Ich wohne in Cieszyn (deutsch: Teschen), nicht weit von der Freiheitsbrücke, die über den Grenzfluss Olsa verläuft. In diesem Jahr ist es hundert Jahre her, dass hier nach dem Ersten Weltkrieg infolge der Teilung des Teschener Schlesiens durch die Pariser Friedenskonferenz 1920 der Verlauf der Staatsgrenzen zwischen Polen und der Tschechoslowakei festgelegt wurde. Seit hundert Jahren plagen sich die Bewohner des Teschener Schlesiens und des in zwei Teile geteilten Cieszyn/Český Těšín mit dem absurden und tragischen Ballast der Staatsgrenze herum. Vor einem Jahrhundert waren die neue Grenze und die Brücken auf der Olsa in Cieszyn/Český Těšín auf beiden Seiten vom Militär besetzt worden. Jetzt stehen wegen der Covid-19-Pandemie wieder bewaffnete Militärpatrouillen auf den Brücken in Cieszyn. Es sind Fallschirmjäger aus Gliwice. Bis an die Zähne bewaffnet und mit dem Finger am Abzug, als würden sie einen terroristischen Anschlag erwarten. Auf der anderen Seite der Brücke stehen tschechische Soldaten, sie sehen nicht aus wie Terroristen und darüber hinaus sind sie Verbündete in der NATO. Die einen wie die anderen passen auf, dass sich das Coronavirus nicht ausbreitet, was in der Praxis bedeutet, dass der Verkehr über die Grenzbrücke eingestellt ist.
Die Zelte der Fallschirmspringer auf der Freiheitsbrücke in Cieszyn wurden neben den Gebäuden aufgestellt, die vom Zollamt übriggeblieben sind. Nachdem Polen 2007 der Schengenzone beigetreten war, wurden diese Gebäude, die die Zöllner und die Grenzwache zurückgelassen hatten, an Geschäfte mit billiger Bekleidung, Kinderwagen oder Lebensmitteln vermietet, die hier vor allem das tschechische Klientel anlocken wollen. An die tschechischen und auch slowakischen Kunden war auch der Markt am Ufer der Olsa ausgerichtet. Wegen der Coronavirus-Pandemie und der Schließung der polnisch-tschechischen Grenze Mitte März ist der Einzelhandel am Ufer, der den Kunden von der anderen Seite der Grenze anvisiert, fast vollständig zum Erliegen gekommen. Im polnischen Cieszyn betrifft das beispielsweise viele Baumärkte wie Castorama und Leroy Merlin, die im Hinblick auf die Kunden aus Tschechien und der Slowakei extra nahe der Grenze gebaut wurden.
Auf beiden Seiten der Grenze ist die Angst gewachsen und es wurden immer schärfere Restriktionen wie soziale Distanzierung, freiwillige Isolation und Zwangsquarantäne eingeführt. Die ersten Tage der Grenzblockade Mitte März erwiesen sich für die Einwohner des Olsagebietes als Alptraum wegen der Staus, die durch LKWs und Lieferwagen entstanden, die darauf warteten, den größten Grenzübergang in Cieszyń-Boguszowice passieren zu dürfen. Die LKWs blockierten die Hauptstraßen, die von Tschechien und der Slowakei zur Grenze führen. Im Olsagebiet kamen in der Gegend um Třinec Menschen nicht aus ihren Gehöften heraus und konnten nicht zur Arbeit ins Eisenwerk fahren, weil LKWs ihnen die Ausfahrt auf die Straße versperrten. In den darauffolgenden Tagen hatten es die Regierungen in beiden Ländern toleriert, dass Pendler aus Polen zur Arbeit auf der tschechischen Seite passierten, aber Ende März gerieten die meisten von ihnen in ein dramatisches Dilemma und mussten eine Entscheidung treffen: auf der tschechischen Seite bleiben und solange arbeiten, wie der Betrieb oder die Firma arbeitet, oder nach Polen zurückkehren und hier in die von der Regierung auferlegte zweiwöchige Quarantäne gehen.
Das Problem betrifft über 45.000 Pendler, die zur Arbeit nach Tschechien fahren oder laufen, hauptsächlich aus der Woiwodschaft Schlesien. Sie sind in über zweihundert Sektoren der tschechischen Wirtschaft angestellt, meistenteils in der Herstellungsindustrie (z.B. eine Fahrzeugfabrik der Marke Hyundai in Nošovice), im Bauwesen, in Transport und Logistik, im Handel und in der Bergbauindustrie (Ostrava-Karviná Kohlegebiet). Weil die Osterfeiertage bevorstanden, entschieden sich die meisten Pendler, nach Polen zurückzugehen, und in der immer unsicherer werdenden Situation selbst den Verlust des Arbeitsplatzes zu riskieren, was in vielen Fällen später leider auch eintrat. Die Menschen verloren von einem Tag auf den anderen ihre Einkommen und Arbeitsplätze, und polnische Firmen an der Grenze konnten in Tschechien keine Bestellungen liefern. Die Arbeitslosigkeit, die noch im Februar in der polnisch-tschechischen Grenzregion fast nicht vorhanden war, begann im April abrupt zu steigen.
Den schnellen Rückgang der Einnahmen wegen fehlender Kunden und Bestellungen aus Tschechien bekamen auch Arbeitnehmer im Handel, im Transport- und im Dienstleistungssektor zu spüren, die auf der polnischen Seite der Grenze tätig sind. Das Gespenst der Arbeitslosigkeit und des Bankrotts wurde schon bald zu realen Lebensdramen. Bei den Arbeitsämtern und Zentren für Soziale Fürsorge wurden immer mehr Anträge gestellt. Unruhe, Angst und Unsicherheit wandelten sich bald zu Zorn, der am Samstag, den 25. April, mehrere hundert Menschen an die Grenz-Ufermauer der Olsa zwischen der Freundschafts- und der Freiheitsbrücke in Cieszyn hat kommen lassen. Die Protestierenden forderten, die Grenzblockade aufzuheben und die freie Überschreitung für Pendler, die in Tschechien arbeiten, zu ermöglichen, und sie zeigten der polnischen Regierung im wahrsten Sinne des Wortes die rote Karte. Diese rhethorische Geste hatte zwar wenig Chancen, von den Regierenden in Warschau wahrgenommen zu werden, zeugt aber von einer eindeutigen Bewertung der Krisenpolitik der polnischen Regierung.
Außer der Losungen „Wir wollen Arbeit“ und „Grenzblockaden aufheben“ wurden auch andere Sprüche gegen die regierende Partei und ihre Spitzenpolitiker gerufen. Die Demonstration verlief friedlich, aber es war zu spüren, dass die Protestierenden ihre Verzweiflung nur mit Mühe zurückhielten. Die Aufrufe der Polizei, auseinanderzugehen und sich an den wegen der Pandemie gebotenen Abstand zu halten, wurden ignoriert. Es ist klar, dass an der Grenze Unruhe und Zorn entstanden sind, die schon bald schwer beherrschbare gesellschaftliche und politische Konsequenzen für das ganze Land haben könnten. Die Regierung in Polen sollte auch das in Betracht ziehen und schnellstens auf das rigorose Schließen der Grenzen verzichten.
Die Blockade der polnisch-tschechischen Grenze im Teschener Schlesien ist nicht nur ein Problem vieler tausender polnischer Pendler, die in Tschechien arbeiten. Ihre Verlängerung droht zu einer Katastrophe für die gesamte grenzübergreifende Zusammenarbeit zu werden, die sich seit 1989 so hervorragend entwickelt hat, die im 21. Jahrhundert gestärkt wurde durch die Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen den Visegrád-Staaten, und die seit dem Beitritt der Visegrád-Staaten zur Europäischen Union im Jahr 2004 auf Fördergelder aus EU-Programmen zählen kann. Die Kommunalregierungen an der Grenze und Nichtregierungsorganisationen erhielten gewaltige finanzielle Unterstützung für die Umsetzung unzähliger verschiedenartiger Projekte, und konnten somit ihre Arbeit erfolgreich weiterentwickeln. Unterdessen wurde wegen der Einführung der Grenzblockade aufgrund der Pandemie im März 2020 fast die gesamte grenzübergreifende Zusammenarbeit eingestellt. Die größten internationalen kulturellen Veranstaltungen in der Region wurden verschoben, doch die Verschiebung der Termine auf später bedeutet nicht nur, dass sie in diesem Jahr nicht mehr stattfinden, sondern auch, dass die Organisation dieser Veranstaltungen auch in den kommenden Jahren infrage steht, insbesondere was das bisherige Format betrifft.
Betroffen sind nicht nur Massenveranstaltungen wie beispielsweise das polnisch-tschechische Stadtfest Drei Brüder in Cieszyn und in Český Těšín, internationale Festivals wie Kino an der Grenze, das immer im Frühjahr ganze Massen an Liebhabern des tschechischen und slowakischen Filmes nach Cieszyn und Český Těšín gezogen hat, das Theaterfestiwal Bez Granic/Bez hranic [Grenzenlos], die folkloristische internationale Woche der Beskiden-Kultur, und viele andere, eher kleinere Veranstaltungen sowie natürlich das ganze Saisonangebot für Touristen. Denn gerade die Touristik mit der Möglichkeit, Abstecher auf die tschechische Seite zu machen, war bisher die Grundlage für Einkommen und für den Erhalt von Ortschaften in den Beskiden wie Wisła und Ustroń. Das brennende Problem der polnisch-tschechischen Grenze ist also nicht nur die Frage der Rückkehr polnischer Pendler zur Arbeit nach Tschechien, sondern das fundamentale Dilemma von Sein oder Nichtsein für die gesamte Grenzregion. Nur die Aufhebung der Grenzblockade, die Rückkehr zur Schengen-Normalität und zu einem Grenzverkehr, der an die wichtigen Verkehrsknotenpunkte in Mitteleuropa anschließt, kann das Teschener Schlesien vor katastophalen wirtschaftlichen und sozialen Folgen bewahren.
Die meisten Menschen im Grenzgebiet spüren instinktiv, dass Grenzen etwas Schlechtes sind, dass sie Narben von großen Zerrissenheiten und Leid sind, von Kriegen und Totalitarismen. Dreißig Jahre Erfahrung unter freiheitlichen Bedingungen, Demokratie und europäischer Integration haben hier eine neue gesellschaftliche, zivilisatorische und kulturelle Qualität hervorgebracht und einen positiven Gefühlszustand, von denen die europäischen Diplomaten, die vor hundert Jahren in Paris das Teschener Schlesien zwischen Polen und Tschechien aufteilten, nicht einmal geträumt hatten. Das ist der Erfolg der offenen Grenzen, ein Wert, der jetzt in Mitteleuropa besonders wichtig ist und der auf einer europäischen nationalübergreifenden Politik der Öffnung und der freien Bewegung von Menschen und Waren aufbaut. Diese EU-Garantien für die Freiheit, die Demokratie, die Rechtstaatlichkeit, die Vernunft und die nationalübergreifende Solidarität dürfen im polnisch-tschechischen Grenzgebiet nicht aufgegeben werden, und die Erfolge der offenen Grenzen dürfen nicht zugrunde gerichtet werden. Durch die Grenzschließung darf nicht menschliches Leid vermehrt werden.
(aus dem Polnischen von Antje Ritter-Miller)