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Ein Paukenschlag in Karlsruhe, der bis nach Warschau zu hören war

Das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020

Es war ein Paukenschlag aus Karlsruhe. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat am 5. Mai 2020[1] den 2015 eingelegten Verfassungsbeschwerden gegen das Staatsanleihenkaufprogramm PSPP (Public Sector Purchase Programme) der Europäischen Zentralbank (EZB) stattgegeben. Dem stehe das Urteil des Gerichtshofs der EU (EuGH) vom 11. Dezember 2018 nicht entgegen, da es im Hinblick auf die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit der zur Durchführung des PSPP erlassenen Beschlüsse ebenfalls ultra vires ergangen sei. Mit ultra vires – jenseits der Gewalten – ist der Fall gemeint, in dem ein europäisches Organ wie die EZB bei ihrer Arbeit ihre Kompetenzen überschreitet. Die Richter in Karlsruhe stellten sich mit der Entscheidung damit erstmals gegen ein Urteil des höchsten EU-Gerichts.

Das Bundesverfassungsgericht fordert Aufklärung

In den Hintergrund gerückt ist dabei die eigentliche Streitfrage, ob die EZB berechtigt war, in immensen Umfang Staatsanleihen zu kaufen. Bis Ende 2018 waren durch das Staatsanleihekaufprogramm bereits 2,6 Billionen Euro in die Finanzmärkte geflossen. Die EZB und später der EuGH wurden hierfür nicht nur gelobt, sondern auch kritisiert[2]. Die EZB hat nur ein Mandat für die Geldpolitik, darf aber keine Wirtschaftspolitik betreiben – das ist Sache der Nationalstaaten. Das Bundesverfassungsgericht hat der EZB in dem Urteil vom 5. Mai allerdings nicht – wie zu lesen war – vorgeworfen, sie habe die Grenzen zwischen Währungspolitik und Wirtschaftspolitik überschritten. Eine offensichtliche Umgehung des Verbots ließ sich gerade nicht feststellen.

Die EZB habe ihre Kompetenz nach der Annahme des Bundesverfassungsgerichts aber ausgeübt, ohne die Verhältnismäßigkeit ihres Ankaufsprogramms zu prüfen, wie es Artikel 5 des EU-Vertrages verlangt. Der Kern des Vorwurfs gegen den EuGH ist also, dass dieser den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt habe. Das Bundesverfassungsgericht gab der Bundesregierung drei Monate Zeit, die EZB zu einer Überprüfung des Programms zu bewegen[3]. Der Bundesbank wäre es untersagt, an der Umsetzung des Staatsanleihenkaufprogramms PSPP mitzuwirken, wenn nicht der EZB-Rat innerhalb von drei Monaten nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen.

Im Jahr 2017 hatten die Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts dem EuGH gleich mehrere Fragen zu dem laufenden Verfahren vorgelegt. Sie versuchten damals, den EuGH dazu zu bewegen, der EZB striktere Vorgaben zu machen. Zur Durchsetzung ihres Anliegens drohte das Bundesverfassungsgericht mehr oder weniger offen damit, sonst von einem rechtlich wirkungslosen Ultra-vires-Handeln der EZB auszugehen, an dem deutsche Organe wie die Bundesbank nicht mitwirken dürften. Die Beantwortung der Vorlagefragen durch den EuGH in seinem PSPP-Urteil vom Dezember 2018 erfolgte nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts offensichtlich unzureichend. Daher war die jetzt gefällte Entscheidung vorhersehbar.

Ein Triumph für Polen?

Ein Paukenschlag in Karlsruhe, der bis nach Warschau zu hören war

Niemanden konnte auch überraschen, dass das deutsche Urteil in Polen als Bestätigung der eigenen EU-Kritik triumphierend aufgegriffen wurde, ist doch der EU-Mitgliedstaat in eine Vielzahl von Verfahren vor dem EuGH verwickelt, die Zweifel an ihrer Rechtsstaatlichkeit betreffen.

Bei der Entscheidung der Karlsruher Richter handle es sich um „eines der wichtigsten Urteile in der Geschichte der Europäischen Union“, schrieb der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki an die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ (FAS). Es sei vielleicht zum ersten Mal in dieser Klarheit gesagt worden: „Die Verträge werden von den Mitgliedsstaaten geschaffen und sie bestimmen, wo für die Organe der EU die Kompetenzgrenzen liegen.“[4]

Noch am Tag der Verkündung des EZB-Urteils des BVerfG hat das polnische Justizministerium im Rahmen einer eilig einberufenen Pressekonferenz verkündet, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sei von enormer Bedeutung für den Streit zwischen Polen und der Europäischen Kommission über die Justizreform in Polen. Vizejustizminister Sebastian Kaleta erinnerte an die Klarstellung der Europäischen Kommission gegenüber Polen, wonach EU-Recht über dem polnischen Recht und über der polnischen Verfassung stehe. Dies war eine europäische Reaktion auf eine Erklärung des polnischen Verfassungsgerichts von April 2020, nach dem die Europäische Union nicht befugt sei, den Status von Richtern in Polen in Frage zu stellen[5]. Nun sei er gespannt, ob die EU-Kommission die Entscheidung des deutschen Verfassungsgerichts in gleicher Weise kommentieren werde[6].

Rechtliche Schritte gegen Deutschland sind möglich

Während also die polnische Regierung das Urteil des BVerfG vom 5. Mai begrüßt, prüft die EU-Kommission ein Verfahren wegen Vertragsverletzung gegen Deutschland. Die Ansichten, ob ein solches Verfahren nun der richtige Schritt sei, fallen jedoch unterschiedlich aus. Ob die EU-Kommission rechtliche Schritte gegen Deutschland vornimmt oder nicht, bleibt abzuwarten. Doch scheint niemand an einer Eskalation interessiert.

Der EuGH reagierte frostig und teilte auf seiner Homepage am 8. Mai 2020 mit, er kommentiere Urteile nationaler Gerichte nicht. „Ganz generell“ könne jedoch auf die ständige Rechtsprechung des EuGH hingewiesen werden, „wonach ein im Vorabentscheidungsverfahren ergangenes EuGH-Urteil für das vorlegende nationale Gericht bindend ist“ Weiter hieß es: „Um die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu wahren, ist nur der zu diesem Zweck von den Mitgliedstaaten geschaffene EuGH befugt, festzustellen, dass eine Handlung eines Unionsorgans gegen Unionsrecht verstößt.“[7]

Kritik wird auch in Rechtskreisen laut

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat teilweise sogar wütende Proteste ausgelöst, vor allem im EU-Ausland, teils auch in der deutschen Rechtswissenschaft. „Die europäische Rechtsgemeinschaft steht auf dem Spiel“, urteilte Prof. Dr. Franz C. Mayer von der Universität Bielefeld am 25. Mai 2020 bei einer Sachverständigenanhörung des Europaausschusses des Bundestages [8]. Der Richterspruch sei ein Angriff auf die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) sowie den Europäischen Gerichtshof (EuGH), der die Anleihekäufe 2018 gebilligt hatte.

Im Kern lautet der Vorwurf der Kritiker, dass nur der EuGH feststellen dürfe, dass die Handlung eines EU-Organs gegen EU-Recht verstößt. Dies umfasse auch die Frage, ob EU-Handeln von einer Ermächtigungsgrundlage gedeckt sei. Anderenfalls könne er seiner Aufgabe, die einheitliche Geltung und Anwendung europäischen Rechts in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten, nicht erfüllen. Dass auch der EuGH, wie jedes Gericht, Fehler machen könne, sei kein ausreichender Grund, seine Rechtsprechungskompetenz zu relativieren[9].

Europäisches Recht ist bindend

Es wurde auch Kritik an der Schärfe mancher Formulierungen in der Begründung des Urteils vom 5. Mai 2020 geäußert. Das Bundesverfassungsgericht hatte geschrieben, dass die Entscheidung, die der EuGH im Hinblick auf die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit dieser Programme gefasst hat, „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ und „objektiv willkürlich“ und deshalb außerhalb der Kompetenz des EuGH („ultra vires“) ergangen sei. Doch zeigt dies gerade den Ausnahmecharakter der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: Es erkennt Entscheidungen des EuGH selbstverständlich auch dann als bindend an, wenn es anderer Meinung ist. Unterhalb der Schwelle der „Willkür“ sind die Entscheidungen des EuGH von den Mitgliedsstaaten und damit auch durch das BVerfG hinzunehmen und umzusetzen. Das steht für das Bundesverfassungsgericht außer Zweifel.

Andere dagegen meinten, das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Urteil am 5. Mai 2020 Zivilgesellschaft und Parlamentarismus gestärkt. Die Europäische Zentralbank habe allen Grund, den Bedenken von Bürgern Aufmerksamkeit zu schenken. Eine Überprüfung der EZB-Strategie scheine überfällig[10]. Zurecht wird in diesem Zusammenhang hingewiesen, dass die Gründe, die das Bundesverfassungsgericht zur Annahme eines Ultra-vires-Aktes veranlasst haben, und der Abbau der Unabhängigkeit der Justiz in Polen, gegen die der EuGH bislang konsequent eingeschritten ist, in keiner Weise miteinander vergleichbar sind[11].

Sowohl die Befürworter eines Rechtsprechungsmonopols des Europäischen Gerichtshofes als auch die Vertreter der Gegenposition können sich auf durchaus schlüssige Begründungen stützen. Der Raum ist hier nicht gegeben, das angemessen zu dokumentieren. Die Entscheidung wird Politik und Wissenschaft jedenfalls auf lange Zeit beschäftigen.

Konsequenzen auf europäischer Ebene

Spannend bleibt die Frage, welche Auswirkungen das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts auf die europäische Rechtsgemeinschaft haben wird. Die währungspolitische Streitigkeit wird sich im Laufe der Zeit klären lassen, das Verhältnis zum EuGH könnte aber einen Schaden erlitten haben. Den Karlsruher Richtern war bewusst, dass später möglicherweise die Gefahr missbräuchlicher Berufung auf ihre Urteile durch Dritte besteht. Darauf angesprochen, dass in Polen geradezu jubiliert werde, sagte der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Prof. Voßkuhle: „Wollen wir uns wirklich daran orientieren, wie polnische oder sonstige Politiker möglicherweise auf eine Entscheidung reagieren könnten? Soll das der Maßstab sein für ein Verfassungsgericht?“ Das deutsche Urteil sage ja gerade, dass der EuGH mehr und intensiver kontrollieren sollte. „Das scheint mir nicht der Position der polnischen Regierung zu entsprechen.“[12]

Im Rechtsstreit mit Polen erhält der EuGH Rückendeckung aus Karlsruhe

Mit Beschluss vom 8. April 2020 hat der EuGH einem Antrag der EU-Kommission vom 23. Januar auf einstweilige Verfügung stattgegeben. Danach muss die im Rahmen des Justizumbaus im Herbst 2018 neu geschaffene sogenannte „Disziplinarkammer“ (Izba Dyscyplinarna) am polnischen Obersten Gerichtshof (Sąd Najwyższy, SN) ihre Tätigkeit vorerst einstellen. Grund war, dass die Unabhängigkeit dieser Kammer fraglich sei und ein Risiko für die Unabhängigkeit der polnischen Gerichte darstelle.

Die polnische Regierung war empört und hatte daraufhin in Erwägung gezogen, das polnische Verfassungsgericht solle doch prüfen, ob die Luxemburger Richter nicht ihre Kompetenzen überschritten hätten. „Die bindende Natur dieses Beschlusses kann nicht von nationalen Gerichten infrage gestellt werden“, erklärte daraufhin Justizkommissar Reynders.

Es wird daher allgemein vermutet, dass das polnische Verfassungstribunal bei nächster Gelegenheit urteilen werde, die Entscheidungen des EuGH zu den polnischen Justizreformen seien offensichtlich kompetenzwidrig ergangen. Auf die Richter aus Karlsruhe würde es sich jedenfalls nicht berufen können. Richter am Bundesverfassungsgericht Dr. Maidowski unterstrich[13], dass das Bundesverfassungsgericht die Autorität des EuGH gerade nicht in Frage stelle. Messe man die EuGH-Entscheidungen zu den polnischen Justizreformen mit dem Maßstab des EZB-Urteils, ergebe die Prüfung, dass bei diesen Entscheidungen gerade keine Ultra-vires-Entscheidungen vorliegen. Die Urteile des EuGH, die zu Polen ergangen sind, seien klassische und gute richterliche Arbeit. Im Rechtsstaatsdialog mit Polen stehe es vollkommen außer Frage, dass der EuGH die volle Rückendeckung des Bundesverfassungsgerichts hat.

 

[1] BVerfG Pressemitteilung Nr. 32/2020 vom 5. Mai 2020 https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-032.html

[2] Prof. Dr. Dres. h.c. Paul Kirchhof „Chance für  Europa“ , FAZ 20.05.2020

[3] Prof. Dr. Dieter Grimm „Jetzt war es so weit“ FAZ 18.05.2020

[4] https://www.dw.com/de/polen-lobt-ezb-urteil-des-bundesverfassungsgerichts/a-53383909

[5] Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs (wörtlich: Verfassungstribunal von polnisch Trybunał Konstytucyjny TK) vom 20.04.2020 und vom 21.04.2020 betreffend den sogenannten 3. Kammer Beschluss des Obersten Gerichts 23.01.2020

[6] Wyrok niemieckiego Trybunału Konstytucyjnego potwierdza rację Polski w sporze z Komisją Europejską 05.05.2020 https://www.gov.pl/web/sprawiedliwosc/wyrok-niemieckiego-trybunalu-konstytucyjnego-potwierdza-racje-polski-w-sporze-z-komisja-europejska

[7] Gerichtshof der Europäischen Union PRESSEMITTEILUNG Nr. 58/20 vom 8.Mai 2020

https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2020-05/cp200058de.pdf

[8] Sachverständige kritisieren Karlsruher EZB-Urteil https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw22-pa-europa-urteil-696678

[9] Prof. Dr. Günter Hirsch „Zwei Wächter in Schilda“ in FAZ vom 20.05.2020

[10] Prof. Markus Kerber https://www.eaberlin.de/nachlese/chronologisch-nach-jahren/2020/gastbeitrag-markus-kerber-coronabonds/

[11] FAZ  Einspruch exklusiv vom     19.05.2020  : „Ein Befreiungsschlag“ ,  Prof. Dr. Wolfgang Kahl

[12] https://www.boerse.de/nachrichten/Vosskuhle-ueber-EZB-Urteil-Wir-sind-Gesetz-und-Recht-verpflichtet-/27616736

[13] Gespräch vom 14.05.2020 mit Verfassungsrichter Dr. Ulrich Maidowski https://dprv.eu/index.php/aktuelles

Thomas Guddat

Thomas Guddat

Thomas Guddat ist Richter am Arbeitsgericht Dresden und Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Richtervereinigung e.V.

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