Obschon in jüngster Vergangenheit die Regierenden immer wieder versucht haben, die polnische Geschichte in ein narratives Korsett zu zwängen, ist es nicht gelungen, die pluralistische Debatte plattzuwalzen, sodass durchaus Platz für Nuancen und Analysen bleibt, die den dunklen Kapiteln der Vergangenheit gewidmet sind. Dank unabhängiger Medien, Verlage und Kulturinstitutionen, die unter anderem von Selbstverwaltungen in der offenen öffentlichen Debatte unterstützt werden, wird weiter diskutiert, beispielsweise über Antisemitismus, über die verlorene Multikulturalität Polens und über Aspekte der gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichte.
In diese Tendenz fügt sich die Reportage von Beata Szady mit dem Titel Wieczny początek. Warmia i Mazury [Der ewiger Anfang. Das Ermland und Masuren] ein, die kürzlich im Verlag Czarne erschienen ist. Während über die schlesische oder die kaschubische Minderheit – auch über die Diskriminierung durch die Kommunisten, und heute durch die Rechte – viel geschrieben wurde, wird über die ehemaligen ostpreußischen Gebiete und ihre Einwohner in Polen relativ selten diskutiert.
Es handelt sich hier um etwas andere Fälle, denn während einige Kaschuben und Schlesier ihre Identität kultivieren, wurden die Begriffe „Masurentum“ und „Ermländertum“ in Berlin und Warschau für politische Zwecke ausgenutzt. Als kraft des den Ersten Weltkrieg beendenden Versailler Vertrages wurde in diesen Gebieten ein Plebiszit durchgeführt (die Einwohner sollten sich entscheiden, ob sie zur Weimarer Republik oder zur Zweiten Polnischen Republik gehören wollen), begann die deutsche Propaganda damit, die Bevölkerung, die Masurisch – einen westslawischen Dialekt mit altdeutschen und preußischen Einflüssen – sprach, dazu zu ermutigen, sich bei der Frage nach ihrer Identität als Masuren (und nicht als Polen) zu definieren. Ähnlich gingen die Polen nach dem Zweiten Weltkrieg vor: Wer in der Heimat bleiben und die Deportation in das von den Alliierten besetzte Deutschland umgehen wollte, musste sich als „Masure“ oder „Ermländer“ definieren, sprich als eine Person, die bereit war, „das Polentum anzunehmen“.
Das bedeutet natürlich nicht, dass die Einwohner solcher Gebiete keine lokale Identität hatten – viele von ihnen definierten sich als „Hiesige“. In dieser aus Sicht beider Hauptstädte zurückgebliebenen und provinziellen Region hatte die nationalistische Propaganda, die die polnische oder deutsche nationale Identität aufzwang, noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts verhältnismäßig kümmerliche Wurzeln. So oder so hat die Geschichte den Einwohnern ein ausgesprochen tragisches Schicksal bereitet. Einer der Protagonisten des Buches erzählt der Autorin, dass er „vom Deutschen als Pole diskriminiert wurde, und vom Polen als Deutscher“, und nachdem er in die Bundesrepublik Deutschland ausgereist war, „wieder als Pole“.
Der Mainstream des polnischen öffentlichen Diskurses über Masuren hat eigentlich nur ein Werk hervorgebracht: Den Film Róża von Wojciech Smarzowski, der von Verbrechen – vor allem an Frauen – von Soldaten der Roten Armee bei der Eroberung von Masuren erzählt. Beata Szady tritt mit ihrem Buch gegen die Erzählung des Filmes auf, der für diesen bezüglich der Geschichte Polens kritischen Regisseur ein recht schwarz-weißes Bild von den „bösen“ Sowjets und Deutschen und den „guten“ Masuren und Polen zeichnet.
Die Autorin reist durch das Ermland und Masuren, spricht mit den ältesten Bewohnern. Zum „Masurentum“ bekennt sich nur einer ihrer Gesprächspartner, die anderen definieren sich heute als Deutsche oder Polen. Viele von ihnen sind in der Zeit der Volkrepublik von Polen nach Deutschland ausgewandert und im Alter in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt. Ihre Erinnerung reicht zurück bis in die Zwischenkriegszeit, als der Großteil vom Ermland und von Masuren kraft eines Plebiszites der deutlich besser als Polen entwickelten und reicheren Weimarer Republik zugesprochen wurde. An Polen gingen lediglich drei Dörfer im Landkreis Ostrodzki, und zahlreiche propolnische Aktivisten wurden aus dem Ermland und Masuren zwangsumgesiedelt.
Die Bewohner der Region sprachen slawische Dialekte und wurden nicht als vollwertige Deutsche angesehen, doch das eigentliche Drama begann am Ende des Zweiten Weltkrieges.
Der Einmarsch der Roten Armee war für viele von ihnen – ähnlich wie für andere Bürger des nationalsozialistischen Deutschlands – mit brutalen Morden, Vergewaltigungen und Plünderungen verbunden. Szadys Gesprächspartner betonen dabei, dass das Verhalten der Soldaten der sowjetischen Armee nicht so schwarz-weiß war, wie die nationalsozialistische Propaganda das sehen wollte.
Dann kamen die Aussiedlungen. Zehntausende Bewohner der Region mussten ihre Häuser verlassen und wurden in das von den Alliierten besetzte Deutschland umgesiedelt. Etwa Hunderttausend blieben – die Bedingung war, dass sie die polnische Sprache konnten oder den Dialekt und, (und das war wichtiger) ihre Akzeptanz der kommunistischen Regierung und ihrer Zwangspolonisierung. Nach Abschluss der Aussiedlungen nach Deutschland im Jahr 1950 stellten die Masuren und Ermländer 18,5% der Bevölkerung der neu entstandenen Woiwodschaft Olsztyń. Den Rest bildeten Ansiedler aus den der Sowjetunion angeschlossenen Ostgebieten der Zweiten Polnischen Republik und Ukrainer, die im Rahmen der „Aktion Weichsel“ aus dem Süden Polens umgesiedelt wurden.
Im neuen Polen war es nicht leicht. Manche der „für das Polentum gewonnenen“ konnten kein Polnisch, viele konnten Deutsch viel besser als die lokalen Dialekte. Bevor der kommunistische Staat seine Institutionen festigen konnte, herrschten Regeln wie im Wilden Westen (es ist kein Zufall, dass einer der besten polnischen Filme über die Besiedlung der sogenannten „Wiedergewonnenen Gebiete“ – wie die ehemals deutschen Gebiete genannt wurden – Prawo i pięść [Recht und Faust] als Western gedreht wurde). Aus der Kurpie und aus Masowien kamen hordenweise Plünderer, die keinerlei Skrupel hatten, inoffiziell „Kriegsreparationen“ einzusammeln.
Und wenn sich jemand dazu entschlossen hatte, wegen seines Hofes in Polen zu bleiben, konnte es auch sein, dass er sich aufgrund der kommunistischen Ordnung von diesem verabschieden musste, obwohl in der Volksrepublik Polen die Kollektivierung der ländlichen Gebiete nie ganz gelungen ist. In den unterentwickelten, aber im Vergleich zu den Gebieten der Zweiten Polnischen Republik fortschrittlichen Ermland und Masuren wurde auch kein bedeutender zivilisatorischer Sprung empfunden, wie ihn der Kommunismus mit der allgemeinen Bildung und der Elektrifizierung dem Großteil Polens brachte.
Einer von Szadys Gesprächspartnern klagt: „Die Deutschen aus dem Ermland und aus Masuren haben den Krieg verloren. Was haben denn die Deutschen aus Deutschland verloren? Wer vor dem Krieg fünf Hektar hatte, der hatte sie auch nach dem Krieg […] Aber wir haben alles verloren.“ Darunter auch die neueste Geschichte ihrer Heimat, die von den Kommunisten „repolonisiert“ wurde. Viele protestantische Kirchen in Masuren (das Ermland war katholisch) wurden zu römisch-katholischen umgeformt (die Volksrepublik Polen bekämpfte im Gegensatz zu vielen anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks die Religion nicht so verbissen).
Nach 1956 wurden keine Massenaussiedlungen nach Deutschland mehr organisiert, sondern individuelle Ausreisen ermöglicht. Am leichtesten war es, eine solche Erlaubnis zu bekommen, wenn man attraktive Grundstücke oder Gebäude besaß. Auf diese Weise verließen bis 1989 an die 100.000 Masuren und Ermländer (aus polnischer Perspektive) und auch Deutsche (aus deutscher Sicht) das kommunistische Polen. Heute ist eine Handvoll von ihnen übriggeblieben: Laut des allgemeinen Verzeichnisses von 2011 empfinden in diesen Gebieten 4.843 Personen ihre Nationalität als deutsch, 816 als masurisch, als ermländisch aber empfindet sich keiner! Manche – zu solchen ist Beata Szady auch vorgedrungen – sind nach 1989 in ihre Dörfer zurückgekehrt.
Nirgendwo fühlen sie sich zuhause: Die Vorbehalte gegen „die dummen Deutschen“ (in Polen) und die „Polacken“ (in Deutschland) sind das eine, aber das Problem besteht auch darin, dass ihre Geschichte und ihr Leid für alle unbequem sind. In Polen – weil für einen Deutschen nicht jeder Mitgefühl hat, und in Deutschland – weil der Versuch, mit dem Leid der Ausgesiedelten (der „Vertriebenen“) zu beeindrucken, unangenehme politische Konnotationen hat.
Heute gehören das Ermland und Masuren zu den ärmsten Regionen Polens. Szady schreibt, zuerst seien die Deutschen von hier weggegangen, dann die dazwischen, und am Ende die Polen. Der Boden dort ist nicht allzu fruchtbar, die Region wurde nie stark industrialisiert, gut geht es – zumindest in der Masurischen Seenplatte – nur der Touristik, die sich leider chaotisch und ohne räumliche Planung entwickelt. Die Grenzgebiete zu Russland wurden belebt von der Einführung des sogenannten kleinen Grenzverkehrs (Grenzverkehr ohne Visa für Bewohner des Grenzgebietes), aber der wurde von der PiS-Regierung untersagt.
Das Ermland hingegen – es war, als es noch zu Deutschland gehörte, eine auch architektonisch reichere Region – lebt unter anderem davon, dass alte Gebäude auseinandergenommen und als „vintage“-Baumaterial in den Westen verkauft werden. Wer Geld hat – meistens im Ausland verdient – stellt sich lieber neue Häuser hin, und die lokale Architektur wird nur von den „Warschauer Yuppies“ gerettet, den „Kolonisatoren“ aus Großstädten, die sich für die Geschichte der Region nicht selten mehr interessieren als die verwurzelten Hiesigen. Szady versucht, weder die einen noch die anderen zu bewerten.
Masuren wird in Polen assoziiert mit dem Segelsport und anderen Wassersportarten. Das ebenso schöne Ermland verbindet man im besten Falle mit Masuren (die dortige Woiwodschaft heißt „Ermland-Masuren“), obwohl auch hier während des zu Pandemie-Zeiten modern gewordenen slow tourism mit Sicherheit der Landtourismus blüht. Gleichzeitig ist kaum jemand in der Lage, die eine Region von der anderen zu unterscheiden: Die Kommunisten haben versucht, ihre lokalen Besonderheiten zu verwaschen, und heute setzt die Rechte dies fort. Szadys Reportage verläuft quer zu dieser Tendenz: Sie erzählt die noch nicht erzählte Geschichte dieser Region und findet materielle Spuren.
Da bleibt nur zu hoffen, dass die Zwangsferien in Polen vielen Touristen die Augen für die Mehrdeutigkeit dieser Geschichte öffnen.
Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Miller
Vielen dank für den korrekten Beitrag, ich möchte allerdings hinzufügen, dass schon vor dem 1. Weltkrieg in Österreich-Ungarn die Masuren als eigenständige Volksgruppe angesehen wurden. Volkszählungen aus Lemberg weisen konkret Masuren eben als „nicht-polnisch“ aber auch „nicht-deutsch“ aus, um sie von den katholischen Mehrheitspolen in Lemberg und den deutschen Preussen zu unterscheiden.
Darüber hinaus fand die Abgrenzung auch durch die Migration in das Ruhrgebiet 1880-1910 statt, die Masuren bestanden dort auf eine klare Abgrenzung von den Posener Polen, obwohl tw. auch dort noch Masurisch gesprochen wurde.