Am 8. Mai, zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren, erschien auf dem Brandenburger Tor in großen Leuchtbuchstaben ein vielfaches „Danke“. In Russisch, Englisch und Französisch galt es den allen Berlinern vertrauten Alliierten. Überraschend war ein weiterer Dank: „Dziękuję“. Er ging an Polen. In Deutschland ist nur wenig bekannt, dass bedeutende polnische Streitkräfte an den Fronten des Zweiten Weltkriegs in der Anti-Hitler-Koalition kämpften.
„Ein polnischer Soldat kämpft für die Freiheit aller Nationen – er stirbt nur für Polen“. Der Satz stammt von General Stanisław Maczek, an den die von ihm befreite Stadt Breda in den Niederlanden mit einem neuen Museum erinnert. Seine 1. Polnische Panzerdivision kämpfte in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und besetzte das Emsland mit Wilhelmshaven. An der alliierten Landung in der Normandie am 6. Juni 1944 nahmen polnische Soldaten zu Luft, zu Wasser und zu Lande teil. Von Norwegen bis Nordafrika kämpften Polen gegen Hitlerdeutschland. Denn Polen hatte sich nicht ergeben, eine Exilregierung bestand in London fort. Dort steht heute das Polish War Memorial, das den polnischen Piloten gilt, die im Zweiten Weltkrieg in der Royal Air Force dienten.
Unvergessen ist der polnische Mathematiker Marian Rejewski: Er knackte als Erster Enigma, den Geheimcode der Wehrmacht. Am italienischen Monte Cassino gemahnt ein monumentaler polnischer Soldatenfriedhof an die verlustreiche Schlacht um das strategisch gelegene Kloster. Am 18. Mai 1944 wehte auf Monte Cassino die polnische Flagge. Ein Jahr später hissten polnische Einheiten der Roten Armee die weiß-rote Fahne auf der Siegessäule in Berlin. Anders als Frankreich aber wurde Polen nach dem Krieg der Status einer Siegermacht durch die Sowjetunion verwehrt. Polen wurde Satellitenstaat und von Stalin nach Westen verschoben.
Danksagungen zum 75. Jahrestag des Kriegsendes leuchteten auf dem Brandenburger Tor auch auf Ukrainisch und Belarussisch. Die Ukraine und Belarus gehörten zu den Hauptschauplätzen des Krieges und hatten als Staaten der Sowjetunion in der Roten Armee wesentlichen Anteil am Sieg über Deutschland. Das Gedenken daran und an ihre unzähligen militärischen und zivilen Opfer ist Teil ihrer eigenen nationalen Identität. Dass dies von deutscher Seite gewürdigt wird, ist neu.
Vier Jahrzehnte Kalter Krieg hatten das Bild eines hinter Eisernem Vorhang monolithisch scheinenden Ostblocks geprägt. Es wirkt bis heute nach. Dass mit dem Ende der Sowjetunion Staaten im Osten Europas unabhängig geworden sind, Nationen wiederaufleben, mit eigener Sicht auf Vergangenheit und Zukunft und eigener Gedenkkultur, das bedarf aus dem Westen eines neuen unterscheidenden und neugierigen Blicks. Umso mehr als Russland sich Staaten, die ihren eigenen Weg gehen, mit militärischer Macht in den Weg stellt.
So musste es zum Eklat kommen, als der Regierende Bürgermeister Michael Müller die Botschafter Russlands und der Ukraine zur gemeinsamen Kranzliederlegung am Tag der Kapitulation einlud. Für den ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk ein „Albtraum“: „Kränze niederzulegen an der Seite eines Vertreters des Landes, das seit über sechs Jahren zynisch einen blutigen Krieg in der Ostukraine führt.“ Am Ende gedachte der Regierende Bürgermeister gemeinsam mit dem Botschafter der Ukraine am sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten der ukrainischen Opfer des Krieges.
Der 75. Jahrestag der deutschen Kapitulation und des Sieges über den Nationalsozialismus hat das Gedenken an die vielen Millionen militärischen und zivilen Opfer der Sowjetunion ins öffentliche Gedächtnis gerückt. Zugleich haben sich Nationen zu Wort gemeldet, bisher kaum wahrgenommene Kriegsteilnehmer und Opfer, die aus eigener Perspektive ihren Anteil an Krieg, Sieg und Leid zur Sprache bringen. So mahnen die Außenminister der Ukraine, Litauens, Lettlands und Estlands auch „Erinnerung als Warnung“ zu verstehen: vor einem „unaufrichtigen Siegeskult“, „historischen Mythen“ und „Leugnung unbequemer historischer Fakten“.
Noch vor wenigen Monaten, am 1. September 2019, war der 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs vielfältiger Anlass, um an den deutschen Überfall auf Polen zu erinnern. So unterstützten Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble und Polens Sejm-Marschallin Elżbieta Witek auf einer gemeinsamen Gedenkveranstaltung an der Weltkriegsruine des Anhalter Bahnhofs die dortige Errichtung eines Denkmals für die Opfer der deutschen Besatzung Polens 1939 -1945.
Am Anhalter Bahnhof hatte am 12. November 1940 der deutsche Außenminister Ribbentrop seinen sowjetischen Amtskollegen Molotow empfangen, die Unterzeichner des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts und des geheimen Zusatzprotokolls zur Aufteilung Polens. Nach dem brutalen Überfall und der gemeinsamen deutsch-sowjetischen Besetzung Polens wandte sich Hitler nach Westen, unterwarf Frankreich und die Benelux-Staaten, um sich dann 1941 unter Bruch des Nichtangriffspakts in einem unvorstellbaren Vernichtungs- und Eroberungskrieg gegen die Sowjetunion zu richten.
Im Treptower Park in Berlin ließ die Sowjetische Militärverwaltung 1949 ein monumentales sowjetisches Ehrenmal errichten. Eine deutsche Erinnerungsstätte an die Opfer des deutsch-sowjetischen Krieges gibt es nicht. Vielleicht könnte der Treptower Park in seiner Größe und Bedeutung den Staaten der ehemaligen Sowjetunion Orte eigenen Gedenkens bieten.
Die Auffassung, man dürfe das Gedenken „nicht nationalisieren“ ist falsch. Auch die Sorge vor einer „Denkmalflut“ kann uns nicht davon entbinden, geeignete Formen der Würdigung in Zwiesprache mit den Opfernationen zu finden. Wissenschaftliche Dokumentation dient der Aufklärung über die Verbrechen, die Täter und die Opfer. Bildung zieht Lehren aus der Vergangenheit. Die Kultur des Gedenkens soll den Opfern ihre geraubte Würde zurückgeben. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas ist Millionen einzelner Menschen und Familien gewidmet, die in dem von Nazideutschland besetzten Europa verfolgt und ermordet wurden. Die Kriege gegen Polen und die UdSSR, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, richteten sich gegen Nationen und Staaten, die – heute selbständig und unabhängig – die Ansprechpartner unseres Gedenkens sein müssen. So wenig wie ein Brief „an Osteuropa“ wird eine pauschale Geste der Erinnerung Adressaten finden.
Der jüngste Konsensvorschlag des Deutschen Polen-Instituts und der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas versucht, konkurrierende Vorstellungen zu überbrücken. Ein Dokumentationszentrum der deutschen Besatzungsherrschaft in ganz Europa soll durch eine „künstlerische Installation“ ergänzt werden, die an den Beginn des Zweiten Weltkriegs durch den deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 erinnert. Aus einem Polendenkmal am Anhalter Bahnhof, ein besonderer Ort des mitfühlenden Gedenkens an die Opfer der deutschen Besatzung Polens 1939-1945, würde so ein allgemeines Symbol des Kriegsbeginns.
Ein eigenes Denkmal für Polen in der deutschen Hauptstadt wäre ein öffentliches und bleibendes Bekenntnis von Staat und Gesellschaft zu Schuld und Versöhnung. Jahrhundertelang bedrohten deutscher und russischer Imperialismus Polens Existenz. Hitler wollte das 1939 geteilte Land als Nation und Staat endgültig vernichten. Folgen des deutschen Überfalls und des Zweiten Weltkriegs für Polen waren sowjetische Fremdbestimmung und kommunistische Diktatur, von welchen sich das Land erst 1989 befreien konnte. Es war die demokratische Revolution der Solidarność, die für das geteilte Deutschland die Tür zur Einheit in Freiheit und für ein gemeinsames Europa öffnete. Dziękuję.