Als handle es sich nicht um eine globale Krise, in der internationale Koordination und Kooperation dringend geboten wären, provoziert die Coronavirus-Pandemie bislang ganz im Gegenteil Konflikte und lässt gar einen Kalten Krieg zwischen den beiden weltweit größten Wirtschaftsmächten, den Vereinigten Staaten von Amerika und der Volksrepublik China, in den Bereich des Möglichen rücken.
Die Sitzungsperiode des Nationalen Volkskongresses (NVK), des chinesischen Parlaments, wurde von März auf Mai verschoben. Es sind neue, striktere rechtliche Regelungen für Hongkong angekündigt, es fehlt auch nicht an Drohgebärden gegenüber den „Separatisten aus Taiwan“. Das alles trägt nicht gerade zur Verbesserung der Atmosphäre bei.
Selbst der chinesische Außenminister Wang Yi sprach bei einer Pressekonferenz während der NVK-Sitzungen davon, am Rande eines Kalten Kriegs zu stehen. Daneben wiederholte er das seit dem Beginn des amerikanisch-chinesischen Handelskriegs im März 2018 unveränderte chinesische Mantra, dass China den Krieg zwar nicht wolle, ihn aber auch nicht fürchte.
Kollektive Disziplin?
Diese nicht gerade günstige Entwicklung stellt die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten vor völlig neue Herausforderungen. Denn China verfügt seit langem über eine entwickelte Strategie gegenüber Europa und der EU, eigentlich sogar über zwei. Die erste ist die im April 2012 von dem damaligen Premierminister Wen Jiabao in Warschau verkündete Formel von der Zusammenarbeit mit den postkommunistischen Ländern in Mittel‑, Ost‑ und Südosteuropa, bekannt als 16+1, im letzten Jahr nach der Einbeziehung von Griechenland auf 17+1 erweitert. Die zweite Strategie besteht in der im Frühjahr 2013 durch den chinesischen Präsidenten Xi Jinping im weltweiten Maßstab umrissene, aber gleichermaßen auf Europa abzielende Belt and Road Initiative (BRI, auch One Belt, One Road genannt). Wie bekannt, umfasst diese zwei neue, am Altertum orientierte „Seidenstraßen“ zu Lande und zu Wasser. Die Landroute führt über Kasachstan, Russland und Belarus bis in die wichtigsten europäischen Länder, die Meeresroute endet im griechischen Hafen von Piräus. Allerdings wurde 2019 eine Vereinbarung mit Italien unterzeichnet, um auch Triest einzubeziehen; die Chinesen sprechen bereits von Venedig.
China hat also konkrete Pläne und Strategien für Europa, wir hingegen in der EU und in ihren Mitgliedstaaten, vielleicht mit Ausnahme von Ungarn und dem Nichtmitglied Serbien, besitzen keine ähnlich ausgefeilten Konzepte für die Zusammenarbeit mit China, was für uns ein ausgesprochener Nachteil ist. Man kann also nur dem gegenwärtigen Außenbeauftragten der EU Josep Borrell zustimmen, der am 25. Mai bei einer Begegnung am Rande einer Konferenz der deutschen Botschafter vom Kontext wachsender Rivalität zwischen den USA und China sprach und davon, dass es daher umso größerer multilateraler Zusammenarbeit bedürfe. Er rief zu „kollektiver Disziplin“ im Verhältnis zu China auf.
Geschlossenheit – Fehlanzeige
Hier ist jedoch neben der fehlenden konsistenten Strategie noch eine weitere Schwäche der EU anzumerken, nämlich die vielfache Abwesenheit von Geschlossenheit und Einigkeit, so eben auch in der Chinapolitik. Denn die Chinesen handeln mit jedem Partner separate Abkommen aus, was sie ganz unverhohlen, geschickt und nach althergebrachter Gewohnheit tun, eben nicht mit allen zusammen am runden Tisch, so dass der Verdacht aufkommen mag, sie gingen nach dem Prinzip „teile und herrsche“ vor. Daher rühren die so unterschiedlichen politischen Ansätze zu Peking, wie sie in Berlin, Paris, Rom, Warschau oder Budapest vertreten werden.
Diese disparaten Ansätze der europäischen Regierungen zeigten sich auch in der Entgegnung auf den nicht ganz gelungenen, weil in erster Linie merkantilistischen und keineswegs großzügigen Versuch Pekings, in der frühen Phase der Covid-19-Pandemie mit dem Export von Schutzmasken Diplomatie zu betreiben. Diese unterschiedlichen Reaktionsweisen bekräftigen lediglich die vorstehende These. Es gab und gibt von europäischer Seite keine Einigkeit in Bezug auf China, und im Kontext der existentiellen Krise der EU, von der Borrell sprach, und den noch nicht abzuschätzenden Folgen der Pandemie wie auch des Brexit ist auch für die nahe Zukunft kaum mit einer geschlossenen Haltung der Europäer zu rechnen.
Dabei wäre eine solche gerade in diesem Moment besonders vonnöten. Denn in China gehen, vom Ausland weitgehend unbemerkt, gravierende Veränderungen vor sich. Nach fast vierzig Jahren Transformation und Reformen stoßen diese auf erhebliche innen‑ wie außenpolitische Schwierigkeiten. Das führte dazu, dass Premier Li Keqiang sich bei der Tagung des NVK auf eine „ungewisse Lage“ und „schwierige Bedingungen“ berief, als er im jährlichen „Arbeitsbericht der Regierung“ keine Angaben zur Zunahme des Bruttoinlandsprodukts machte. Hatte doch gerade dieser Indikator in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten stets im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit bei der gesamten chinesischen Verwaltung aller Ebenen gestanden.
Ein neues Entwicklungsmodell
Es geht darum, dass China in die zweite Transformations‑ und Reformphase eingetreten ist. Anders als bisher, will China nicht mehr allein die Macht des Staates aufbauen bzw. wiedergewinnen, sondern damit beginnen, die Kaufkraft seiner Bevölkerung zu stärken. Das bringt die auf der Sitzung des NVK lebhaft benutzte Formel vom Aufbau einer „Gesellschaft mäßigen Wohlstands“ (xiaokang shehui) zum Ausdruck. In Kern geht es hier um nichts anderes als eine in Anbetracht der Größe des Landes extrem kostspielige Änderung des Entwicklungsmodells, das bislang auf Export und extensiver Entwicklung beruhte, ohne auf ökologische, klimatische oder soziale Kosten Rücksicht zu nehmen, und das jetzt dahingehend abgewandelt werden soll, dass die Mittelschicht und ein entwickelter, florierender Binnenmarkt zu Triebkräften werden. Diese Strategie wurde noch vor der Wahl von Donald Trump und dem Beginn des Handelskrieges angekündigt.
Allerdings muss diese Mittelschicht überhaupt erst aufgebaut werden, was mit erheblichen Kosten verbunden ist. Der NVK bekräftigte nochmals seine Verpflichtung, während der Amtszeit von Xi Jinping von Ende 2012 bis Ende 2020 das mittlere Realeinkommen eines jeden Bürgers zu verdoppeln. Gleichzeitig könnte bei steigenden Einkommen beiläufig eine Zivilgesellschaft entstehen, was von den autoritären Herrschern als Bedrohung und Herausforderung aufgefasst wird. Im Verlauf dieser Systemänderung muss zudem noch der schwierigste aller Schritte erfolgen, nämlich von Quantität zu Qualität überzugehen.
Denn die offiziell von Xi Jinping vorgestellten ehrgeizigen Pläne reden nicht nur von der „Gesellschaft mäßigen Wohlstands“, die bereits bis Ende nächsten Jahres zustande kommen soll, sondern auch vom Aufbau einer „Innovationsgesellschaft“ bis zum Jahr 2035, also einer solchen, die der Außenwelt in der Hightechbranche ernsthafte Konkurrenz machen kann, nicht allein im Handel, wie es bereits der Fall ist. Die Unternehmen ZTE und Huawei, die 5G-Technologie, die weltweit größten Schnellbahnen, die doch erst 2007 initiiert wurden, und die vom NVK gutgeheißenen ungeheuren Investitionen in künstliche Intelligenz belegen, dass die Chinesen es mit diesem ehrgeizigen Ziel ernst meinen.
Allerdings lässt sich eine Innovationsgesellschaft nicht nur auf der Grundlage von Raubkopien oder Industriediebstahl aufbauen. Dazu muss man schon eigene Kreativität entwickeln. Wie kann das in einem autoritären System gelingen? Vielleicht mittels künstlicher Intelligenz, wenn Wissen und Datenmengen in der Cloud es erlauben, die kreativen Individuen drunten auf der Erde im Zaum zu halten? Es gibt viele Hinweise auf eine solche Entwicklung, man wird aber noch ein genaues Auge darauf haben müssen.
Diese überaus ehrgeizigen Pläne sind aber noch keineswegs alles, was Xi Jinping mit seinem Land vorhat; denn ganz am Schluss soll nicht weniger dabei herauskommen als die „große Renaissance der chinesischen Nation“ (Zhonghua minzu wei da fuxing). Mit anderen Worten, China soll sich international wieder als die große Zivilisation präsentieren können, die es vor Jahrhunderten bereits einmal war, nicht bloß als große Wirtschafts‑ und Handelsmacht, die es bereits ist.
Softpower in Aktion
Nachdem diese Pläne öffentlich und erkennbar waren, wurden endlich auch in den USA zunächst die Experten in Wissenschaft und Politikberatung, dann auch die Politik selbst hellhörig. Die bisherige Weltmacht fühlte sich bedroht und war in ihren Grundfesten erschüttert. Wie es das Team von der Harvard University unter Graham Allison formulierte, waren die bisherige Weltmacht und der ehrgeizige Weltmachtprätendent in die „Falle des Thukydides“ geraten, wie einst in der Antike Sparta und Athen.
Mit ihren ehrgeizigen und kostspieligen innenpolitischen Plänen taten die Chinesen alles, um nicht in eine solche Falle zu geraten, worüber sich übrigens Xi Jinping selbst äußerte. Sie hatten kein Interesse daran, es dazu kommen zu lassen, dass sich wieder zwei Weltmächte mit disparaten Zivilisationen und Wertesystemen gegenüberstehen – mit anderen Worten zu einer Neuauflage des Kalten Krieges. Daher begannen sie, nach einem „dritten Pol“ zu suchen, also nach einem Partner, der dieses für ihre ambitionierten Ziele bedrohliche Szenario außer Kraft setzen würde. Allerdings konnte Japan aus nachvollziehbaren historischen Gründen nicht dieser Partner sein, die koreanische Halbinsel ist geteilt, Russland ist für den Westen in der heutigen Situation nicht akzeptabel, während es Australien und Indien vorziehen, swing states zu sein, das heißt Länder, die für sich unterschiedliche Beziehungen nutzen, ohne sich auf einen einzigen Partner festzulegen.
So verfiel Peking auf Europa, denn mit diesem Kontinent teilt China keine allzu heikle Vergangenheit (die Briten ausgenommen), und zudem hat es Hightech und fortgeschrittene Verfahren anzubieten. Darauf laufen nicht so sehr chinesische Investitionen als vielmehr Unternehmensfusionen und ‑übernahmen hinaus, die China gemäß der Belt and Road Initiative auf den Weg brachte. Das gewann noch mehr an Bedeutung, als Donald Trump am Jahreswechsel 2017/18 im Rahmen einer neuen Sicherheits‑ und Verteidigungsstrategie seine Chinapolitik änderte und das bisherige Engagement durch „strategische Konkurrenz“ ersetzte.
Bisher folgte daraus der Handelskrieg, der am 15. Januar diesen Jahres im Weißen Haus lediglich ausgesetzt, aber keineswegs beendet wurde. Die Pandemie hat nun für alle offen erkennbar die nächste Stufe der Konfrontation eingeleitet, eine in den Medien ausgetragene Propagandaoffensive – in Warschau gab es einen unerhörten, öffentlichen und wiederholten Austausch von wechselseitigen Vorwürfen zwischen den Botschaftern der USA und Chinas (in polnischer Sprache!). Leider geben die Pläne Pekings für Hongkong und Taiwan, da es keine „Renaissance“ geben wird und da wir zwei Staaten mit „China“ im Namen beiderseits der Meerenge von Taiwan haben werden, dringenden Anlass zu der Annahme, dass sich die Lage noch weiter zuspitzen wird.
In diesem Sinne ist die Bedeutung Europas, der EU und ihrer Mitgliedstaaten in ihrem Verhältnis zu China noch weitergewachsen. Borrell hat recht, wenn er Entschlossenheit und Prinzipientreue fordert, doch sind insbesondere unsere Fähigkeiten als Diplomaten und Vermittler gefordert, schließlich ist die EU eine Macht der normativen Werte und bekannt für ihre Softpower. Das gilt umso mehr in einer Lage, in der, um den Außenbeauftragten der EU nochmals zu zitieren, „das 21. Jahrhundert offenbar Asien gehört, so wie das 20. Jahrhundert Amerika gehörte“.
So ist weiter nicht verwunderlich, dass für dieses Jahr erstmalig gleich zwei bilaterale Gipfel zwischen EU und China angekündigt sind. In Fortsetzung der 1998 begonnenen regelmäßigen Jahreskonferenzen sollte eine solche Begegnung im April stattfinden, die jetzt als Videokonferenz im Juni stattfinden wird; für den September ist zusätzlich aus Anlass der deutschen EU-Ratspräsidentschaft eine außerordentliche Konferenz in Leipzig geplant. Bei dieser Gelegenheit soll das Abkommen über wechselseitigen Investitionsschutz unterzeichnet werden, über das schon seit mehreren Jahren verhandelt wurde.
Es besteht die Chance voranzukommen, doch der aufziehende Kalte Krieg macht das nicht gerade einfach. Selbst vor eine schwierige Wahl gestellt, und darauf läuft es hinaus, sollten wir uns nicht instrumentalisieren lassen. Denn paradoxerweise hat uns das Coronavirus zwar vorläufig betäubt und auf eine Kirchturmpolitik zurückgeworfen, doch unterdessen ist die internationale Lage heftig in Bewegung geraten. Nichts lässt vermuten, dass sie sich bald wieder beruhigt. Das alles geht auf Xi Jinpings Pläne und das in diesem Umfang erstmalige chinesische Engagement in Europa zurück. Darauf haben wir uns einzustellen. Wie – das ist die entscheidende Frage.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann