Eine alte, allgemein bekannte Redensart besagt, nichts sei so schlimm, dass daraus nichts Gutes entstehen würde. In der Weisheit dieser Redewendung steckt eine gewisse synthetische Reflexion, die der langen menschlichen Erfahrung der Tücke von Gut und Böse und deren untrennbarem gemeinsamen Auftreten entstammt. Das hat auch die Pandemie Covid-19 bestätigt. Denn – wie unsere Großmütter sagten – man weiß nie, was wofür gut ist. Diese beiden Redewendungen ergänzen sich in ihrer Weisheit. Aus etwas, was einem nur schlecht erscheint, kann dennoch etwas Gutes entstehen, das nicht möglich gewesen wäre, wenn ihm nicht etwas vorausgegangen wäre, das einem ausschließlich schlecht vorgekommen ist. Doch dieses schreckliche, tückische, für Gesundheit und Leben bedrohliche Böse hat, neben allgemeiner Angst ein gewisses außergewöhnliches Potenzial des Guten freigesetzt, hat zu unerwarteten positiven Konsequenzen geführt, hat neue Dimensionen menschlicher Gefühle offenbart, hat gezeigt, welche Wirkung Mitgefühl haben kann, zu welchen Aufopferungen es führen kann, hat unser Verständnis für das tägliche Bedürfnis nach Liebe vertieft, nach Zärtlichkeit, nach Sehnsucht, Solidarität und Freundschaft. Das Leben hängt wieder vom Guten ab, das auf Wahrheit und Verständigung basiert, und von der Zusammenarbeit, die uns, wenn auch im Homeoffice, geholfen hat, den Boden unter den Füßen nicht ganz zu verlieren und in der voranschreitenden Krise zu überleben.
Die Pandemie ist noch nicht vorbei. Es ist noch zu früh, um Bilanz zu ziehen, und mit vielen Schlussfolgerungen, die sich spontan aufdrängen, muss man sich noch zurückhalten. Das Coronavirus hat auch wegen der eingeführten epidemischen Restriktionen dazu geführt, dass wir unser Leben, die Form und den Stil sozialer Koexistenz nun anders betrachten. Dies betrifft vor allem die Stadtbewohner. Während der auferlegten Isolation waren die Städte wie leergefegt und die Wohnungen überfüllt, und sogar der Besuch von Bekannten verstieß gegen die Vorschriften. Bis auf Geschäfte mit Waren des dringendsten Bedarfes war alles geschlossen, und selbst in Kirchen waren Versammlungen verboten. Die häusliche Isolation, das Desinfizieren, die soziale Distanz und das Maskentragen waren jene Hauptmittel, die gegen die Ausbreitung der Epidemie eingesetzt wurden.
Die Bewohner von Grenzgebieten machten die Erfahrung einer für ihr normales Leben zusätzlichen tiefgreifenden Restriktion: die geschlossenen Staatsgrenzen. Im März 2020 wurde das in der Europäischen Union geltende Prinzip des Schengen-Abkommens von einem Tag auf den anderen außer Kraft gesetzt. Der polnische Staat, der der Schengen-Zone am 21. Dezember 2007 beigetreten war, schloss seine Grenzen Mitte März 2020 und führte für aus dem Ausland zurückkehrende Staatsbürger eine 14-tägige Quarantäne-Pflicht ein. Internationale Reiseverbindungen wurden eingestellt. Busse und Züge fuhren nicht und Flugzeuge durften nicht starten. Weiterhin fahren durften nur Gütertransporte. Bahnhöfe und Hotels waren wie ausgestorben. Der Touristenverkehr erstarb.
Polen war in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Mit zunehmender Ausbreitung der Epidemie führten fast alle Länder Europas ähnliche Restriktionen ein und wenn sie sie nicht selbst einführten – wie zum Beispiel Schweden – wurden sie in der Praxis von den Restriktionssystemen einverleibt, die die Nachbarstaaten eingeführt hatten. Viele der Maßnahmen wurden vorsichtshalber eingeführt, der lieben Ruhe wegen, damit die Menschen sich nicht aufregen, dass nichts unternommen wird, aber eigentlich wurden diese Entscheidungen aufs Geratewohl getroffen. Jedenfalls ist ein Chaos entstanden, die Pandemie hat nach und nach ihren pandämonischen Charakter offenbart, in Polen wurde er noch verstärkt durch die rücksichtslose Politik der Regierung, die darauf konzentriert war, die Präsidentschaftswahlen durchzuführen und um jeden Preis an der Macht zu bleiben.
Die Schließung der Grenzen war ein zusätzlicher Schlag für viele Menschen, deren Arbeit und Lebensunterhaltserwerb an die offenen Grenzen gebunden sind. Betroffen waren auch familiäre Bindungen, Freundschaften, sogar Liebesbeziehungen, denn plötzlich waren nicht nur Familien getrennt, sondern auch Freunde und Liebespaare. Es ist wohl kaum verwunderlich, dass die Grenzblockade – wie während des Kriegsrechts 1982 in Polen – jetzt im Jahr 2020 im Teschener Schlesien viel Unzufriedenheit und Proteste in der Gesellschaft hervorgerufen hat.
Den Menschen wurde das Absurde der Grenze schmerzlich bewusst, die hier vor hundert Jahren gezogen worden war. Sie forderten jetzt, dass der freie Grenzverkehr wiederhergestellt wird. Obwohl Versammlungen verboten waren, gingen sie dreimal raus, um entlang der Olsa zu demonstrieren, am Ufer, von der Brücke der Freundschaft bis zur Brücke der Freiheit. Sie forderten, wieder zu ihrer Arbeit gelassen zu werden, zu ihren Familien, zu ihrem normalen Leben ohne Staatsgrenzen. Es waren auch Losungen über eine freie, offene Stadt Cieszyn/Český Těšín zu hören, und manche Demonstranten trugen außer Transparenten mit ihren Losungen die Flagge des Herzogtums Teschen, die später an das Geländer an der Brücke der Freiheit gebunden wurde.
Aber bevor es in Cieszyn/Český Těšín zu den Wutmärschen wegen der Grenzschließung kam, tauchten bereits in der zweiten Woche, nachdem die Grenzblockade eingeführt worden war, auf beiden Seiten der Olsa Banner auf, die positivere Gefühle manifestierten. Das Banner Stýská se mi po tobě, Čechu [Ich sehen mich nach dir, Tscheche] wurde in tschechischer Sprache zwischen der Brücke der Freundschaft und der Brücke der Freiheit auf der polnischen Seite der Olsa von Stefan Mańka und Magda Szadkowska angebracht. Das war eine spontane Reaktion darauf, dass plötzlich und unerwartet die Möglichkeit, in direkten Kontakt zu den tschechischen Freunden zu treten, blockiert war.
Die Organisatoren dieser Aktion, die normalerweise im Bereich der grenzübergreifenden Zusammenarbeit tätig sind, schickten damit eine sehr positive Botschaft in die Welt und zwar fast genau zum hundertsten Jahrestag der unglücklichen Teilung des Teschener Schlesiens und der Stadt Cieszyn/Český Těšín sowie der Festlegung der Staatsgrenze an dieser Stelle. Auf ihr Bekenntnis hin kam es zu einer ebenso emotionalen Antwort von der tschechischen Seite. Darüber hinaus tauchte dort auch ein Transparent eines jungen Tschechen auf, auf dem dieser einer gewissen Agnieszka aus Polen einen Heiratsantrag machte, die angeblich seinen Antrag angenommen haben soll. Und ja, infolge der Epidemie, der Auflagen und der Blockade der Grenze durch Männer in Uniformen ist das Olsa-Ufer zwischen der Brücke der Freundschaft und der Brücke der Freiheit unerwartet zu einer Hotline der Gefühlsausbrüche geworden, die mit der Freiheit und der Freundschaft ohne Staatsgrenzen zusammenhängen.
Zum hundertsten Jahrestag der Festlegung der Staatsgrenze zwischen Polen und der Tschechoslowakei haben die Bewohner von Cieszyn/Český Těšín spontan ihrer Überzeugung Ausdruck verliehen, dass die Grenze an diesem Ort, insbesondere, wenn sie von Soldaten blockiert wird, ein absurdes, anachronistisches Relikt des 20. Jahrhunderts ist, sprich aus einer Epoche der unmenschlichen, militaristischen Totalitarismen, eine Art unsichtbare Berliner Mauer über der durch das Tal rauschenden Olsa.
Die drei Monate Grenzschließung in Cieszyn/Český Těšín im Frühjahr 2020 wegen antiepidemischer Auflagen und auch die gesellschaftlichen Reaktionen auf diese Schließung auf beiden Seiten sind eine Art symbolischer Punkt, der am Ende eines ganzen Jahrhunderts mit funktionierender Grenze an dieser Stelle steht. Wir wollen diese Grenze nicht. Wir wollen in Ruhe und frei hin- und hergehen können über beide Brücken: die Brücke der Freiheit und die Brücke der Freundschaft. Und wir wollen, dass Cieszyn/Český Těšín eine freie, offene Stadt ist: unsere und eure Stadt, eine gemeinsame, europäische Stadt. Das haben wir den Gesellschaften beider Staaten gezeigt und genau dieses klare Signal haben wir von hier an beide Regierungen gesendet. Und bei der Gelegenheit auch an Europa. Das hat symbolische und historische Bedeutung.
Vielleicht müssten die Stadtregierungen auf beiden Seiten der Olsa daraus Schlussfolgerungen ziehen und dem Ufer zwischen beiden Brücken nun einen neuen Rang verleihen und es der historischen Symbolik angemessen hervorheben. Von jetzt an könnte dieser Ort nicht nur die polnisch-tschechische Solidarität symbolisieren, sondern einfach auch die Freundschaft zwischen Polen und Tschechen. In diesem Frühjahr, das aus epidemischen Gründen gekennzeichnet war von Isolation und Frustration, ist es hier zu Manifestationen von Gefühlen gekommen, die mit der Freiheit und der Freundschaft ohne Grenzen zusammenhängen, mit der Arbeit ohne Beschränkungen und mit dem normalen, menschlichen Leben im gemeinsamen Europa. Zumindest so wie es das Schengen-Abkommen vorsieht. Und Dank sei der örtlichen Polizei dafür, dass sie nicht interveniert und die Protestierenden nicht behindert hat. Das wird ihr in der Zukunft hoch angerechnet werden.
Diese Ereignisse werden jetzt zu einer Legende werden, und sie werden die Legende von der Begegnung der Drei Brüder mit lebendigem, aktuellem Inhalt füllen. Die Banner und die Proteste in Cieszyn/Český Těšín waren eine Manifestation der Verbundenheit mit der Idee von der Schengen-Zone, auch wenn keine Losungen über den Schutz von Schengen über den Köpfen der Protestierenden schwebten. In diesem Jahr hat es ein Treffen der Kommunalregierungen und der Einwohner beider Städte im Rahmen der Vorbereitungen für das Fest der Drei Brüder gegeben. Das Coronavirus-Frühjahr und die seinetwegen geschlossene Grenze haben auch solchen folkloristischen Ereignissen einen neuen Sinn gegeben. Sie sind es, die die europäische Besonderheit dieser Stadt ausdrücken, die seit 1989 mit der Zeit banal geworden ist und deren Form sich etwas abgenutzt hat.
Die blockierte Grenze im Jahr 2020 hat insbesondere denjenigen, die sich nicht an die Zeiten des realen Sozialismus erinnern können, die Augen für die fundamentalen Werte des Teschener Grenzgebietes geöffnet: Freiheit und Freundschaft über Grenzen hinweg und grenzübergreifende Zusammenarbeit. Die Banner, Flaggen und Transparente, die in diesem Frühling an der Olsa angebracht wurden, haben jetzt den Wert historischer Exponate. Der Abschnitt der Jan-Łysek-Allee zwischen der Brücke der Freundschaft und der Brücke der Freiheit ist nicht mehr nur ein Teil der Uferpromenade und eine Fahrradstrecke und eine Gegend, die unter der Woche vor allem mit Marktständen assoziiert wird, die für Kunden von der anderen Seite der Olsa geöffnet sind.
Der Zeitraum der Grenzschließung aufgrund des Coronavirus hat uns schmerzlich das Außergewöhnliche und die bescheidene Vorzüglichkeit dieses Ortes vergegenwärtigt. Das ist ein neuer symbolischer Abschnitt in der Teschener Landschaft, kein Freizeit-Open-Air-Museum wie auf der anderen Seite der Brücke der Freundschaft, sondern ein Ort, an dem diese Geschichte durch neue, wesentliche Fakten ergänzt wurde. Das ist ein bisschen wie mit der Danziger Werft. Dies kann das neue Aushängeschild der Stadt an der Olsa werden, das ihren Geist am allerbesten wiedergeben wird. Es könnte sogar ein neues Element für die PR der Stadt werden, und ihre neue Touristenattraktion könnte die Stelle sein, wo Repliken der polnisch-tschechischen Banner einen festen Platz haben werden. Ich finde sogar, dass der Teil der Jan-Łysek-Allee (bei allem Respekt für den schlesischen Legionär Jan Łysek) umbenannt werden sollte in Allee-der-Polnisch-Tschechischen-Freundschaft, was gut passen würde zum Ufer des Friedens, das sich auf der anderen Seite der Olsa befindet.
Das wäre ein Symbol für unsere Verbundenheit mit den offenen Brücken in einer offenen Stadt mit freien und freundlichen Menschen, die offen und kreativ sind und zusammenarbeiten. Ohne Grenzen. Um eine neue Normalität aufzubauen brauchen wir eine neue Öffnung. Auch wir müssen uns für andere öffnen. Selbst wenn man noch eine Zeitlang physischen Abstand wird einhalten müssen.
(Cieszyn, 12.06.2020)
Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Miller