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Auf dünnem Eis

Blickt man von außen auf Deutschland, heißt es oft und unverändert, das Land in der Mitte habe keine Mitte. Eine exzentrische Nation liege da am Schnittpunkt vieler europäischer Straßen, ein Land, durch das fast alle Wege führen und das doch nie ganz bei sich sei. Eine Republik aus nur halbwegs überzeugten Republikanern sei dieses Deutschland, ein Staat, der seinen Bürgern Freiheit nur in Dosen gestatte und jederzeit ins Autoritäre umkippen kann. Die Geschichte hält viele Beispiele für diesen Eindruck bereit. Hat sich daran etwas geändert im Sommer des Jahres 2020, der womöglich ein Corona-Sommer wird, vielleicht aber auch ein Sommer der Proteste? Ja und Nein. Ebenfalls von außen betrachtet, hat Deutschland eine Menge richtig gemacht in der Covid-19-Pandemie. Darauf deuten die Zahlen. Das Gesundheitssystem erreichte nicht einmal ansatzweise die Grenzen seiner Belastung, es gab vergleichsweise wenig Infizierte, wenig Tote, Versorgungsengpässe blieben aus, sieht man vom temporären Mangel an Toilettenpapier und Schutzmasken ab. Sogar der notorisch inkompetenten Landesregierung von Berlin gelang es, in Rekordzeit ein zusätzliches Krankenhaus für Covid-19-Patienten zu errichten. Es musste bisher glücklicherweise nicht in Anspruch genommen werden. Hat Deutschland seinen „Charaktertest“ – so der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) – vollauf bestanden? Hat es eine „Bewährungsprobe, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gab,“ – so Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) – professionell und besonnen gemeistert? Daran scheiden sich die Geister. Markus Söders Amtsvorgänger in München, der heutige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), spricht aus, was viele Beobachter und Betroffene in diesen Tagen denken: „Wir haben Glück gehabt.“ Es hätte viel schlimmer kommen können. Tatsächlich offenbarten die amtlichen Katastrophenpläne in den Schubladen, dass Deutschland unzureichend vorbereitet ist auf eine nationale Notlage. Noch wenige Wochen, bevor auf dem Weltmarkt Atemschutzmasken für teures Geld beschafft werden mussten, waren diese in jenes Land als mildtätige Gabe verschickt worden, aus dem sie dann teuer bezogen wurden, China. Und als zahlreiche Staaten ihre Bewohner schon zum Tragen ebensolcher Masken aufforderten, galten diese in Deutschland noch als untaugliches Accessoire im Virenabwehrkampf – vermutlich deshalb, weil sie nicht in hinreichender Zahl vorhanden waren. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), ein Bankkaufmann und Politologe, machte damals keine gute Figur. Die Regierung erntet heute in Umfragen den Lohn für ihren glücklich errungenen Lorbeer – vor allem CDU und CSU. Die Partei der omnipräsenten Kanzlerin und die Partei des forsch agierenden bayrischen Ministerpräsidenten rangieren zusammen bei rund 40 Prozent; vor der Corona-Krise waren es deutlich weniger als 30 Prozent. Mittlerweile hat Markus Söder sich zu einem ernsthaften Anwärter auf die Rolle des gemeinsamen Kanzlerkandidaten der Union gemausert. Merkel hält trotz hoher Zustimmungswerte an ihrem Entschluss fest, bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr nicht erneut anzutreten. Vor einem halben Jahr war die halbe Republik froh über den nahenden Abschied der Langzeitkanzlerin, die sich kaum noch für die Niederungen der Innenpolitik interessierte und deren Berliner Koalition sich lustlos der Restlaufzeit entgegenschleppte. Heute stellt mindestens die halbe Republik sich die Frage, wie das denn fortan gehen solle, ohne die routinierte Krisenmanagerin, die patente Physikerin und nüchterne Fallzahlenerklärerin. Trends aber sind immer die Summe zurückliegender Daten. Umfragen wechseln „wie Ebbe und Flut“. Markus Söder gebrauchte den treffenden Ausdruck – vermutlich nicht nur, um eigene Ambitionen auf die Kanzlerschaft öffentlich zu relativieren. Armin Laschet, Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Landes Nordrhein-Westfalen, hat derzeit die besten Aussichten, im Dezember CDU-Vorsitzender zu werden. Seine Machtbasis innerhalb der Partei spricht für ihn. Auch zahlt es derzeit auf sein Konto ein, dass er sich frühzeitig zum Anwalt der Wirtschaft machte und auf rasche Lockerungen der Anti-Coronavirus-Maßnahmen drängte. Auch da gilt freilich das Gesetz von Ebbe und Flut: Sollte es im Sommer zu einer zweiten viralen Welle mit vielen neuen Patienten kommen, stünde Laschet in der Bredouille. Er müsste sich rechtfertigen und zurückrudern. Auszuschließen ist eine Eskalation keineswegs. Vor allem in Großstädten wird längst wieder gedrängelt, gefeiert und demonstriert, als gälte nicht mehr, was Horst Seehofer noch am 6. Juni bekräftigte: „Die Infektionsherde entstehen fast immer in Situationen der Unvernunft.“ Armin Laschet müsste, sollte er reüssieren, seine Zustimmung geben zu einem bayrischen beziehungsweise in Söders Fall fränkischen Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl. In der Vergangenheit waren als Kanzlerkandidat weder Franz Josef Strauß noch Edmund Stoiber erfolgreich. Es gab noch nie einen bundesdeutschen Regierungschef aus Bayern. Die heutige CDU mag zwar zuweilen ihre Werte und Prinzipien vergessen, wie etwa nun in Mecklenburg-Vorpommern, wo die CDU-Fraktion einer linksradikalen Kommunistin von der Linkspartei zu einem Sitz im Verfassungsgericht des Landes verhalf – nie aber vergessen CDU und CSU ihre eigenen Niederlagen. Die Union ist in die Macht verliebt. Das lässt sie die Erfolglosen spüren.
Eisbahn vor dem Deutschen Bundestag
Eisbahn vor dem Deutschen Bundestag
Unkalkulierbar ist der weitere Verlauf des Sommers nicht nur aus virologischer Hinsicht. Auch die ökonomischen Auswirkungen der Corona-Krise werfen Schatten an die Wand. Die Bundesregierung hat staatliche Hilfen von 1,2 Billionen Euro in Aussicht gestellt. Im Etat der Europäischen Union sollen zusätzliche 500 Milliarden Euro aufgebracht werden, um sie als Zuschüsse an besonders gebeutelte Mitgliedsstaaten zu verteilen, Italien und Spanien vor allem, weitere 250 Milliarden Euro will die EU-Kommission als Kredite ausgeben. Die Summe will man sich auf dem Kapitalmarkt besorgen. Deutschland haftet mit einem knappen Drittel. Derweil dürfte das deutsche Bruttoinlandsprodukt 2020 um mehr als sechs Prozent sinken. Allein die Sozialkosten könnten in diesem Jahr um 30 Milliarden Euro ansteigen. An neuen Schulden will die Bundesregierung sich 156 Milliarden Euro leihen. Die Nullzinspolitik der EZB forciert den Weg in die Schuldenunion und den Schuldenstaat. Angesichts solch gewaltiger Beträge fällt es schwer, dem Fondsmanager Michael Reuss zu widersprechen, der unlängst sagte: „Der Verluderungsprozess der Notenbanken hat in der Corona-Krise noch mal einen Quantensprung gemacht. Und irgendwann fliegt uns das Geldsystem um die Ohren.“ Ob Deutschland auf diese Belastungsprobe vorbereitet ist? Für die mitregierende SPD spielt die Finanzierbarkeit staatlicher Wohltaten nicht die primäre Rolle. Im Zweifel fordert man, wie es Ko-Vorsitzende Saskia Esken regelmäßig tut, Steuererhöhungen. Die theoretisch oppositionellen, faktisch über den Bundesrat mitregierenden Grünen verlangen die Koppelung staatlicher Finanzmaßnahmen an klimapolitische Vorgaben und rennen damit offene Türen ein. Die traditionell den Grünen wohl gesonnene Medienlandschaft tut ein Übriges, dass die Grünen bereits heute als Teil der Regierungsbank wahrgenommen werden. Als oppositionelle Kraft fallen die Grünen aus. Die AfD zerlegt sich derweil in Flügelkämpfen selbst und ringt um eine glaubhafte Abgrenzung von extremen Kräften. Die FDP unter Christian Lindner will staatstragend erscheinen und applaudiert der Regierung mehr, als es einer Opposition gut tun kann. Der Wähler könnte den Schlingerkurs von Lindner sowohl mit dem Fall unter die Fünf-Prozent-Hürde bestrafen als auch mit einer Regierungsbeteiligung belohnen. Erste Umfragen sehen bereits eine Mehrheit für Schwarz-Gelb in Reichweite. So zeigt sich die Bundesrepublik in diesen Tagen äußerlich stabil, während es im Innern gärt. Eine neue Gereiztheit macht sich breit in den Debatten und auf den Straßen, wo die hohe Zeit symbolpolitischer Freizeitbeschäftigung und moralischen Selbstlobs angebrochen ist. Mal demonstriert man gegen eine angebliche „Corona-Diktatur“, mal eilen die Massen zusammen, um dicht gedrängt ein Zeichen zu setzen gegen rassistische Tendenzen in den Vereinigten Staaten und andernorts. Die Situationen der Unvernunft häufen sich. Wenn es im Kernbereich des politischen Betriebs zu wenig echte, zu wenig gesittete Opposition gibt, übernehmen Schreihälse und Selbstdarsteller das Geschäft. Der Bundestag ist momentan keine Stätte gehaltvollen argumentativen Austauschs. In den politischen Talkshows bescheinigt ein weltanschaulich homogenes Milieu sich wechselseitig Lauterkeit. Die nationale Kraftanstrengung zur Bewältigung der Corona-Krise überdeckt Risse im Gebälk der Nation. In ihrer Regierungserklärung am 23. April dieses Jahres nannte Angela Merkel die Pandemie eine „demokratische Zumutung“. Diese Formulierung trug der Kanzlerin viel Kritik ein. Gerade in Krisensituationen dürfe die Demokratie nicht leiden, müsse die Gewaltenteilung gewahrt bleiben. Angesichts eines faktischen Übergewichts der Exekutive war dieser Einwand berechtigt. Merkel sagte auch, die Situation sei trügerisch, das Virus nicht gebannt, „wir bewegen uns auf dünnem, ja dünnstem Eis“. Diese Diagnose gilt für das ganze Land und den gesellschaftlichen Frieden. Laut dem Forschungsinstitut Allensbach sind 74 Prozent der Deutschen mit dem Krisenmanagement der Bundesregierung zufrieden, doch nur 22 Prozent sehen dem kommenden Jahr hoffnungsfroh entgegen. Das heißt: Es hätte viel schlimmer kommen können, aber schön ist das alles nicht. Deutschland bleibt auf der Suche nach seiner Mitte.
Alexander Kissler

Alexander Kissler

Alexander Kissler studierte Literaturwissenschaften und Geschichte. Er arbeitet im Berliner Büro der NZZ und schrieb zahlreiche Sachbücher, zuletzt "Die infantile Gesellschaft. Wege aus der selbstverschuldeten Unreife".

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