Im Norden von Allenstein (Olsztyn), der Hauptstadt der polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren, liegt der schöne Park Jakobsberg (Jakubowo), der ursprünglich im 19. Jahrhundert angelegt wurde. Heute ist er eine urbane Oase mit einem ovalen See mit kleinem Brunnen und umrundet von Schotterwegen und Bänken, auf denen Besucher im Sommer im Schatten der Bäume sitzen. Hinter dem See befindet sich auf einer kleinen Anhöhe ein großes Denkmal aus Sandstein. Es zeigt fünf heraldische Vögel, der größte von ihnen ist der polnische Adler. In der unteren linken Ecke erinnert ein Symbol an ein stilisiertes „S“, über dem polnischen Adler sind die Worte „Den Kämpfern um die nationale und gesellschaftliche Befreiung von Ermland-Masuren“ eingemeißelt. Das Denkmal wurde von Bildhauer Bolesław Marschall geschaffen und am 27. August 1972 anlässlich des 50. Jahrestages der Gründung des Bundes der Polen in Deutschland enthüllt. Wie bei vielen Denkmälern in Ermland-Masuren ist es allerdings nicht das erste an diesem Ort.
Zwei Jahre nach den Gedenkfeiern zum Ende des 1. Weltkrieges scheint das Kapitel „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ im öffentlichen Diskurs in Deutschland weitestgehend abgeschlossen. Während die deutsche Revolution 1918/19 durchaus Erwähnung fand, so scheint das allgemeine Verständnis der Nachkriegszeit doch eher das einer friedlichen Zeit zu sein, in der all die neuen Nationen in Mittel- und Osteuropa friedlich und ohne Blutvergießen entstanden sind. Doch nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt. Will man die Geschichte Deutschlands und Polens als europäische Nachbarn vor 1939 und nach 1945 besser verstehen, lohnt sich ein Blick auf das fast vergessene Plebiszit in Ostpreußen von 1920 im Kontext der damaligen Wirren.
Die Folgen des Ersten Weltkriegs mit seinen enormen politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen zeigten sich vor allem in Mittel- und Osteuropa: Bewaffnete Revolutionäre planten Umstürze und neue Regierungen, bauten Bomben und druckten Pamphlete und Broschüren; bereit, aus den Trümmern der alten Imperien mit Gewalt den perfekten Staat zu errichten – von der Räterepublik bis hin zur Diktatur. Bis weit in die 1920er Jahre gab es massive Umwälzungen zwischen Oder und Wolga, zwischen Ostsee und Adria, fast alle verbunden mit kriegerischen Auseinandersetzungen.
Am Sonntag, dem 10. November 1918, meuterten die Matrosen im Ostpreußischen Seehafen Pillau (Baltiysk), und in der Hauptstadt Königsberg schlossen sich Angehörige der Kriegsmarine zur „Marinedivision“ und „Marine-Volkswehr“ zusammen, deren Exekutivorgane einen Rätestaat propagierten. Nach Straßenkämpfen und einem Generalstreik saß allerdings bereits Anfang 1920 die konservativ-monarchistische Elite wieder an den Schaltstellen der Provinzverwaltung, die Arbeiter- und Soldatenräte waren entmachtet.
Südlich der deutschen Ostprovinz kehrte 1918 der erste unabhängige polnische Staat seit der dritten Teilung Polens im Jahr 1795 auf die europäische Landkarte zurück. Im November 1918 übernahm der bis dahin in Deutschland inhaftierte Józef Piłsudski als Staatsoberhaupt die Macht. Auch die Zweite Polnische Republik versuchte, ihre Grenzen durch Waffengewalt zu festigen und war während der ersten Jahre ihrer Existenz in ständige Kämpfe verwickelt: In Lwów brach im November 1918 der Polnisch-Ukrainische Krieg aus, der bis Juli 1919 andauerte. Im Januar 1919 gab es Kämpfe zwischen Truppen der neu gegründeten Tschechoslowakei und polnischen Einheiten, im Oktober 1919 begann der polnisch-litauische Konflikt. Die bedeutendste militärische Auseinandersetzung jener Zeit, der fast das Ende der jungen polnischen Republik bedeutete, war jedoch der Polnisch-Sowjetische Krieg, der seinen Anfang im Februar 1919 hatte.
Am 22. Juni desselben Jahres wurde der Friedensvertrag von Versailles durch die Weimarer Nationalversammlung angenommen. Nach den Bestimmungen des Vertrags wurde Polen eine international anerkannte und unabhängige Republik, der das Deutsche Reich territoriale Zugeständnisse machen musste. Die Ablehnung des als „Diktatfrieden“ empfunden Vertrages war im Reich deutlich verbreitet, und alle Parteien der Weimarer Republik lehnten den Vertrag ab. Der linke Politiker, Pazifist und erklärte Kriegsgegner Hugo Haase aus Allenstein (Olsztyn) dazu im Mai 1919: „Als Ostpreuße weise ich besonders auf die Vergewaltigung hin, die der Bevölkerung dieser Provinz zugedacht worden ist… Fast 40 Jahre hindurch habe ich mit den Bewohnern jenes Gebiets, das jetzt vom Deutschen Reich losgerissen werden soll, nie an eine Trennung gedacht, niemals die Vereinigung mit einem anderen Volke gewünscht, sie wird einfach durch einen Gewaltakt wie eine leblose Masse an einen anderen Staat verschoben.“
Dass in mehreren Grenzgebieten Volksabstimmungen stattfinden sollten, um die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich oder dessen Nachbarstaaten festzulegen, wurde von vielen als letzte Chance aufgefasst, weitere Gebietsabtretungen zu verhindern – besonders in Ostpreußen. Hier waren es das südliche Ermland und Masuren, für die eine Volksabstimmung am 11. Juli 1920 vorgesehen war. Anfang 1920 trafen britische, französische, italienische und japanische (!) Truppen ein und übernahmen das militärische Oberkommando und die zivile Verwaltung. Stimmberechtigt waren alle, die am 10. Januar 1920 das zwanzigste Lebensjahr vollendet hatten sowie im Abstimmungsbezirk geboren worden waren oder dort seit dem 1. Januar 1905 ihren Wohnsitz hatten, also auch die auswärts lebenden Ermländer und Masuren.
Beide Seiten verstärkten ihre Propaganda, so dass die Abstimmungsgebiete mit Plakaten, Wahl- und Heimatvereinsveranstaltungen geradezu überschwemmt wurden. Maria Zientara-Malewska (1894 – 1984) aus Braunswalde (Brąswałd) dichtete das polnische Abstimmungslied „O Warmio moja miła“ (Oh Ermland, meine Liebe), das am 2. Juni 1920 in Allenstein (Olsztyn) uraufgeführt wurde – zur Musik des in Wartenburg (Barczewo) geborenen Komponist Feliks Nowowiejski (1977 – 1946). Siegfried Lenz (1926 – 2014) beschreibt die aufgeregte Atmosphäre in der Stadt Lyck (Ełk) (hier Luckow genannt) in seinem Roman „Heimatmuseum“:
Bei uns, im großen Haus an der Flussschleife, saß der halbe Lucknower Heimatverein herum, flocht die sogenannte Ehrenpforten, pinselte patriotische Sinnsprüche auf Plakate, band Laubgewinde, um all die Leute auf dem Bahnhof zu bekränzen, die von weither angereist kamen, nur um als geborene Masuren ihre Stimme abzugeben.
Die polnische Seite konnte in Masuren auf keine große Unterstützung hoffen, etwas besser sah es dagegen im Landkreis Allenstein aus, in dem eine katholische propolnische Minderheit lebte. Das änderte jedoch nichts daran, dass die Volksabstimmung eindeutig entschieden wurde: Bei einer Wahlbeteiligung von rund 87% stimmten 363.209 Wähler (97,86 %) für den Verbleib bei Ostpreußen und 7.924 (2,11 %) für einen Anschluss an Polen.
In den folgenden Jahren und Jahrzehnten erfuhr das Plebiszit eine geradezu mystische Verklärung als Beleg für die deutschnationale Überzeugung der Ostpreußen und dem Inselstatus der Provinz als „Bollwerk“ – ein Narrativ, das gerade von den Nationalsozialisten immer wieder beschworen wurde. Die Verklärung drückte sich aber auch durch die vielen Denkmäler aus, die an die Volksabstimmung erinnern sollten: In zahlreichen Dörfern und Städten wurden Gedenksteine errichtet und im Jahr 1928 im Park Jakobsberg (Jakubowo) das zentrale Abstimmungsdenkmal eingeweiht.
Entworfen von den Berliner Architekten Walter und Johannes Krüger, die auch das Tannenberg-Denkmal in Hohenstein (Olsztynek) schufen, bestand das tempelähnliche Denkmal aus elf Säulen und zeigte die Wappen der Kreisstädte des Abstimmungsgebietes. Auf der Innenseite war neben den Ergebnissen die Parole der Abstimmung in Stein festgehalten: „Heimat in Gefahr – dies Land bleibt deutsch“. Auf den Seitenwänden eines „Altarsteins“ in der Mitte des runden Baus standen die Parolen „Volk und Vaterland – Selbstbestimmung – Einigkeit und Recht und Freiheit – Heimat“. Das Denkmal wurde 1945 zerstört.
Bis heute wird in bestimmten Kreisen in Deutschland dieser verklärte Mythos wiedergekäut. In dunklen Ecken auf Facebook, WhatsApp oder anderswo finden sich ewiggestrige Gruppen, für die Pommern, Schlesien und Ostpreußen weiterhin zu Deutschland gehören und die die Volksabstimmung als Beleg für einen erneuten „Diktatfrieden“ von 1945 sehen. Aber wie so häufig kann historischer Kontext nicht zu einem einfachen Narrativ zusammengefasst werden.
Bei der Volkszählung von 1910 gaben fast 60% der Landbevölkerung des Bezirks Allenstein an, überwiegend Polnisch zu sprechen. Seit 1866 hatte Allenstein eine eigene polnischsprachige Zeitung, die „Gazeta Olsztynska“. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich der polnischsprachige Teil der Bevölkerung mit einem polnischen Staat identifizierte – seit 1795 hatte es einen solchen eben nicht mehr gegeben. Die Menschen hier sahen sich als Ermländer – Ermländer, die mit dem einem Nachbarn Deutsch und mit dem anderen Polnisch sprachen. Als sie vor der Wahl standen, für einen neuen Staat zu stimmen, der im Moment der Abstimmung gegen die Rote Armee um seine Existenz kämpfte, entschieden sich viele für die augenscheinlich sichere Seite.
Wie der polnische Exilautor Tadeusz Nowakowski in seinem Essay „Reise nach Portugal“ von 1959 einen deutschen Ermländer zitiert: „[…] so sei ganz bestimmt in Kürze und zu aller Glück der Saisonstaat der betrügerischen Weichselpolacken aus Kongresspolen im Eimer, also, weshalb für sie stimmowac? Das hat keinen Cwek mehr!“ Für Warschau bedeutete das Ergebnis des Plebiszites eine Ausrichtung auf die Unterstützung von kulturellen Initiativen, vor allem den Bund der Polen in Deutschland, der 1922 als Sammelorganisation entstand und dessen Symbol das Rodło ist, eine stilisierte Darstellung der Weichsel (das „S“-förmige Zeichen auf dem Denkmal in Jakobsberg). Der Ortsverband des Bundes in Allenstein (Olsztyn) hat bis 1939 ein reges Kulturprogramm organisiert, eng mit der „Gazeta Olsztynska“ und dem polnischen Konsulat vor Ort zusammengearbeitet und ebenso bis zum 2. Weltkrieg eine Reihe polnischsprachiger Schulen im Ermland betrieben.
2020 wird an das Plebiszit vor allem mit einer Reihe von Ausstellungen in polnischen Museen und akademischen Konferenzen erinnert. Die Bedeutung für uns heute liegt im Alltäglichen: Die ersten Takte von „O Warmio moja miła“ erschallen jeden Tag um 12 Uhr vom Balkon des Rathauses von 1916 in Allenstein (Olsztyn), das heute wie 1920 Sitz der Stadtregierung ist. Deutsch-polnische Geschichte ist niemals nur schwarz und weiß und niemals eine einfache Geschichte von Sieg und Niederlage – und wir tun gut daran, uns mit all ihrer Sperrigkeit auseinanderzusetzen.
Gruselig ,
Unsere Mutter konnte Uns Kindern in dieser Eindeutigkeit Geschichte nicht erzählen…
Sie war jahrgang 1907
Ich bin jahrgang 1943 – aus Ihrem Erbe habe ich ein Bild / Radierung vom Völkerschlachtdenkmal
in Allenstein von 1928 –
WER hat daran noch Freude, einfach entsorgen geht für mich nicht !
ich lebe in Konstanz/Bodensee und sende Segenswünsche in Ihre Welt,
Ilse Oberstadt
Liebe Frau Oberstadt, habe gerade erst Ihren Kommentar gelesen. Ich bin Jahrgang 1965, meine Mutter und die Familie mütterlicherseits stammt aus Ostpreußen, eine Großtante (die 1945 auf der Flucht überrollt wurde) lebte bis zu ihrem Tod vor wenigen Jahren noch in Allenstein. Sie schreiben von einem Bild aus Allenstein – ich würde mich dafür interessieren, melden Sie sich gerne unter soenkehh@aol.com. Herzliche Grüße aus Berlin.