinium“ mit Tadeusz’ Überlegungen, mit seinen Gedanken, Vorstellungen und Träumen. So wird die Welt des Romans dem Leser ohne einen interpretierenden Vermittler präsentiert.

 

In deinen Texten lassen sich viele Bezüge zu anderen literarischen Werken, Kunst und Musik finden. Das Gewebe aus Intertextualität und Bezügen zwischen den Künsten ist deine Spezialität. So ist es auch in „Confinium“. An welchen liegt dir besonders viel, ohne hier schon zu viel zu verraten?

 

Mit Sicherheit kann ich sagen, dass die Hauptfigur von „Confinium“ aus zwei Gründen Tadeusz heißt und nicht anders. Erstens wegen des Bezugs zum „Pan Tadeusz“. Wie ich schon sagte, wollte ich einen Roman schreiben, der vor dem Hintergrund konkreter Ereignisse spielt, und zwar für das ganze Land umwälzender Ereignisse. Unter diesen Voraussetzungen wäre es schwierig, die für die Gesellschaft des Landes wichtigen Glaubensinhalte und Werte zu ignorieren. Und auch die Mythen, die in „Confinium“ unter anderem als Reginas Erzählungen und von Tadeusz angeführte literarische Zitate auftreten. Außerdem enthält „Confinium“ heroische, satirische, komische, idyllische, märchenhafte und unterhaltende Elemente. Und es ist ein Roman im Stil von Walter Scott. Er setzt sich also aus einer ganzen Reihe von Gattungen zusammen. Das bewirkt, dass die Anknüpfung an den „Pan Tadeusz“ keine Übertreibung darstellt. Aber der letztliche Grund, aus dem ich mich für den Namen des Helden entschieden habe, war Leben und Werk des Tadeusz Borowski. Das sind die für mich wichtigsten Anknüpfungspunkte. Sicher sind auch die Bezüge zu Wyspiańskis „Hochzeit“ wichtig, die in den Gesprächen der Gäste beim Silvesterball in Erscheinung treten. Und auch die Bezüge zu Żeromskis „Vorfrühling“, die sich durch den ganzen Roman ziehen. Es gibt auch Zitate aus der Populärkultur der 1940er Jahre, die es mir möglich machen, mich tiefer in diese Zeit hineinzuversenken. Davon gibt es viel.

 

Der Tonfall der Erzählung ist, wie schon gesagt, überwiegend sachlich und völlig neutral. Das kommt von der Sprache, die du benutzt und die – Überraschung! – keine Verrücktheiten unternimmt, nicht von der Leine gelassen wird, nicht anarchisch ist, wie das mit fantastischem Erfolg in deinen früheren Romanen geschah. In deinem poetischen Roman „Second life“ führt die Sprache geradezu ein unberechenbares Eigenleben. Es lässt sich sagen, sie ist der eigentliche Held des Buches. Und in deinem vorletzten Buch, „Zamęt“ [Verwirrung], ist Absonderlichkeit das wichtigste Charakteristikum. In „Confinium“ überwiegen dagegen zurückgenommener Satzbau und Ausdruck. Hast du nicht bedauert, auf diese verrückte Sprache, diese Raserei und dieses Sichgehenlassen zu verzichten?

 

Ich war immer schon der Meinung, die Form müsse mit dem Inhalt zu vereinbaren sein. Ohne Rücksicht darauf, ob die Form entscheidend für den Inhalt oder diesem untergeordnet ist. Denn die Form kleidet den Text nicht nur künstlerisch ein. Sie ist nicht nur entscheidend für die Uneindeutigkeit, durch die sich Literatur von Publizistik unterscheidet. Sie ist auch entscheidend für die Dynamik und Universalität der Aussage und die nichtkognitive Wahrnehmung von Literatur. Aber außerdem erleichtert die Form die Verständigung miteinander. Denn abhängig davon, wie wir mit jemandem sprechen, in welchem Ton – flüsternd, lautstark –, kann das, was wir sagen, ganz anders aufgenommen werden. Wenn wir wollen, dass das Gesagte so verstanden wird, wie es unsrer Absicht entspricht, müssen wir eine dazu passende Form wählen. Genauso ist es in der Literatur. Auch in „Confinium“. In dem Roman überwiegt ein zurückhaltender Erzählton, um das abzumildern, wovon die Rede ist. Aber er dominiert nicht, weil aufgrund der Zugehörigkeit zu vielen Gattungen sehr viele Passagen mit einem ganz anderen Ausdruck daherkommen. Obwohl auch die natürlich nicht anarchisch sind. Vor allem, weil die Sprache stark an den Geist der Zeit gebunden ist und eine andere Aufgabe hat als zum Beispiel in „Second life“. Neben den Realien ist sie nämlich das wichtigste Werkzeug zur Wiedergabe der zeitgenössischen Atmosphäre.

 

Die Sprache ist also auch ein Zeitdokument, ein Ergebnis deiner Recherchen?

 

In gewissem Sinne. Beim Lesen von Zarembas „Tagebuch“ oder der Zeitzeugenberichte, die gleich nach dem Krieg geschrieben wurden, und vor allem der Presse aus der Zeit, habe ich mir zum Teil diese Sprache zueigen gemacht. Sie ist nicht so sehr von der heutigen verschieden, und doch ist sie anders. Also wollte ich das nutzen. Nicht ganz und gar natürlich, aber soweit, dass die Sprache mehr ist als eine bloße Zutat. Ich habe aber ganz auf Ausdrücke verzichtet, die damals nicht benutzt wurden, weder in der Literatur‑ noch der Umgangssprache. Weil sie erst in späteren Jahrzehnten aufkamen.

 

Der Roman ist mit Reproduktionen erschienen von… ja wohl Bildern, denn es lässt sich kaum sagen, es handelt sich um Illustrationen. Diese Graphiken und photographisch-malerischen Kollagen von der Hand des Stettiner Künstlers Jarosław Eysymont illustrieren nämlich nicht eigentlich den Text, sondern erweitern ihm um zusätzliche Ebenen. Es sind Nahaufnahmen von Menschen und Räumen der Stadt, schwarz-weiß, grau. Sie sind schön, finde ich.

 

Die meisten dieser Arbeiten hat Jarek eigens für das Buch geschaffen. Ebenso den Umschlag. Und das sind tatsächlich photographisch-malerische Kollagen. Wir haben allerdings auch von ihm einige andere, frühere Arbeiten ausgewählt, weil sie ideal dazu passen. Übrigens hat mich genau dieser Bilderzyklus von Jarek, der sich von den anderen so unterscheidet, dazu angeregt, überhaupt an Illustrationen für „Confinium“ zu denken. Das hat sich mit den Jahren immer mehr herauskristallisiert, bei gemeinsamen Gesprächen und Plänemachen, bis wir es schließlich umsetzen konnten, was mich sehr freut.

 

Was meinst du, schaffen wir es beim nächsten Mal, der Geschichte zuvorzukommen? Es ist höchste Zeit, danach zu fragen, es steht schlecht auf der Erde.

 

Diese Geschichte muss nicht schlecht ausgehen. Aber das ist schon ein Thema für ein anderes Gespräch.

 

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 

“Confinium. Szczecińska opowieść” (2020) erschienen bei Wydawnictwo Granda. Das Gespräch erschien zuerst auf der Seite: www.wszczecinie.pl

 

“Confinium” von Krzysztof Niewrzęda ein Fragment gelesen von Małgorzata Bartula.

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Małgorzata A. Bartula – deutsch-polnische Autorin, Übersetzerin, Pädagogin. In ihrer Arbeit fokussiert sie sich auf engagierte Kunst, die Kraft des Kollektivs sowie Identität. Veröffentlichungen: Über Improvisation. Neun Gespräche mit Roberto Ciulli; Hamlet hat keinen Parkinson; ein Gespräch mit dem Schauspieler und Maler Manfred Hilbig sowie die Autobiografie von Piotr Lachmann in Kooperation mit dem Autor unter dem Titel Wie ich (nicht) vertrieben wurde. Ein Schelmenessay. Zur Website

 

 

Gespräch

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